Der Hüter der Sphären. Chris Vandoni
sich das Bild im Panoramafenster.
Michelle erkannte sofort die vertrauten blauen Türme und im Vordergrund die vielen unförmigen Plattformen. Das Tauchboot befand sich anscheinend auf einer davon. Am rechten Rand des Panoramafensters konnte sie eine Art Hügel mit einem großen Loch erkennen, was ihr ebenfalls vertraut vorkam. Es handelte sich um einen der Eingänge zum Innern der Sphäre. Allerdings wussten sie bis heute nicht, ob innerhalb einer Sphäre mehrere davon existierten.
»Sieht so aus, als sei wie letztes Mal das ganze Boot hineingeholt worden«, unterbrach Kevin das Schweigen.
»Meine Transfers verliefen bisher anders«, erwiderte Christopher.
»Dann lasst uns aussteigen. Das Wetter scheint angenehm zu sein.«
Einer nach dem anderen erhoben sie sich aus den Sitzen. Kevin öffnete die Luke und stieg als Erster aus, gefolgt von Neha und Christopher. Michelle bildete den Abschluss.
»Scheint eine sehr große Plattform zu sein«, bemerkte Kevin. Er machte ein paar Schritte auf die Höhle zu, blieb stehen und richtete den Blick weiterhin geradeaus. »Ich habe mich letztes Mal schon darüber gewundert, wie man sich hier in den Distanzen täuschen kann.«
»Ging mir beim ersten Mal auch so«, erwiderte Christopher. »Man macht einige Schritte und denkt, man nähere sich dem Ziel, um dann festzustellen, dass man nach wie vor fast gleich weit davon entfernt ist, weil die Distanz viel größer ist, als man gedacht hat.«
Kevin drehte sich um die eigene Achse. »Wie geht es jetzt weiter?«
Michelle, Christopher und Kevin blickten fragend zu Neha.
»Ich schlage vor, wir begeben uns in die Höhle und schauen, was dann passiert«, erwiderte sie.
»Hast du eine ungefähre Ahnung, wann es mit der Geburt soweit sein wird?«, fragte Christopher.
»Ja. Sobald ich in meiner Sphäre bin, wird es geschehen.«
»Aber das hier ist nicht deine Sphäre. Wir werden noch einen Transfer hinter uns bringen müssen. Mindestens einen.«
»Es wird hier im Inneren geschehen.«
»Weißt du, wie es danach weitergehen wird?«
»Nach dem nächsten Transfer?«
»Nein, nach der Geburt. Werden wir mit dem Kind einfach wieder zurückkehren?«
»Dann hätten wir gar nicht erst hierherkommen müssen«, meinte Michelle lakonisch.
»Ich glaube nicht, dass Ahen mit uns zurückkehren wird«, antwortete Neha.
»Wenn es so ist, nehme ich an, dass du auch bleiben wirst. Irgendein menschliches Wesen muss sich um den Säugling kümmern.«
»Ich weiß es nicht.«
Michelle sah Neha verwundert an. Eigenartigerweise machte sie trotz ihrer unschlüssigen Antworten einen sehr entschlossenen Eindruck.
Neha drehte sich um und ging mit zügigen Schritten auf die Höhle zu. Christopher, Michelle und Kevin folgten ihr unverzüglich.
Nachdem sie über eine Viertelstunde ins Innere der blauen Höhle eingedrungen waren, ging Neha plötzlich in die Knie und griff sich mit den Händen an den Kopf. Sofort eilten die anderen herbei und knieten sich neben ihre Gefährtin.
»Was ist mit dir?«, fragte Michelle besorgt.
Neha antwortete nicht. Ihr starrer Blick war auf den Boden gerichtet. Sie atmete heftig.
Nach einer Weile sagte sie: »Etwas Schlimmes wird passieren oder ist bereits geschehen.«
»Etwa hier?«
»Nein.«
»Wo dann?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was wird passieren?«, wollte Michelle wissen.
»Es ist etwas mit meiner Sphäre.« Nehas Stimme klang verzerrt.
