Bastians Traum. Guido Arnold

Bastians Traum - Guido Arnold


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war. Obwohl hier niemand außer ihm, verschaffte er seiner drückenden Blase hinter einem abseits stehenden Baum Erleichterung. Nun ging es ihm schon viel besser. Er war erschöpft.

      Morgen, sinnierte er, wird sich zeigen, wie es weitergehen soll. Falls ich dann noch hier bin und dieser irrsinnige Traum noch andauert.

      Bastian suchte sich ein einigermaßen schattiges Fleckchen unter einem der kargen Bäume, räumte alle Steine beiseite und legte sich zur Ruhe. Er rollte sich auf die Seite und zog die Knie an. Es war seltsam: Seine Verzweiflung und der seelische Druck waren wie weggefegt. In einer solchen Situation, die jedem anderen Menschen Angst gemacht hätte, verstummte seine Furcht.

      Was habe ich schon zu verlieren, dachte er, während ihm die Augen zufielen. Wenn dies ein Traum ist, dann wache ich bestimmt in meiner Wohnung wieder auf.

      »Guten Morgen«, weckte ihn eine sanfte, kindliche Stimme. Erschrocken blickte Bastian auf und sah in zwei dunkle Augen.

      »Hast du gut geschlafen?«

      Erstaunt musterte er das Mädchen. Sie war etwa um die einssiebzig groß, also etwas kleiner als Bastian selbst. Um ihr sanftes, kindlich anmutendes Gesicht loderte rotes, schulterlanges Haar wie im Wind. Dieses Haar wirkte fast wie ein lebendiges Wesen, es benötigte augenscheinlich keinen Luftzug, um sich zu bewegen. Ihre Haut war, der Sonne zum Trotz, so weiß wie Elfenbein. Die Adern schimmerten an manchen Stellen leicht bläulich durch.

      »Mein Name ist Kassandra«, sagte sie freundlich, »und ich weiß, wer du bist.«

      Freudig erregt stellte Bastian fest, dass er in seinem Bett lag. Doch dieses Bett stand an einem Ort, der nicht sein Zimmer war. Seine Erinnerung rief ihm die Bilder des vergangenen Tages langsam ins Gedächtnis: Das Treppenhaus. Die Straße. Quietschende Reifen. Ein dumpfer Schlag. Der Asphalt, auf dem er gelegen hatte.

      Er rieb sich die Augen und schaute sich verstohlen um. Ein durchdringendes Gefühl überredete ihn, nicht zu glauben, zu Hause zu sein. Tatsächlich befand er sich in seinem eigenen Bett, roch sein Bettzeug, fühlte es auf seiner Haut und erkannte es wieder. Doch das Bett stand nicht in seinem Zimmer. Hier gab es kein großes, ungeputztes Fenster. Er vermisste den weiß gestrichenen, glatten Putz seiner Wände und das große Poster gegenüber seinem Bett. Immer weiter ließ er seine Blicke schweifen. Dieser Raum hatte überhaupt keine Wände. Auch nach der Zimmerdecke mit der kleinen, hässlichen Hängelampe suchte er vergebens. Nichts begrenzte diesen Ort. Trotzdem war es angenehm still. Kein Luftzug war zu spüren. Und noch etwas verwunderte ihn: Er war vollständig angezogen, trug Jeans, T-Shirt und sogar seine Schuhe. Nur seine Jacke lag neben ihm auf der Bettdecke.

      »Wo bin ich hier? Wie bin ich überhaupt hierhergekommen? Und warum?«, hörte er sich leise fragen, während er sich wieder den Schlaf aus den Augen rieb.

      »Das sind aber viele Fragen. Du wirst deine Antworten darauf finden«, sagte das Mädchen in gleich bleibend ruhigem Ton.

      »Dann weißt du also, was hier los ist?«

      »Sicherlich. Ich weiß alles.«

      Ungeduld gewann allmählich die Oberhand über Bastians Erstaunen und seine Ratlosigkeit.

      »Warum sagst du es mir dann nicht einfach?«

      »Du würdest mir doch nicht glauben«, sagte sie, ohne ihre Stimme zu erheben.

      »Im Moment würde ich alles glauben«, seufzte Bastian. »hilf mir.«

      »Ich kann es dir nicht sagen. Noch nicht. Du wirst es selbst herausfinden«, erwiderte Kassandra lächelnd mit dieser freundlichen und kindlichen Stimme.

      »Und wann? Ich verstehe das alles nicht. Bitte hilf mir. Wo bin ich hier? Und warum?«, flehte er das zerbrechlich und kränklich wirkende Mädchen neben seinem Bett an.

