Bastians Traum. Guido Arnold

Bastians Traum - Guido Arnold


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nicht wahr Jago?«

      »Sehr wohl, Eure Hoheit«, antwortete der Redeführer gehorsam und pfiff die Hunde zu sich, während er verächtlich in den Baum hinaufblickte.

      Langsam kletterte Bastian herunter, bedacht, nicht allzu lächerlich zu wirken. Unten angekommen, stellte er sich vor das Pferd der Anführerin.

      »Knie nieder! Weißt du etwa nicht, wen du vor dir hast?«, fragte sie laut und arrogant.

      Bastian kniete sich hin und antwortete: »Bitte verzeihen Sie, ich bin fremd hier.«

      »Ich bin Rhea. Ich herrsche über dieses Land und seine Bewohner. Es ist eine außerordentliche Gnade für einen wie dich, dass du noch am Leben bist. Weißt du das?«

      »Ja, Eure Hoheit«, erwiderte er unsicher.

      »Na bitte, es geht doch. Der Grund dafür ist, dass ich vielleicht geneigt bin, dir zu glauben. Du siehst nicht so aus, als ob du von hier wärst. Du trägst seltsame Kleider, du sprichst seltsam, und du wirkst auch in jeder anderen Hinsicht sehr verloren. Aber du scheinst lernfähig zu sein. Vielleicht bist du noch irgendwie nützlich für mich. Nehmt ihn mit! Wir kehren heim!«

      Damit ritt Rhea langsam voran, gefolgt von ihrer Meute. Bastian wurde von Jago mit starkem Griff nach oben aufs Pferd gezogen.

      »Nützliche Haustiere können wir immer gebrauchen«, sprach er bedrohlich, wobei er sich zu Bastian umdrehte und seine Lippen schon fast dessen rechtes Ohr berührten.

      »Und jetzt halt dich fest, kleiner Prinz«, flüsterte er ihm zu. Jagos unverschämtes Grinsen verunsicherte ihn. Bastian versuchte, sich auf dem ungesattelten Pferderücken irgendwie an Jago festzuklammern.

      Der Ritt quer durch den Wald dauerte nun schon eine Ewigkeit. Cassios Arme wurden langsam lahm vom ungelenken Festkrallen an Jagos Schultern. Schweigend und in Gedanken versunken gab er sich Mühe, sich seine Unbeholfenheit nicht anmerken zu lassen. Er blickte vorsichtshalber weder nach rechts noch nach links. Er war verunsichert, weil er keine Vorstellung davon hatte, was ihn erwarten würde.

      Jetzt gerade ging es ihm gar nicht so schlecht. Zumindest hatte er Gesellschaft, die ihn weniger ängstigte als ihn dieses Verlorenheitsgefühl gequält hatte, wenn er einsam war. Abwarten, wie sie ihn weiterhin behandeln würden. Vielleicht war es ja wirklich nicht das schlimmste, wenn er zu ihnen gehörte und nicht mehr allein und ziellos durch den finsteren, dichten Wald irrte. Schleichender Schmerz durchzog seinen Rücken. Wie gerne wäre er nur für einen kleinen Augenblick abgestiegen von diesem ihn unentwegt durchschüttelnden Pferderücken. Wie gerne würde er jetzt einfach nur ein paar Schritte gehen, damit seine Beine nicht einschliefen. Wie gerne würde er seine trockene Kehle mit etwas Flüssigkeit benetzen, um nicht vollends auszutrocknen.

      Nach einer endlos langen Zeit – den Gedanken an eine Pause hatte er schon fast aufgegeben – hielt die Meute plötzlich. Vorsichtig blickte Bastian auf. Vor ihm baute sich eine hohe, grob verputzte graue Mauer aus Feldsteinen auf. An ihrem oberen Rand lugten hoch über ihnen mit Pfeil und Bogen bewaffnete Männer zwischen den Zinnen hervor. Der Zutritt zum Inneren des Mauerrings wurde der Jagdmeute durch ein großes, zweiflügeliges Holztor verwehrt. Die beiden grob gezimmerten Holzflügel bewegten sich und schwangen langsam knarrend nach außen auf, und die Meute ritt ein.

      Hinter dem breiten Tor öffnete sich ein runder Hof, in dem reges Treiben herrschte. Cassio sah sich um. Von überall waren Rufe zu hören und irgendwo hämmerte ein Schmied auf einen nachklingenden Amboss. Die Ringmauer bestand hofseitig aus Stallungen, offenen Unterständen, in denen Werkstätten und Lagerplätze eingerichtet waren sowie Gesindequartieren. In der Mitte dieser Festung ruhte wie ein schlafendes Ungeheuer der gräulich schimmernde Palast der Rhea. Direkt vor Cassio erhob er sich majestätisch anmutend in der Mitte des Hofes mit seiner quadratischen Grundfläche und drei Stockwerken.

