Die Mineralwasser- & Getränke-Mafia. Marion Schimmelpfennig

Die Mineralwasser- & Getränke-Mafia - Marion Schimmelpfennig


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eine Organisation der UNO. Dessen Beschlüsse sind weltweit bindend. Kein Land kann mehr in Eigenregie andere Vorschriften erlassen. Bei den Zusammenkünften des Codex Alimentarius trifft man natürlich auch jede Menge Lobbyisten aus der Lebensmittel- und Getränkeindustrie, die ihr Gewicht in die Waagschale werfen. Das gelingt ihnen ausnehmend gut. Ein Vorstoß der skandinavischen Länder, Schutzbestimmungen für Allergiker zu erlassen, wurde ebenso abgeschmettert wie das Vorhaben, eine Zusatzstoffdatenbank für Lebensmittelallergiker einzurichten. So gilt also weiterhin „freie Bahn“ für schlechte Nahrungsmittel, die nur einigen wenigen guttun: nämlich den Bilanzen der Konzerne.

      Endokrine Disruptoren – Substanzen mit hormonähnlicher Wirkung – stecken überall. Im Plastik, in Kosmetika, in Pestiziden – und damit auch in Lebensmitteln und im Wasser. Das Europaparlament entschied deshalb im Jahr 2009, dass diese Chemikalien reguliert werden müssen. Die EU-Kommission hatte bis 13. Dezember 2013 Zeit, Rechtsakte auszusprechen. Dann nahm das Unglück seinen Lauf:

      Die Generaldirektion Umwelt (DGE NV) wird mit der Federführung dieses Vorhabens beauftragt und will sich zunächst einen Überblick über die aktuelle Forschungslage verschaffen. Dazu lädt sie die führenden Forscher auf diesem Gebiet ein, unter anderem den Deutschen Andreas Kortenkamp, Professor an der Brunel University in London. Unter der Leitung von Kortenkamp entsteht ein umfangreiches Papier – das „State of the art assessment of endocrine disruptors“. Dieses mehrere hundert Seiten umfassende Papier ist eine aktuelle Bestandsaufnahme der Forschung zu endokrinen Disruptoren, mit Analysen der jüngsten Literatur sowie Studien und Belegen zu den Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass jeder Versuch, endokrine Disruptoren regulieren zu wollen, ein großes Problem lösen müsste: Es existiert kein universelles und einsatzbereites Instrumentarium, um solche Substanzen nachzuweisen. Das liegt daran, dass das Hormonsystem enorm komplex ist und endokrine Disruptoren es auf vielfältige – und meist unbekannte – Weise angreifen können. Der Bericht deckt eine große Kluft auf zwischen den wachsenden Erkenntnissen über endokrine Substanzen und der Art und Weise, wie die EU diese Chemikalien reguliert. Kortenkamp empfiehlt eine strenge Regulierung, denn er weiß genau, dass es auch dann zu Gesundheitsrisiken kommen kann, wenn mehrere Chemikalien in derart niedrigen Dosen vorhanden sind, dass die einzelne Substanz für sich genommen keinerlei Auswirkungen hätte. Er schlägt vor, zuverlässige Tests zu entwickeln, um festzustellen, welche Chemikalien auf das Hormonsystem wirken. In einem zweiten Schritt sollten klare Kriterien für eine Zulassung oder ein Verbot festgelegt werden. Nur so könne die Bevölkerung vor den immensen Gefahren dieser Substanzen besser geschützt werden.

      Die DGE NV setzt daraufhin eine Arbeitsgruppe ein, die Vorschläge für eine Regulierung erarbeiten soll. Dieser Arbeitsgruppe gehören über 40 Experten aus Mitgliedsländern, nationalen Regulierungsbehörden, Forschungszentren sowie Vertreter anderer Generaldirektionen, der europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) und weiterer EU-Behörden an. Fünf „Beobachtersitze“ werden an Industrie und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) vergeben. Darüber hinaus setzt die DGE NV eine Expertengruppe ein, die bei der Entwicklung der Kriterien technologische Beratung leisten sollte. Zwischen beiden Arbeitsgruppen kristallisiert sich bald ein Konsens heraus, bei dem die Definition der WHO zu endokrinen Disruptoren übernommen wurde: eine Substanz, die das Hormonsystem verändert und deshalb in einem intakten Organismus Gesundheitsschäden verursacht. Aufgrund dieser Definition wenden sich die beiden Gruppen der Frage zu, welche Kriterien verwendet werden sollen, um endokrine Substanzen zu identifizieren. Der Bericht von Kortenkamp empfiehlt, verschiedene Kriterien zu verwenden, die sich gegenseitig ergänzen. Keines dieser Kriterien, so Kortenkamps Bericht, dürfe dazu verwendet werden, um nur die schlimmsten Substanzen zu regulieren.