      Sie fuhr sich nervös durch das Haar und neigte den Kopf. »Du wirst verstehen, wenn es an der Zeit ist.«

      »Das kann doch nicht dein Ernst sein?«

      Er sah Kassandra ungläubig an.

      »Sag mir wenigstens, ob ich tot bin.«

      »Fühlst du dich denn lebendig?« Kassandra lächelte.

      »Ja«, sprach er zögerlich und beruhigte sich wieder etwas.

      »Warum fragst du mich dann? Du kennst bereits deine Antworten«, entgegnete sie sanft.

      »Was für Antworten? Ich weiß gar nichts. Und du willst mir anscheinend nicht sagen, was hier los ist. Macht es dir Spaß, mit mir zu spielen? Macht es dir Spaß, mich zu ärgern?«, fragte er verzweifelt.

      Kassandra zwinkerte ihm zu und sprach beruhigend auf ihn ein: »Ich bin nicht diejenige, die dein Schicksal in der Hand hat. Das bist du selbst. Du darfst mich ruhig beschimpfen, wenn du willst. Du bist nur einer von Unzähligen. Dein Zorn kann mich nicht berühren. Außerdem würde dir mein Wissen nicht von Nutzen sein. Schau mich an.« Ihr Blick wurde wehmütig, dann sprach sie weiter: »Ich weiß, dass es mein Schicksal ist, für immer an diesem Ort zu bleiben. Ich vermag es nicht zu ändern.«

      »Du meinst, du verbringst hier dein ganzes Leben?«, entgegnete Bastian ungläubig.

      »Zeit hat keine Bedeutung für mich.«

      »Warum gehst du nicht einfach?«

      »Warum sollte ich das tun?«

      »Gefällt es dir denn hier in dieser Einsamkeit?«

      Kassandra blickte ihm mit ihren großen, dunklen Augen ins Gesicht.

      »Man kann auch inmitten von Tausenden einsam sein. Keiner weiß das besser als du. Was mich angeht, so habe ich meine Wahl getroffen. Und du solltest das auch tun.«

      »Und welche Wahl habe ich?«, fragt er, ohne ihrem Blick auszuweichen.

      »Nun, du kannst hier bleiben. Du wirst nicht hungern oder dursten. Und niemand wird dir Leid zufügen.«

      »Oder?«

      »Oder«, Kassandra wandte sich um und deutete auf etwas, von dem Bastian geschworen hätte, dass es eben noch nicht dort gewesen wäre, »du gehst durch dieses Tor dort und findest heraus, was dich erwartet. Ich für meinen Teil weiß es bereits.«

      Bastian überlegte einen Augenblick, stand auf, schnappte sich seine Jacke und ging langsam auf das Tor zu. Es war ein einfacher Steinbogen in einer unsichtbaren Wand. Auf der anderen Seite erblickte er einen dichten Wald. Eine geheime Kraft zog ihn dennoch magisch an. Sein unwiderstehliches Verlangen war hindurchzugehen.

      Was würde ihm denn schon passieren? Alles war jetzt besser, als sich hier zu langweilen. Er würde nur weiterkommen, wenn er die Herausforderung annahm. Anderseits – wollte er wirklich weiter? Wollte er tatsächlich mehr wissen? Er suchte doch eigentlich nach gar nichts.

      So stand er direkt vor dem Durchgang und zögerte. Er musste sich jetzt entscheiden. Entweder für die hundertprozentige Sicherheit, die ihm ein kleines, altklug daherredendes Mädchen versprach, oder für die Ungewissheit hinter diesem Tor.

      Noch einmal wandte er sich Kassandra zu. Irgendwie tat sie ihm leid. Sie wirkte so hilflos und einsam, festgehalten an diesem Ort, klein und unbedeutend, eine von Unzähligen. Kein unbekanntes Gefühl für ihn.

      »Werden wir uns wieder sehen?«, fragte Bastian zögerlich.

      »Vielleicht«, sagte sie unverändert ruhig.

      »Ich wusste, du würdest so was sagen.«

      Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, nur für einen kurzen Moment.

      »Verschwinde endlich!«

      Bastian drehte sich wieder um. Von der Ungewissheit trennte ihn nur ein Schritt. Er schloss die Augen, holte tief Luft – und durchschritt das Tor.

      Er atmete wieder aus und hielt seine Augen noch geschlossen. Er sog die Luft durch die Nase ein: Es duftete herrlich frisch nach Tannen. Ein kühler Lufthauch strich ihm angenehme Schauer über die Haut. Dann öffnete er


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