Bilder der Levante. Michael Jansen
fand They Are Human Too von Per Anderson, einen Fotoband über palästinensische Flüchtlinge.
Im Mount Holyoke College belegte ich schließlich Internationale Beziehungen im Hauptfach, mit Schwerpunkt Naher Osten. Als Praktikantin des UNO-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) reiste ich nach Beirut und eröffnete mir weitere Fenster auf die Region, in der ich mein Leben verbringen sollte.
Beirut, Libanon, 10. Juni 1961
Vollgepumpt mit Impfungen gegen Typhus über Paratyphus bis zu Gelbfieber und von Ma mit einer Rolle Toilettenpapier ausgestattet, kam ich nachmittags am Beiruter Flughafen an. Man hatte mich durch halb Europa geschickt. Das Reisebüro in Bay City, unvertraut mit Reisezielen im Nahen Osten, hatte mich in eine TWA-Maschine nach London Heathrow gesetzt. Von dort sollte es mit Air India nach Beirut weitergehen. Aber es gab keinen Air-India-Flug nach Beirut. Jemand vom Bodenpersonal fuhr mich schnell über das Rollfeld zu einem Alitalia-Flug nach Rom. Das Flugzeug war fast leer und ich durfte in der ersten Klasse sitzen. Von Rom flog ich weiter nach Athen, stand dort vor dem kleinen Flughafengebäude auf dem staubigen Rollfeld und wartete auf das Flugzeug nach Beirut. Griechenland war damals noch zu großen Teilen vom Zweiten Weltkrieg verwüstet und nicht der Touristenmagnet, zu dem es später wurde.
Ich war verwirrt und aufgeregt, es war meine erste Reise außerhalb der USA. Obwohl ich nicht zur vereinbarten Zeit in Beirut ankam, wartete ein Fahrer des UNWRA so lange am Flughafen, bis ich eintraf. Er brachte mich in Windeseile zum Mayflower-Hotel in der Hamrastraße und sagte, der UNRWA-Bus würde mich am Montagmorgen um halb acht abholen.
Mein Zimmer lag im zweiten oder dritten Stock, sehr einfach eingerichtet, zwei Betten, ein Stuhl und ein Tisch. Der Duschkopf hing im Badezimmer in der Mitte der Decke, und wenn ich duschte, wurden Toilette und Waschbecken nass. Ich schlief bis sechs Uhr und wachte von einem quäkenden Hupen auf, ein Eselgespann mit Ölfass. Draußen wimmelte es vor geschäftigem Treiben. Verkäufer schoben Karren voller Obst und Gemüse vor sich her und riefen ihre Waren aus, Auberginen, Bohnen, Kartoffeln, Erdbeeren und Loquats – kleine ovale orangefarbene Früchte, die ich noch nie gesehen hatte. Die meisten Einkäufer waren Männer mit Körben, manche in Anzügen und Krawatten, bereit fürs Büro, andere in T-Shirt oder Unterhemd und Pyjamahose. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ließ eine Frau in geblümtem Hauskleid einen Korb mit einer Bestellliste an einem Seil vom Balkon hinunter. Noch im Schlafanzug holte ich mir den Stuhl auf den Balkon hinaus und setzte mich, gebannt vom morgendlichen Straßentheater.
Beim Frühstücksbuffet unter einer Markise auf dem Hoteldach traf ich meinen ersten »Expat«: Genevieve Maxwell, eine nicht mehr ganz junge Dame mit der Energie eines Teenagers. Sie war gebürtige US-Amerikanerin und schrieb eine Gesellschaftskolumne für den Beiruter Daily Star. Wer ich sei, was ich in Beirut mache, ob ich gern der Foreign International Group beiträte, die sie gerade organisiere, um junge Leute zusammenzubringen. »Libanesen sind nicht erlaubt«, sagte sie entschieden. Da wir uns in Libanon befanden, erschien mir das wenig gastfreundlich, und ich zögerte, in der Woche drauf zum ersten Treffen der Foreign International Group auf dem Hoteldach zu gehen. Schließlich ging ich doch hin und nahm Saud mit, der mal mit einer Kommilitonin vom Mount Holyoke College ausgegangen war. Wir waren uns zufällig auf der Rue Bliss vor der AUB über den Weg gelaufen; er besuchte gerade seine Familie in Beirut. »Er ist Saudi und geht in Amherst zur Universität«, sagte ich zu Maxwell, als ich ihn vorstellte. Ihr Verbot betraf keine Araber per se, nur Libanesen. Ich ging nie wieder zu einem ihrer Treffen.
Das Hotel war mit 20 Dollar die Nacht zu teuer für mich, und ich musste eine andere Bleibe finden. Ich glaube, Genevieve Maxwell schlug das Frauenwohnheim der Universität vor; dort kam ich unter. In jenem Sommer schloss ich dort meine ersten wirklichen Freundschaften. Amerikaner waren damals noch beliebt, dank US-Präsident Dwight Eisenhower, der 1957, nach dem desaströsen Suezkrieg Frankreichs, Großbritanniens und Israels gegen Nasser Druck auf Israel ausgeübt hatte, seine Truppen von der ägyptischen Sinaihalbinsel abzuziehen. Amerikanische Mädchen galten als exotisch.
