Drei Historische Liebesromane: Das 1500 Seiten Roman-Paket Sommer 2021. Alfred Bekker
an zwei verschiedenen Orten, deren Entfernung man sehr gut vermessen hat, den Zeitpunkt genau bestimmen, wann der Erdschatten eintritt. Und aus dem Unterschied müsste sich der Meridian genau bestimmen lassen, auf dem...“ Er stockte jetzt, als er Li bemerkt hatte. „Wer ist das?“, fragte er – offenbar etwas irritiert über Lis Anwesenheit.
„Das ist Li, die talentierteste unter den Papiermachern von Samarkand“, erklärte Prinz Ismail. „Sie vermag wie niemand sonst die Kunst des Wasserzeichens anzuwenden. Ein Händler verkaufte sie mir und ich bin froh, sie in meiner Stadt zu wissen.“ Prinz Ismail wandte sich nun an Li. „Tritt näher, Papiermacherin. Mein Bruder Prinz Abu Nasr Mansur ist ein Förderer der Zahlenkunst und der Wissenschaft und der junge Mann, der gerade ein Zeugnis seiner Beredsamkeit gegeben hat, ist trotz seiner Jugend bereits unter dem Namen Al-Biruni als gelehrter Sternendeuter über die Grenzen von Mawarannahr und Chorasan bekannt.“
„Kein Wunder!“, meinte Prinz Abu Nasr. „Er schreibt ja auch täglich mehrere Briefe, die an Gelehrte in Bagdad, Isfahan und anderswo gehen, sodass er wahrscheinlich Bekannte in allen Ländern des Kalifen hat!“ Mit sanftem Spott fügte er noch hinzu: „Eines Tages wird man ihn sogar noch in Indien und im Reich der Mitte kennen, wo es ja auch viele Gelehrte geben soll!“
Der junge Mann mit dem dünnen Bart schien ob des Spottes seines Förderers etwas verunsichert zu sein. Und Li begann darüber zu rätseln, weshalb man sie in den Palast gerufen hatte. Ihre Befürchtung, dass es etwas mit dem zu tun haben könnte, das sie Gao über das geheime Wasserzeichen des Prinzen erzählt hatte, schien sich nicht zu erfüllen. Doch warum war sie dann hier? Brauchte vielleicht auch Al-Biruni ein besonderes Wasserzeichen für seine Briefe?
Aber das, was man ihr dann eröffnete, ging weit darüber hinaus.
„Ich möchte mit Hilfe dieses jungen Sternendeuters eine Sternenkarte erstellen“, erklärte nun Prinz Ismail. „Sie soll so groß sein wie ein Wandteppich – aber aus Papier. Die Positionen der Sterne sollen dort in ihren exakten Abständen zueinander markiert sein, aber das Papier soll Wasserzeichen enthalten, die sie zu den bekannten Sternbildern verbinden, sobald von hinten Licht hindurch dringt. Hältst du so etwas für möglich?“
„Es ist sicher möglich, aber es bedarf einer sehr guten Planung“, erklärte Li.
„Dass wir uns nicht missverstehen: Ich möchte einen einzigen Bogen Papier, nicht mit Harz aneinander geklebte Stücke, bei denen die Übergänge immer zu sehen sein werden.“
„Eine schwierige Aufgabe“, sagte Li ausweichend. „Wenn Ihr gestattet, werde ich mich mit meinem Vater darüber beraten, denn er versteht mehr davon, wie ein geeignetes Sieb und ein Schöpfbecken herzustellen wäre, während ich mehr Geschick bei den Wasserzeichen habe...“
„Du und dein Vater, ihr sollt alles bekommen, was nötig ist“, versprach Prinz Ismail. „In meiner Bibliothek gibt es ein Werk, das exakte Zeichnungen aller Sternbilder enthält. Es sollen dir alle Drahtzieher zur Verfügung stehen und Mauerleute, die ein großes Schöpfbecken errichten können. Ich nehme an, dass sich ein Sieb, wie es dafür nötig wäre, nur durch Winden und Flaschenzüge betätigen lässt.“
Li hörte den Worten des Statthalters zu und bemerkte den Ausdruck von Begeisterung in seinem Gesicht, der schon an eine Entrücktheit grenzte. All das, was die Menschen auf den Basaren redeten, was über knappes Metall und gestiegene Preise und einen aufziehenden Krieg erzählt wurde, schien dem Statthalter von Samarkand in diesem Moment nicht weiter zu bekümmern.
