Mindful Parenting. Susan Bögels

Mindful Parenting - Susan Bögels


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Standpunkt aus betrachten, wird schnell begreiflich, dass reaktives, ängstliches oder überbehütendes Elternverhalten unseren Vorfahren im Pleistozän geholfen hat zu überleben. Wie Joseph LeDoux Forschung zu den Gehirnmechanismen, die der Angst zugrunde liegen, zeigen, haben wir uns zu wirklich guten Gefahrendetektoren entwickelt. Einfach ausgedrückt: In der Umwelt unserer Vorfahren war es durchaus von Vorteil, ein bisschen paranoid zu sein. Individuen, die über ein Gehirn verfügten, das potentielle Gefahren rasch identifizieren und automatisch auf sie reagieren konnte, hatten bessere Chancen, zu überleben und Nachkommen zu zeugen. LeDoux verdeutlicht dies am Beispiel eines Wanderers, der einen auf dem Weg liegenden Stock für eine Schlange hält und automatisch reagiert, indem er zur Seite springt. Diese sogenannte „Low-Road“-Reaktion – eine schnelle, automatische Reaktion auf wahrgenommene Gefahr, die unter Umgehung höherer kortikaler Funktionen direkt vom limbischen System ausgelöst wird – war zu einer Zeit, in der wir unter Raubtieren lebten, sicherlich vorteilhaft. Unser moderner Wanderer wird nach seiner anfänglichen Schockreaktion sicher ein bisschen verlegen über seine Fehlinterpretation lachen, doch unseren Vorfahren verschaffte die Fähigkeit, bei Gefahr sofort zu handeln und später zu denken, einen wichtigen Vorteil im Überlebenskampf (LeDoux 1996). „Vorsicht ist besser als Nachsicht“, nennt Paul Gilbert diese Arbeitsweise unseres Gehirns, die dazu führen kann, dass wir eine Gefahr falsch einschätzen (P. Gilbert, persönl. Kommunikation, 23. Juni 2012). Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie verletzlich und gefährdet Säuglinge und Kinder sind, wird uns klar, dass eine Mutter, die sich „überbehütend“ und „ängstlich“ verhielt, mit höherer Wahrscheinlichkeit überlebende Nachkommen hatte, die genau diese Merkmale dann weitergaben.

       2.2.3.4 Schlussfolgerungen für heutige Eltern

      Wieder resultiert das Problem aus der Tatsache, dass sich die Welt, in der wir leben, seit dem Pleistozän radikal verändert hat, ohne dass unser Affektregulationssystem mit dieser Entwicklung hätte Schritt halten können. Es ist immer noch auf „höchste Alarmstufe“ eingestellt, obwohl direkte Gefahr für Leib und Leben nicht länger die größte Bedrohung für unser Überleben darstellt. Als Eltern verfügen wir über hoch entwickelte Fürsorge- und Schutzimpulse in Bezug auf unsere Kinder, was in einer echten Gefahrensituation immer noch sehr nützlich sein kann. Wenn mein kleiner Sohn auf die Straße rannte, ohne auf den Verkehr zu achten, war meine automatische Reaktion – hinterherzulaufen, „Bleib stehen!“ zu schreien und ihn zu packen – sicherlich seinem Überleben dienlich. Doch wir verdanken auch einige der schlimmsten Momente in unserem Dasein als Eltern unseren automatischen Reaktionen, wenn wir eine Gefahr für uns oder unsere Kinder wittern. Wenn wir gestresst sind, neigen wir zu emotionalen Überreaktionen, und wenn wir Angst haben, zu Überbehütung.

      Heute sind die Auslöser, die dafür sorgen, dass wir uns bedroht fühlen, eher sozialer Art: Da genügt es, wenn unser Kind nicht zu einer Geburtstagsparty eingeladen wird, oder wenn wir bei einer anstehenden Beförderung übergangen werden. Es faszinierte mich, bei Sarah Hrdy zu lesen, dass ranghohe Pavianmütter ihren sozialen Status auf ihre Töchter übertragen, wodurch sich deren Fortpflanzungserfolg und die Überlebensrate ihrer Nachkommen erhöhen (Hrdy 1999). Danach verstand ich besser, warum ich mich manchmal in meine eigene Schulzeit zurückversetzt fühle, wenn ich meine Kinder von der Schule abhole. Ich ertappe mich dann nicht nur dabei, dass ich das Geschehen auf dem Schulhof beobachte, um einzuschätzen, welche Kinder „in“ oder „out“ sind, ich stelle auch fest, dass die anderen Mütter genau dasselbe tun! Während uns heute die Sorgen einer Mutter um ihren sozialen Status oder den ihres Kindes pathologisch erscheinen mögen, könnten sie in der Welt unserer Vorfahren entscheidend für das Überleben ihrer Kinder gewesen sein.

       2.2.3.5 Wie kann Achtsamkeit helfen?

      Aus evolutionsgeschichtlicher Perspektive betrachtet, sind die Ängste, die wir als Eltern haben, und unsere automatischen Reaktionen keineswegs anormal oder pathologisch (S. Hrdy, persönl. Kommunikation, 1. Juli 2012), sondern Teil unseres evolutionären Erbes, ebenso wie der aufrechte Gang und die Sprache. Diese Perspektive kann uns helfen, eine größere Akzeptanz für unsere menschliche Natur zu entwickeln. Die Achtsamkeitspraxis bietet uns die Möglichkeit, mit zunehmendem Gewahrsein unsere automatischen Reaktionen gewissermaßen abzubremsen, indem wir auf das achten, was unser Körper uns sagt, und einen Moment innehalten, bevor wir unseren gewohnten automatischen Reaktionen erlauben, abzulaufen. Wir können bewusst entscheiden, wie wir reagieren wollen, oder die Entscheidung treffen, nicht zu reagieren.