Nach einem unglücklichen Start mit einer Iranerin, die jeden Morgen anderthalb Stunden zum Zurechtmachen brauchte, teilte ich mir ein Zimmer mit Sawsan, einer syrischen Archäologin. Sie hatte einen Sommerkurs belegt, ging die Dinge gemächlich an und stand spät auf. Ich musste derweil früh am Tor zur Medizinischen Fakultät stehen, um den UNRWA-Bus zu erwischen. Mein Frühstück bestand meist aus einem Käse-Tomaten-Sandwich oder Schokoladenkeks und einer Tasse Instantkaffee mit Milch aus der UNRWA-Kantine.
In jenem Sommer führte ich zwei Leben. In einem ging ich durch palästinensische Flüchtlingslager, um herauszufinden, welche Art von Berufsausbildung sich Palästinenserinnen in meinem Alter wünschten. Ich sprach kein Arabisch, war aber mit einheimischen Mitarbeitern unterwegs, die dolmetschten. Wir fuhren in Jeeps herum und liefen zwischen Rohbetonblocks – Flüchtlingsunterkünfte – durch Gassen gestampfter Erde, in der Mitte offene Abwasserkanäle. Von allen Seiten bedrängten uns Kinder, die neugierig mein kurzgeschnittenes Haar betrachteten. »Jeanne d’Arc«, sagten manche und dachten wohl an den Fünfziger-Jahre-Film Die heilige Johanna mit Jean Seberg. Die Erwachsenen waren ausnahmslos gastfreundlich und großzügig, kratzten die letzten Teeblätter aus ihrer Dose zusammen oder leerten ihre Zuckerdosen, um Tässchen türkischen Kaffees zuzubereiten.
Jerusalem, Juni 1961
Muhammad Jarallah holte mich mit dem Auto vom Flughafen in Amman ab, wir kauften im Zentrum im »Automatique« Sandwiches und machten uns auf den Weg in die Heilige Stadt. Muhammad war ein sehr großer Mann mit breitem Lächeln und grau geflecktem Haar und Bart, der UNRWA-Pressesprecher für Jordanien, das Westjordanland und Ostjerusalem. Als wir von der Hochebene ins Jordantal hinabfuhren, wurde die Luft, die durch die Autofenster hereinwehte, drückend heiß. Muhammad schlug vor, einen Zwischenstopp für ein Bad im Toten Meer einzulegen. Es ist der tiefste Punkt der Erdoberfläche; die Temperatur betrug über vierzig Grad Celsius, und im silberfarbenen, glatt-glitschigen Salzwasser war es nicht viel kühler. Wir liehen uns grobgestrickte Badekostüme von einem Stand und schwebten hoch auf der Wasseroberfläche, achtsam, kein Wasser in Augen, Ohren oder Mund zu bekommen.
Ich hatte ein Zimmer in der »Casa Nova« gebucht, einer franziskanischen Pilgerpension in der Altstadt, gleich bei der Grabeskirche. Das Zimmer war klein und schlicht. In einem schönen Refektorium gab es mittags an einer langen Tafel, an der lauter Mönche und Gäste Platz nahmen, Suppe und Brot. Nach dem Essen spazierte ich durch die Altstadt, blickte schüchtern in Geschäfte, die Gewürze, Süßigkeiten und Kleidung verkauften, und bewunderte reich bestickte traditionelle palästinensische Gewänder, die an Drähten quer über metallenen Ladentüren hingen. Bei diesem oder einem späteren Besuch kaufte ich ein altes Gewand aus einem goldfarbenen, satinartigen Stoff, verziert mit der besonderen Bethlehemer Plattstickerei. Die alte Ladenbesitzerin schenkte mir noch einen Kopfschmuck und ein Armband dazu, und ich zahlte sechs jordanische Dinar. Heute ist ein solches Gewand Hunderte wert.
Abends kam Muhammad mit einem Freund namens Aref vorbei, einem Journalisten, und wir fuhren nach Ramallah. Dort trafen wir uns mit Elise, einer Sekretärin im Beiruter UNRWA-Hauptsitz, die mich als Dolmetscherin auf meinen ersten Exkursionen begleiten sollte. Wir aßen in einem Gartenrestaurant unter Lichterketten Mezze von einem Dutzend kleiner Teller, und tranken dazu Bier und Arak – eine meiner ersten Begegnungen mit dem starken Anisschnaps. Als wir um Mitternacht nach Jerusalem zurückkehrten, waren die ersten Tore der Altstadt schon geschlossen, und wir mussten durch den Suk Khan al-Zeit waten, wo gerade das Kopfsteinpflaster gereinigt wurde. Die Tür der Casa Nova war verschlossen und der Pförtner wachte trotz allem Klingeln nicht auf.
Muhammad nahm mich mit ins Haus seiner Familie im Viertel Scheich Dscharrah. Er gab mir einen grün-weiß-gestreiften Pyjama und sein Zimmer, und ging selbst nach oben, um im Zimmer seiner Schwester zu schlafen. Ich lag lange wach und fürchtete mich vor der Missbilligung seines turbantragenden Vaters, einem ehemaligen Jerusalemer Mufti, der mich von einem Ölporträt an der gegenüberliegenden Wand unverwandt anstarrte.
Am nächsten Morgen frühstückten wir mit dem Untermieter der Familie, einem italienischen Ingenieur. Er arbeitete an der Renovierung des prächtigen Felsendoms auf dem muslimischen Gelände des Tempelbergs in der Altstadt, auf Arabisch al-haram asch-scharif,