      Die Auseinandersetzung mit dieser Frage entwickelt sich zu einem Schlachtfeld, denn die „Betroffenen“ setzen nun alles daran, diesen Prozess zu beeinflussen. Die „Betroffenen“ sind Unternehmen aus der Chemiebranche, allen voran Pestizidhersteller wie BASF oder Bayer. Doch auch die Pharmabranche wirft ihr Gewicht in die Waagschale, ebenso die Kunststoffhersteller und die Landwirtschaft. Die Industrie wehrt sich dagegen, dass Substanzen, die sich als endokrine Disruptoren erwiesen haben, prinzipiell verboten werden. Bisher war es nämlich möglich, solche Substanzen zu erlauben, wenn sie bestimmte Grenzwerte nicht überschreiten. Die Industrie will nur die schlimmsten Wirkstoffe erfassen und die anderen Pestizide unreguliert lassen.

      Im Mai 2011 veröffentlichen Großbritannien und Deutschland plötzlich ein gemeinsames Positionspapier zu den Bewertungskriterien. Darin bringen sie unumwunden ihre „Bedenken“ zu den wirtschaftlichen Auswirkungen zum Ausdruck und verteidigen gar den Vorschlag der Unternehmen, nur die schlimmsten Wirkstoffe zu reglementieren. Kortenkamp kritisiert, dies würde dazu führen, dass ein Großteil der endokrinen Substanzen überhaupt nicht reguliert werden würde. Ein solches Vorgehen wäre völlig willkürlich und wissenschaftlich nicht vertretbar. Doch für Großbritannien und Deutschland ist das offenbar kein Problem.

      Noch bis Mitte 2012 will die DGE NV die Wünsche der Industrie eigentlich nicht berücksichtigen. Doch der Druck wird stärker. Nachdem die britische und die deutsche Regierung, die Industrie und selbst Mitglieder aus der Kommission bereits ordentlich Druck ausgeübt haben, kommt nun auch noch die EFSA ins Spiel. Und zwar auf eine hinterhältige Weise.

      Die Generaldirektion Gesundheit und Verbraucher (DG Sanco) beauftragt die EFSA, eine wissenschaftliche Stellungnahme zu erarbeiten. Dazu gründet die EFSA eine Arbeitsgruppe. Die Zusammensetzung dieser Arbeitsgruppe lässt schlimmste Befürchtungen zu: Acht der 18 Mitglieder haben Verbindungen zur Industrie, drei haben bereits zugunsten der Industrie Stellung bezogen. Und nur vier der Mitglieder haben jemals wissenschaftlich auf diesem Gebiet gearbeitet. Das Resultat: Die Arbeitsgruppe der EFSA ist der Ansicht, dass endokrine Substanzen wie die meisten anderen Chemikalien behandelt werden können. Und das, obwohl die WHO und das Umweltschutzprogramm der UN noch kurz zuvor festgestellt hatten, dass endokrine Substanzen „eine globale Bedrohung“ darstellten und reguliert werden müssten.

      Jetzt nimmt die Industrie Anlauf für den Todesstoß und warnt vor den wirtschaftlichen Folgen einer für sie ungünstigen Entscheidung: Drei bis vier Milliarden Euro ständen allein bei Pflanzenschutzprodukten auf dem Spiel. Ernteverluste von bis zu 20 Prozent bei Weizen, Kartoffeln und Raps seien zu erwarten. Möglicherweise würde sogar die Hälfte der Ernte vernichtet werden, wenn viele Pestizide verboten würden. Es werden immer mehr E-Mails und Briefe an die Kommission verschickt, auch persönliche Gespräche werden häufiger. Bayer CropScience wendet sich direkt an die Nummer zwei im Generalsekretariat der EU-Kommission, die Deutsche Marianne Klingbeil. Das Unternehmen warnt eindringlich vor einer „signifikanten Beschädigung der Wettbewerbsfähigkeit“ und fordert ein sogenanntes Impact Assessment, also eine Folgenabschätzung. Die Forderung nach einem Impact Assessment in derartigen Situationen ist nicht neu und hat Strategie: Es geht darum, den Prozess zu verschleppen, die Beteiligten mürbe zu machen, denn ein Impact Assessment dauert sehr lange.

      Und die Industrie hat noch ein Ass im Ärmel: Das geplante EU-Freihandelsabkommen TTIP. Die geplante Einstufung von endokrinen Disruptoren würden die Gespräche gefährden, warnen


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