»Sie wurde doch nicht etwa zerstört.«
»Das glaube ich nicht. Sonst würde ich keine Signale mehr von ihr empfangen. Aber ich kann nicht sagen, was es ist. Ich spüre nur einen sehr starken mentalen Druck, der von ihr ausgeht.«
Kaum hatte Neha zu Ende gesprochen, entstand unmittelbar vor ihnen ein winziger Lichtpunkt, der sogleich zu wachsen begann. Er dehnte sich in alle Richtungen aus und nahm immer mehr die Form eines senkrecht stehenden Ovals an. Michelle wusste, um was es sich dabei handelte. Die Sphären benutzten diese Lichtobjekte, um Gegenstände von einem Ort zu einem anderen zu transferieren. Obwohl sie mittlerweile schon mehrmals solche Transmissionen erlebt hatte, spürte sie aufgrund Nehas vorheriger Aussage eine große Anspannung. Was würde sie in der anderen Sphäre erwarten?
Plötzlich kippte Christoper zur Seite und blieb regungslos auf dem Boden liegen.
»Nein«, rief Michelle verzweifelt, »nicht du auch noch.«
Sie griff nach seiner Schulter und drehte ihn auf den Rücken. Er lag einfach nur da, die Augen geöffnet und den Blick starr nach oben gerichtet. Sein Atem ging regelmäßig und ruhig.
Das leuchtende Oval hatte sich mittlerweile vergrößert und ließ bereits die ersten funkelnden Punkte erkennen. Doch dann geschah etwas, mit dem niemand gerechnet hatte. Die Lichtpunkte schossen nicht auf sie alle zu, umhüllten nicht jeden der Gruppe. Sie umschlossen nur Neha.
Ratlos und verblüfft knieten Michelle und Kevin daneben und starrten auf den leuchtenden Kokon, der sich mittlerweile um Neha gebildet hatte. Ihre Gestalt war kaum mehr zu erkennen.
Als Michelle schon fast nicht mehr daran glaubte, dass sich etwas verändern würde, war der Spuk plötzlich vorbei. Verschwunden waren die Lichtpunkte und das leuchtende Oval. Mit ihnen auch Neha.
Christopher lag immer noch reglos auf dem Boden und hatte von all dem nichts mitbekommen.
»Jetzt geht es wieder los mit diesen ungewissen Situationen«, lamentierte Michelle.
»Noch ist nichts Schlimmes passiert«, versuchte Kevin sie zu beruhigen. »Anscheinend wollte die Sphäre nur Neha zu sich holen. Zudem kommt mir Christophers Zustand sehr bekannt vor.«
»Du denkst, er hat wieder einen dieser Wachträume?«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Die Frage ist nur, wohin ihn seine Mentalprojektion dieses Mal verschlagen hat.«
»Falls es seine eigene Mentalprojektion ist.«
6.
Sergeant Luis Conchavez von der Traffic Patrol lehnte an seinem Aerobike und inhalierte den blauen Dunst einer synthetischen Zigarette. Während er die Augen schloss und den Rauch durch die Nase wieder entweichen ließ, zerbrach er sich den Kopf darüber, was hier mitten in der Nacht geschehen sein könnte. Er mochte die Nachtschichten lieber als den Tagesdienst, da es nachts auf den Freeways wesentlich ruhiger zuging. Er konnte es nicht mehr hören, wenn seine Kollegen von den vielen Vorfällen erzählten, die sich täglich aufgrund von Fahrlässig- und Leichtsinnigkeit der Verkehrsteilnehmer ereigneten. Die meisten Fahrer waren viel zu sehr mit ihren elektronischen Spielereinen beschäftigt, statt auf den Verkehr zu achten, und stellten daher eine große Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer dar. Auch die Automatisierung der Fahrzeuge mit den modernsten Leitsystemen und Autopiloten hatte die Zahl der Unfälle nicht wesentlich reduzieren können. Lediglich die Unfallursachen hatten sich verändert. Man vertraute zu sehr der Technik oder man bediente und konfigurierte sie falsch, sodass es zu Störungen und Pannen kam.
Es war kurz vor drei Uhr morgens. Auf dem gegenüberliegenden Fahrstreifen stand ein Robo-Transporter. Solche Fahrzeuge wurden über ein satellitengesteuertes Leitsystem auf einer festgelegten Route von einem Ort zum anderen befördert. Die mit modernsten Sicherheitssystemen ausgerüsteten Gefährte wichen jedem Hindernis aus und hielten, wenn nötig, sogar an. Nun stand eines von ihnen mitten auf dem Freeway 40, etwa dreißig Kilometer westlich von Ash Fork, und rührte