Bastians Traum. Guido Arnold
Der Boden war mit braunen Nadeln und Blättern bedeckt. Hier und da bahnte sich ein einsamer Sonnenstrahl seinen Weg durch das dichte Blätterwerk über ihm.
Bastian fröstelte, und so zog er sich seine Jacke an. Hier waren die Temperaturen eher kühl, wie zu Hause. Ansonsten gab es nichts, das ihn an seine gewohnte Umgebung erinnerte. Dieser Wald strahlte etwas Wildes, Unheimliches aus. Bastian kannte keinen vergleichbaren Ort. Nun war er ganz auf sich gestellt. Die letzte Sicherheit hatte er mit seinem Bett zurückgelassen.
Plötzlich vernahm er ferne Geräusche: knackende Äste, rauschendes Laub und dumpfe Schritte auf dem Waldboden. Vollkommen still und bewegungslos stand er da und horchte. Die feuchtkalte Luft machte seinen Atem sichtbar. Trotz angestrengten Lauschens vernahmen seine Ohren nichts, was ihn beunruhigt hätte. Nur der Wind wehte raschelnd durch das Geäst der Bäume. Bastian atmete leise und drehte den Kopf und sah nichts als den Wald.
Da war es wieder: ganz leise, immer lauter werdend. Diesmal mischte sich in das ferne Geräusch aufgeregtes Hundegebell. Woher kam es? Er blickte sich hektisch um, erstarrte kurz darauf wieder und horchte weiter. In das Geräusch mischten sich Pferdehufgetrappel und menschliche Stimmen. Es kam immer näher. Mittlerweile konnte er die ungefähre Richtung orten. Unwillkürlich rannte er los.
Nach wenigen Metern ging ihm bereits die Luft aus. Er hielt an, stützte die Hände auf die Knie und keuchte. Sein Atem kam stoßweise und strömte unregelmäßig als weißer Nebel in die klare Luft. Ein stechender Schmerz in der Seite machte ihm zu schaffen.
Das Bellen war nun wieder lauter zu hören und klang viel näher als zuvor. Bastian sah zurück und hörte anfeuernde Stimmen. Doch niemand war zu erkennen. Es klang wie eine Treibjagd, und er war die Beute. Trotz der Seitenstiche setzte er sich wieder in Bewegung. Diesmal ging ihm viel schneller die Luft aus, der Schmerz zog schneller und kräftiger. Trotzdem lief er weiter und fand bald einen erträglichen Rhythmus. Er ignorierte das Stechen in seiner Seite, seinen kurzen Atem und konzentrierte sich auf seine Flucht. Entkommen war sein einziger Gedanke.
Bilder kamen ihm in den Sinn: Ein kleiner Junge starrt in die Ferne zum Horizont und denkt darüber nach, wie schön es wäre, einfach loszulaufen, immer in die eine Richtung, in der sein Ziel die Unendlichkeit ist. Seine Welt ist keine Kugel, sondern eine Scheibe ohne Rand, eine unvorstellbar sich ausbreitende Weite. Niemals will er müde werden. Alle Hindernisse will er überwinden und alles hinter sich lassen. Nichts will er mitnehmen, einfach nur laufen, seinem Hier und Jetzt entkommen.
Bastians Verfolger ließen sich nicht abhängen. So schnell er auch rannte, sie hatten sich wie Bluthunde an seine Fährte geheftet und kamen schnell näher. Ständig schlugen ihm Zweige ins Gesicht und rissen Kratzer und Striemen in seine Haut, während er vorwärts hetzte. Ein Brennen auf seiner Haut trieb ihn nur noch stärker an, um sein erbärmliches kleines Leben zu rennen. Mehr als einmal blieben seine Füße an Wurzeln hängen. Er strauchelte, stürzte und rutschte über den teils steinigen und mit Nadeln übersäten Waldboden.
Immer schneller und schneller jagte er durch das Unterholz auf der Flucht vor seinen unsichtbaren Verfolgern. Reißende Schmerzen durchzogen seine Brust. Die Luft war kalt und hart und rieb bei jedem Atemzug wie Schmirgelpapier in seiner Lunge. Sein Mund war staubtrocken, genau wie seine Lippen. Die scharfe Luft und die unaufhörlich in sein Gesicht peitschenden Zweige ließen Tränen aus seinen Augen quellen, so dass der Wald bald zu hellen und dunklen vorbeirasenden Farbmustern verschwamm. Seine Handflächen brannten von den Stürzen auf den harten Boden. Dornige Äste rissen ihm die Haut auf, wenn er sie sich aus dem Weg bog. Blut lief als dünnes Rinnsal über seine rechte Augenbraue herab ins Auge, das dadurch höllisch brannte. Er kniff es zusammen und fluchte vor sich hin.
Vor wem laufe ich eigentlich davon? Er wusste es nicht. Dass sie ihn früher oder später einholen würden, war ihm sehr wohl bewusst. Wenn er auf einen Baum kletterte, würden sie ihn vielleicht nicht finden. Es bestand Hoffnung, ihnen so zu entwischen.