      Mittig angeordnet im untersten Teil des Bauwerkes befand sich ein ähnliches Tor wie jenes in der Ringmauer, durch das sie herein gekommen waren. Nur war es kleiner und aus ähnlich grobem, schwerem Holz. Ansonsten durchbrachen in unregelmäßigen Abständen und von einem gewöhnlichen Menschen unerreichbare vergitterte Fenster das trutzige Mauerwerk. Die beiden oberen Stockwerke waren niedriger und kleiner als das unterste. Das oberste hatte sogar eine noch kleinere Grundfläche als das darunter liegende, so dass die beiden oberen Gebäudequader über je einen umlaufenden begehbaren Vorsprung verfügten.

      Dort oben sorgten regelmäßig verteilte, bis zum Boden reichende Rundbogenfenster für ausreichend Licht und Belüftung der offensichtlich Wohnzwecken dienenden Räume. Bis auf die Fenstergitter, die üppigen Türbeschläge des augenscheinlich einzigen Hauseinganges, die Geländer der oberen Rundgänge und der Fensterleibungen wurde gänzlich auf Fassadenschmuck verzichtet. Anders als die Außenmauer war das aus großen, quaderförmigen Natursteinen bestehende Mauerwerk nicht verputzt. Den oberen Abschluss fand der Palast in einem von Zinnen umkrönten Flachdach.

      Nachdem die Reiter im Hof angekommen waren, schienen alle irgendein Ziel zu haben, verschwanden in alle Richtungen und wurden zu einem Teil des Trubels.

      Jago ließ sein Pferd inmitten des großen Hofes halten. Nachdem er laute Anweisungen in verschiedene Richtungen gerufen hatte, stieg er so schwungvoll ab, dass sich Cassio unversehens im Staub auf der Erde wieder fand. Jago beachtete ihn nicht weiter, übergab die Zügel seines Pferdes einem herbeigeeilten Knecht und verschwand.

      Cassio stand eine Weile regungslos und staunend da, bis ihn jemand ansprach und aus seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurückholte: »Geh dich waschen! Du siehst aus wie ein Waldschwein!«

      »Wo denn?«, fragte Cassio und reckte seine Glieder.

      »Wo wohl? Na dort drüben, wo sich alle waschen!«

      »Danke!«, rief er dem Mann nach, der im Gewühle verschwand. Waldschwein? Was das auch für ein Tier war, besonders hübsch war es mit Sicherheit nicht, wenn er sich so betrachtete. Schweiß und Staub bildeten eine Masse, die nicht nur seine Haare zu Strähnen verklebte, sondern auch alles andere an ihm: sein Gesicht, seine Hände, seine Kleidung waren mit einem Schmutzfilm überdeckt. Das Gesicht und die Hände waren zudem zerschrammt. Der ihm in die Nase kriechende penetrante Gestank war sein eigener. Seine Beine schmerzten mit seinem Rücken um die Wette.

      Mühsam schleppte er sich zu der Waschstelle, an der sich einige Männer erfrischten. Drei Fässer wurden über längliche Rinnen mit Wasser aus einem Brunnen gespeist, an dem ein in Lumpen gekleideter Bursche unablässig pumpte. Cassio stellte sich vor eines dieser Fässer und blickte in sein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. Das Wasser war ziemlich trüb, so dass er die Einzelheiten seines Gesichts nicht genau erkennen konnte.

      Zum Glück, dachte er, holte tief Luft und tauchte den ganzen Kopf unter. So sehr ihn sein schmerzender Rücken auch peinigte, so sehr bescherte ihm das kühle Nass die ersehnte Erfrischung. Das Wasser fühlte sich angenehm weich in seinem Gesicht an und dämpfte die Geräusche um ihn herum. Cassio erhob sich und strich sich mit einer lässigen Handbewegung die Haare aus dem Gesicht, wobei er bemerkte, wie dreckig sie waren. Schnell wusch er sich und drückte anschließend sein Haar aus. Dann nahm er noch ein paar gierige Schlucke aus dem Hahn, setzte sich in einer ruhigen Ecke auf den staubigen Boden und betrachtete das Treiben auf dem Hof.

      So saß er eine ganze Weile da. Niemand schien ihn zu beachten. Der Platz, auf dem sich eben noch unzählige Menschen getummelt hatten, leerte sich zusehends. Es wurde stiller. Nur hier und dort waren noch entfernte Stimmen zu hören. Langsam übermannte Cassio die Kälte wieder. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Sein leerer Magen knurrte auffällig und erinnerte ihn daran, dass er schon lange nichts mehr zu sich genommen hatte. Seine letzte Mahlzeit waren Tiefkühl-Tortellini gewesen. Das war eine Ewigkeit her, so genau wusste er das nicht mehr.

      Er erschrak in dem Bewusstsein, wie unwirklich ihm sein bisheriges Leben mittlerweile erschien. Bis jetzt schien er noch nicht verrückt geworden zu sein, obwohl das zumindest eine mögliche Erklärung für diesen Ort hier wäre und wie er hierher gelangt war. Die einzige Antwort auf diese ungestellte Frage war die Stille, die ihn umhüllte und einnahm.

      Cassio


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