Unschuldig angeklagt und verurteilt. George Kardinal Pell
Mary hat mir die Abschrift einer hervorragenden Predigt von Mary M. McGlone mitgebracht, einer Josefsschwester aus den USA.4 Es geht darin um Mose, und sie wehrt sich dagegen, dass man sich ihn wie die Skulptur des Michelangelo in Rom als imposante, muskelstrotzende Persönlichkeit vorstellt. Vielmehr sei er »ein geflohener Übeltäter« gewesen, der »sich darauf verließ, dass sein Schwiegervater ihm eine Arbeit gab«. Das stimmt, aber danach sollte noch sehr viel mehr geschehen.
McGlones Hauptthema war, dass »Jesu Vater die Angewohnheit hat, durch die glücklosesten Menschen und ungünstigsten Umstände zu wirken«. Hoch qualifizierte Mitarbeiter seien bei Gott Mangelware, erklärte sie. Ich fand das alles tröstlich und ermutigend.
Ich gebe nicht vor, keine weltlichen Fähigkeiten und nicht dieses oder jenes erreicht zu haben – trotz meiner Fehler und Versäumnisse –, aber ich fühle mich dem Drama, das sich um mich herum abpielt, spirituell nicht gewachsen. Meine abenteuerlichen Erlebnisse und deren Ausgang sind wichtig für die Kirche in Australien, und es tröstet mich zu hören, dass Gott sich geistlich mittelmäßiger Menschen bedient.
Herr Jesus, hilf uns allen, in deine Fußstapfen zu treten und uns auf das Wesentliche – Glauben, Hoffnung und Liebe – zu konzentrieren.
Ein weiteres Mal will ich mir ein paar Verse von John Henry Newman aus einem meiner Lieblingsgedichte zu eigen machen:
Führ, liebes Licht, im Ring der Dunkelheit
führ du mich an.
Die Nacht ist tief, noch ist die Heimat weit,
führ du mich an!
Behüte du den Fuß: der fernen Bilder Zug
begehr ich nicht zu sehen: ein Schritt ist mir genug. 5
Dienstag, 26. März 2019
Meine Theorien über den Häftling, den sie mit Gas aus seiner Zelle geholt haben, sind größtenteils falsch. Heute Morgen habe ich wieder muslimischen Gebetsgesang gehört, aber gedämpft, von weiter weg. Und am frühen Abend, kurz nach dem Nachteinschluss, gab es auch wieder ein lautes Wortgefecht, nur kurz, und vielleicht auch mit einer anderen, dritten Stimme dazwischen. Später am Abend konnte weiter entfernt wieder den Gesang der muslimischen Gebete hören.
Alles in allem bin ich kein bisschen klüger. Vielleicht ist der Häftling, nachdem sie ihn mit Gas herausgeholt haben, wieder in seine Zelle zurückgebracht worden. Wenn ich kann, versuche ich morgen mehr herauszufinden.
Offenbar war ich heute auf der Titelseite der Herald Sun mit einer Schlagzeile über Pell, die Hölle und meine Zelle. In dem Artikel wird behauptet, dass meine Zelle gleich neben der von Gargasoulas liegt.6 Den heutigen Kommentaren der Wärter entnehme ich, dass das zutreffen könnte. Sie haben mir erzählt, dass bei ihrer Ankunft Fernsehteams und eine Gruppe von Leuten vor dem Eingangstor gestanden hätten, die für mich beteten. Schwester Mary meinte, der Artikel könnte mir zusätzliche Sympathien einbringen.
Ich hatte eigentlich andere Sorgen. Heute Morgen kamen zwei Leute des Strafvollzugsmanagements vorbei, um über meine künftige Unterbringung zu reden. Der Hauptwachtmeister meint immer noch, dass ich entweder ins Remand Centre oder in eine andere Einrichtung in der Nähe von Melbourne verlegt würde. Nach Port Phillip, das privatisiert worden ist und bei den Häftlingen – ebenso wie bei den Wärtern hier – nicht den besten Ruf genießt, würde man mich nicht bringen.
Der wichtigste, genauer gesagt der einzige Grund ist meine persönliche Sicherheit, das heißt der Schutz vor eventuellen Gewalttätigkeiten der anderen Häftlinge. Wegen der ganzen Publicity wird es unter Umständen schwieriger, diesen Schutz an einem anderen Standort zu gewährleisten. H. hält es für wahrscheinlich, dass ich bis zu meiner Berufungsverhandlung hierbleiben werde. Obwohl dies keine Katastrophe wäre, hätte ich doch gern mehr Freiheit, mich draußen aufzuhalten, weniger eingesperrt zu sein, und vielleicht weniger komplizierte und häufigere Besuchszeiten. Wir werden sehen.