Das war der zündende Einfall. Rennend hielt er nach einem geeigneten Baum Ausschau, auf den er klettern könnte. In einiger Entfernung entdeckte er einen, dessen unterster Ast ihm leicht erreichbar schien. Bestärkt von seiner rettenden Idee, fixierte er sein Ziel und eilte darauf zu.
Beim Stamm angekommen, sprang er in die Höhe, griff nach dem Ast und versuchte sich hochzuziehen.
Seine verschwitzten Hände rutschten langsam von dem rettenden Ast ab, so sehr er sich auch daran festkrallte. Dumpf landete er wieder auf dem Waldboden. Jetzt gab es kein Zurück mehr, die Meute war beinahe da. Bastian wischte sich die feuchten Handflächen an seiner Hose trocken und sprang mit zusammengebissenen Zähnen noch einmal, bekam den Ast jetzt fester in den Griff und schwang mit ungeahnter Kraft seine Beine hoch. Geschafft!
Einen Augenblick lang hing er da wie ein Faultier beim Mittagsschläfchen. Das rechte Knie angewinkelt, drückte er von unten mit dem Fußrücken gegen den Stamm und zog sich gleichzeitig mit den Armen nach oben. Einen eleganten Anblick bot er nicht, doch das war ihm jetzt egal. Unter ihm lauerte sein Verderben. Schließlich schaffte er es, sich in eine aufrechte Position zu bringen. Den nächsten Ast erreichte er leicht, wobei er ängstlich bedacht war, nicht abzurutschen und wieder hinunterzufallen. Seine Arme und Beine glichen gedehnten Gummibändern. Geschwind erkletterte er noch den nächsthöheren Ast, auf dem er schließlich zu sitzen kam und mit seinen zitternden Armen den Baumstamm umklammerte. Bastian seufzte erleichtert.
Seine Verfolger hatten ihn zwischenzeitlich aufgespürt. Wütend sprangen sieben Jagdhunde am Baumstamm hoch und bellten sich die Seelen aus den kraftstrotzenden Leibern. Weiße Reißzähne, die gierig nach ihm schnappten, überzeugten ihn von der Gefährlichkeit dieser Bestien. Knappe zehn Meter Höhenunterschied gewährten nur scheinbar eine gewisse Sicherheit vor ihnen. Er begriff sofort, wie sie ihn zurichten würden, wenn sie an ihn herankämen. Ein gutes Dutzend Reiter kam nun mit ihren Pferden näher und bildete einen Kreis um den Baum.
»Was haben wir denn da aufgeschreckt?«, hörte er eine Stimme rufen, worauf spöttisches Gelächter folgte. Das Alter der Frau, die unten auf einem pechschwarzen Hengst saß und zu ihm aufblickte, war schwer zu bestimmen. Sie wirkte größer als Bastian, hatte sehr kurzes, dunkelbraunes Haar und dunkle Augen. Ihre dünnen Augenbrauen waren zusammengekniffen. Die leichte Furche dazwischen ließ vermuten, dass sie das öfter tat. Sie trug einen vom häufigen Jagen im Wald ziemlich zerschlissenen Jagdrock. Ihre Hände in die Hüften gestützt, saß sie breitbeinig mit schwarzen, kniehohen Lederstiefeln in ihrem Sattel und blickte argwöhnisch in den Baum hoch.
»Wer bist du, und wie kommt es, dass du dich ohne Erlaubnis hier in meinem Wald herumtreibst?«, war ihre dunkle Stimme zu vernehmen.
Bastian grübelte angestrengt, um eine Ausrede zu erfinden. Er sah sich ertappt und unvorbereitet, eine solche Situation zu meistern. Beim besten Willen fiel ihm nichts ein: Er schwieg.
»Antworte gefälligst, wenn sie dich was fragt!«, rief einer der Männer aus der Horde, die sich um den Baum versammelt hatte. Anscheinend war er der Ranghöchste. Er war ziemlich groß und wirkte kräftig.
Bastian entschied sich, seinen richtigen Namen für sich zu behalten. Stattdessen rief er den erstbesten Namen hinunter, der ihm einfiel: »Ich bin«, er zögerte leicht, »Cassio, und um ehrlich zu sein, habe ich nicht die leiseste Ahnung, wie und warum ich hier hergekommen bin.«
Er wusste nicht, warum ihm gerade dieser ungewöhnliche Name eingefallen war oder woher er ihn kannte. Irgendwie gefiel er ihm.
»Was erlaubst du dir? Du hast sie mit Eure Hoheit anzusprechen«, donnerte ungehalten die Stimme des Mannes nach oben. Und an seine Anführerin neben ihm gerichtet: »Soll ich Euch diesen Knaben von dort herunterschießen, Eure Hoheit?«
»Nein, und wenn du erlaubst, möchte ich selber sprechen!«, antwortete sie forsch.
»Sehr wohl«, erwiderte er leise, senkte ergeben seinen Blick und führte seinen Gaul einen Schritt zurück.
»Ich bitte um Verzeihung, Eure Hoheit, ich habe wirklich keine Ahnung«, meldete sich Bastian ängstlich von oben zu Wort.
»Komm sofort herunter!«, befahl sie mit durchdringend tiefer Stimme.
»Ich