      2.3 Bindung aus evolutionärer Perspektive

      Unser Bindungssystem hat sich als vorteilhaft für unser Überleben und unsere Fortpflanzungschancen erwiesen. John Bowlby definierte Bindung als „die Neigung menschlicher Wesen, starke emotionale Bande zu bestimmten anderen Menschen zu knüpfen“ (Bowlby 1977, S. 201). Auch wenn Bindungsverhalten bei den meisten Säugetieren auftritt, ist es angesichts der langen Abhängigkeit des Nachwuchses für uns Menschen überlebenswichtig. Insbesondere der kindliche Drang, vor allem in Gefahrensituationen die Nähe der Mutter zu suchen, hatte für unsere Vorfahren klare Überlebensvorteile. Bindungsverhalten wird durch Bedrohungsoder Stresssituationen getriggert: Wenn eine Mutter oder ein Kleinkind sich bedroht fühlten, war die Suche nach der Nähe anderer oft die beste Überlebensstrategie. Bowlby sah im kindlichen Bindungsverhalten eine normale, evolutionär adaptive Reaktion auf die Trennung von der Mutter oder die Bedrohung durch Raubfeinde. Ein Kind, das schreit, wenn es von seiner Mutter getrennt wird, oder Angst vor lauten Geräuschen oder der Dunkelheit hat, verhält sich nicht pathologisch, da Trennungssituationen und laute Geräusche in unserer evolutionären Vergangenheit Gefahrensignale waren. Es ist ganz natürlich, dass ein Kind, das Kummer hat, die Nähe seiner Mutter sucht. Wenn diese es getröstet hat, kann das Kind sich wieder lösen und seine Umwelt erforschen (Bowlby 1971, 1977). Kinder, die nach einer kurzen Trennung von Mutter oder Vater dazu in der Lage sind, gelten als „sicher gebunden“ und zeigen eine bessere soziale, emotionale und kognitive Entwicklung als unsicher gebundene Kinder (Bretherton 1992). Wenn eine Mutter einfühlsam auf die Bedürfnisse ihres Kindes eingeht – z. B. Schutz und Trost bietet, wenn es ängstlich ist –, fühlt es sich bestärkt und erfährt auch die Beziehung zur Mutter als sicher. Es lernt außerdem, dass es sich bei Angst oder Verzweiflung an seine Mutter wenden kann (Stams et al. 2002).

      Bindungsverhalten hat sich auch deshalb entwickelt, weil es die mütterliche Bereitschaft zum Teilen von Ressourcen mit ihrem Kind sicherzustellen half (Hrdy 2009). Wie wir gesehen haben, ist diese Bereitschaft bei Menschenmüttern nicht zwangsläufig vorhanden. Schon vor der Geburt ihres Kindes hat das Bindungssystem einer Mutter vielfältige hormonelle und biochemische Veränderungen durchlaufen, die ihre Investitionsbereitschaft, ihre Fürsorge und Liebe für ihr Kind fördern. Nach der Geburt triggert auch das kindliche Verhalten das Bindungssystem der Mutter. So führt beispielsweise das Saugen an der mütterlichen Brust zur Freisetzung von Oxytozin im Körper der Mutter und bewirkt so Gefühle der Entspannung und Ruhe, reduziert Angst und fördert die Entwicklung der Mutter-Kind-Bindung (Carter 1998). Bei Vätern kommt es als Reaktion auf die Geburt ihres Kindes zu ähnlichen, wenngleich weniger starken hormonellen Veränderungen (Carter 2006).

      2.3.1 Die neuroendokrinen Grundlagen der Bindung

      Unser Bindungssystem und die ihm zugrunde liegenden neuroendokrinen Prozesse sorgen mit dafür, dass wir uns in unser Baby verlieben. Sie motivieren uns, für es zu sorgen, und bewirken, dass wir uns glücklich, sicher und ruhig fühlen, wenn wir eine Bindung zu ihm aufbauen. Oxytozin, das Neuropeptid, das mit diesem System assoziiert ist, ist gewissermaßen der Liebestrank von Mutter Natur, und er kostet keinen Cent, ist hundertprozentig naturbelassen und hat keinerlei negative Nebenwirkungen (abgesehen von einer Verminderung der Produktivität – S. unten)! Die Ausschüttung von Oxytozin regt die Wehentätigkeit an, reduziert den Geburtsstress und fördert Gefühle von Ruhe und Entspannung nach der Geburt. Oxytozin unterstützt auch das Bonding zwischen Mutter und Kind: Es stimuliert den Milchflussreflex der stillenden Mutter und sorgt dafür, dass sie sich nach dem Stillen ruhig und entspannt fühlt. Oxytozin dämpft außerdem unsere Reaktion auf Stressreize, z. B., indem es die Reaktivität des autonomen Nervensystems reduziert, die mit Stressreaktionen wie erhöhter Herzfrequenz und steigendem Blutdruck verbunden ist. Nach einem Stresserlebnis sorgt Oxytozin dafür, dass wir in einen Zustand der Ruhe, Sicherheit und des


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