Schwester Mary war da, um mir die heilige Kommunion zu bringen, und sie ist danach noch eine ganze Weile geblieben. Wir hatten ein gutes Gespräch – nachdem sie eine der Wärterinnen, die sich am Bücherregal hinter uns aufhielt, gebeten hatte, zu gehen, weil wir ein Recht darauf hätten, uns privat zu unterhalten. Die Wärterin nahm zwei Bücher und ging. Mary ist resolut und beeindruckend, und ich kann mir gut vorstellen, wie sie all die Weihbischöfe dazu bringt, in den Gefängnissen die Messe und in jedem Gefängnis eine Messe pro Woche zu feiern.
Heute hatte ich zwei Hofgänge. Es war ein schöner, nur teilweise bewölkter Tag. Ich habe mit Margaret telefoniert, die wieder in Mirridong ist. Sie hat noch ein paar Prellungen nach ihrem Sturz, ist aber ansonsten in guter Verfassung und bei klarem Verstand. Ich habe mich für ihren Brief bedankt, mich nach dem Kreuzworträtsel erkundigt, mit dem sie noch nicht fertig ist, und ihr gesagt, dass wir beide in Übung bleiben müssen.
Die erste Lesung im Brevier erzählt von Moses verspäteter Rückkehr vom Berg Sinai und davon, wie das Volk und Aaron davon ausgegangen waren, dass er nicht zurückkommen würde. Deshalb hatten sie ein Kalb aus geschmolzenem Gold gegossen, dem sie Brand- und Friedensopfer darbrachten, ehe sie sich niederließen, um zu essen und zu trinken, und sich dann wieder erhoben, um sich zu vergnügen.
Gott zürnte, doch Mose besänftigte ihn und ging dann hinunter, um seine störrischen Gefolgsleute zur Rechenschaft zu ziehen, ihre Götzen zu zerschmettern und zu Staub zu zerstoßen, den er sodann ins Wasser streute und dem Volk zu trinken gab.
Das Ganze ist so beschämend, dass diese Geschichte einen wahren historischen Kern haben muss. Das Bemerkenswerteste ist Aarons Verrat. Dennoch scharten sich die Leviten um Mose und metzelten 3 000 Gegner nieder. Offensichtlich ist ein hohes Amt keine Garantie für Integrität, und Aaron ist ein frühes Beispiel für Führungsschwäche.
Die zweite Lesung ist ein Text des heiligen Petrus Chrysologus7, von dem auch eine schöne Weihnachtspredigt im Brevier steht. Nach meiner Haft möchte ich mehr von ihm lesen.
Seine Botschaft besagt, dass Gebet, Fasten und Barmherzigkeit die wesentlichen Aktivitäten der Fastenzeit sind und dass man sich darin gegenseitig stärkt. Sie sind untrennbar miteinander verbunden: »Wer nur eines von ihnen besitzt und nicht alle zugleich, der hat nichts.«
In Australien ist die Fastenzeit dafür bekannt, dass man besonders viel betet. Das Projekt »Liebe und Barmherzigkeit«, das Hilfsund Entwicklungsgelder für Übersee sammelt, wächst weiter, aber gefastet wird nicht übermäßig.
In Sydney habe ich jedes Jahr zum Fastenbrechen nach dem Ramadan alle Religionsvertreter zu einem interreligiösen Abendessen ins Cathedral House eingeladen. Ich erinnere mich, dass an einem Abend links von mir ein sunnitischer Mufti und rechts von mir das Oberhaupt der schiitischen Gemeinde saß, außerdem Juden, Buddhisten, Hindus usw., Protestanten und Bischöfe der Ostkirchen. Offizielle anglikanische Vertreter haben zumindest in den ersten Jahren nicht teilgenommen.
In der Regel hatten wir einen Gastredner, doch in einem Jahr konnte die eingeladene Referentin nicht kommen, weil sie eine Herztransplantation vornehmen lassen musste, statt einen Vortrag darüber zu halten. Die einzig mögliche Alternative war, miteinander zu reden, und an unserem Tisch kam das Gespräch auf die Fastenpraktiken der verschiedenen Religionen und der christlichen Tradition.
Die spektakulärste Praxis und vermutlich auch das strengste Fasten ist das der Muslime, die vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung auf Essen und Trinken verzichten, was besonders in heißen Ländern mit langen Tagen eine Herausforderung ist. Zu jeder Glaubenstradition gehört das Fasten, wobei die orthodoxen Kirchen strenge Fastenregeln haben. Nur die liberalen Protestanten fasten noch weniger als die römischen Katholiken.
Eine meiner Urgroßmütter, eine katholische Irin, verzichtete an den Freitagen in der Fastenzeit auf schwarzen Tee, Brot und Schmalz. Ich habe zu spät begriffen – mein Fehler –, was wir da aufgegeben haben. Aber in den letzten Jahren habe ich die Praxis unterstützt, an den Freitagen auf Fleisch zu verzichten, wie es die englischen katholischen