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Als Li zur Werkstatt zurückkehrte und ihrem Vater von dem Gespräch am Hof berichtete, schüttelte Meister Wang nur den Kopf. „All das, was der Prinz möchte, ist gewiss mit viel Aufwand machbar. Aber es wundert mich sehr, dass er die Zeit und offenbar auch das nötige Silber hat, um sich um solche Dinge zu kümmern!“
„Nun sein Bruder scheint ein ebenso gelehrsamer Mann zu sein wie er selbst“, gab Li zu bedenken. „Das ist in dieser Familie offenbar tief verwurzelt.“
„Um so schlimmer!“, meine Meister Wang. „Wenn ihm seine Pflichten als Statthalter lästig sind, dann sollte er sie jemand anderem überlassen und sich ganz der Gelehrsamkeit widmen – oder mit aller Kraft seinem Emir dienen!“
„Aber für uns kann es doch nur gut sein, unter einer Herrschaft zu leben, unter der Bücher und Papier in jeder Form einen so hohen Rang haben.“
„Jeder Vorteil kann sich jederzeit in sein Gegenteil verkehren, Li“, murmelte Meister Wang besorgt.
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Tage vergingen, ohne dass Prinz Ismail noch einmal von sich hören ließ. Allerdings wurde jetzt merklich weniger Papier hergestellt – und zwar nicht nur in der Werkstatt von Meister Mohammed. Li bemerkte auch, dass die Papiermacher der anderen Werkstätten jetzt häufig in Gruppen auf den Straßen standen und sich unterhielten. Die Stimmung war gereizt. Sich zu diesen Gruppen von Männern zu gesellen, wäre für Li unschicklich gewesen, aber einiges konnte sie aus den Gesprächen doch aufschnappen. Danach schien der Hof des Statthalters im Augenblick nicht einmal Geld zu haben, um die Lieferanten für Gewürze und Brot zu bezahlen. Ein anderer hatte gehört, dass es bereits Unruhe unter der Stadtwache gäbe, weil deren Verpflegung schlechter geworden sei.
Prinz Abu Nasr Mansur und sein Gefolge zogen schließlich nach mehreren Wochen aus der Stadt. Es gingen Gerüchte um, dass am Abend zuvor ein Bote des Emirs eingetroffen sei, der eine dringende Nachricht überbracht habe.
Sie war auf jeden Fall dringend genug gewesen, dass der Bruder des Stadthalters unverzüglich aufbrach.
Der Winter kam in diesem Jahr sehr früh und versprach ausgesprochen hart zu werden. Die Nächte wurden eisig und Li fror selbst dann, wenn sie all ihre Kleidung übereinander zog, dazu noch ein paar der Lumpen anlegte, die eigentlich hätten zerstampft werden müssen und sich in ihre Decke einrollte.
Selbst auf ihrem Weg aus Xi Xia war ihr nie so kalt gewesen. Gao bekam einen Husten, der jeden Tag schlimmer wurde und ihm die Kraft nahm. Aber das Brennholz für den Ofen war knapp geworden und so brannte das Feuer nicht die ganze Nacht hindurch. Und in der jetzt sehr kalten und zugigen Werkstatt konnte man nicht erwarten, dass sich an Gaos Zustand irgendetwas zum Besseren wandte.
Der Plan einer großen Sternkarte schien von Prinz Ismail nicht mehr verfolgt zu werden. Stattdessen plagten ihn wohl ganz andere Sorgen. In einer dieser eiskalten Nächte wachte Li auf, weil von draußen Lärm zu hören war. Schreie gellten durch die Gassen. Pferde preschten daher und das Geklirr von Waffen war zu hören.
Meister Wang war ebenfalls erwacht, während Gao wohl auf Grund seines Hustens noch gar nicht richtig geschlafen hatte.
Am nächsten Morgen lagen entsetzlich zugerichtete Leichen in den Straßen. Es waren allesamt Angehörige der Stadtwache und Meister Mohammed glaubte zu wissen, dass sie und ihr Kommandant einen Aufstand gegen den Statthalter angezettelt hatten.
Die Leichen wurden mehrere Tage liegen gelassen und nicht einmal die zahlreichen Diebe der Stadt hätten es gewagt, ihnen die Waffen oder Kleidungsstücke wegzunehmen. Immer wieder ritten Krieger des Statthalters durch die Straßen, um zu zeigen, dass jeder Widerstand sinnlos war. Hungrige Ratten hatten die Toten bereits angefressen, als man sie schließlich doch davonschleifte.
Kaum jemand wagte sich überhaupt auf die Straßen. Und in den Häusern und Werkstätten der Papiermacher herrschte zum ersten Mal, seit Li in Samarkand lebte, bei Tageslicht Stille, ohne dass ein Feiertag gewesen wäre, dessen Einhaltung zur Untätigkeit geführt hätte.