Mindful Parenting. Susan Bögels
Eltern zu wiederholen.
Im Mindful-Parenting-Kurs gehen wir diese Problematik auf zweierlei Weise an. Zunächst laden wir die Eltern ein, bewusst auf sich wiederholende Interaktionsmuster in der Beziehung zu ihren Kindern zu achten. Dann fordern wir sie auf, zu erforschen, ob diese Muster den Interaktionen gleichen, die sie aus ihrer eigenen Kindheit kennen. Diese Muster als Wiederholungen zu erkennen, kann Eltern helfen, in schwierigen Situationen einen Moment innezuhalten, bevor sie überreagieren, das Muster aus der Vergangenheit und die damit verbundenen Gefühle als etwas zu erkennen, das nicht in die gegenwärtige Situation gehört, und bewusst zu entscheiden, wie sie darauf antworten möchten. Durch das Erkennen und Loslassen alter Muster können Eltern sich von dysfunktionalen oder gar gewalttätigen elterlichen Interaktionsformen lösen.
Zweitens erforschen wir die Bindungsbeziehung der Eltern zu ihrem Kind, indem wir die Eltern einladen, ihr Kind achtsam zu beobachten und im Umgang mit ihm achtsames Zuhören und Sprechen zu praktizieren. Sich seinem Kind einfach mit ganzer Aufmerksamkeit zu widmen, hilft beim Aufbau der Bindungsbeziehung. Wir nutzen auch Dan Siegels und Mary Hartzells (2003) Konzept von „Bruch und Reparatur“ in Bindungsbeziehungen, um Eltern zu helfen, mit Eltern-Kind-Konflikten umzugehen, die als Unterbrechungen oder Abbrüche der Beziehung erlebt werden können. Wichtig ist, dass wir nach einem Konflikt an die Bruchstelle zurückgehen und die Beziehung „reparieren“, indem wir uns, wenn sich die Wogen geglättet haben, unseren Kindern wieder zuwenden und uns genau ansehen, was geschehen ist. Vor allem bitten wir sie, uns mitzuteilen, was in ihnen vorgeht, und fühlen mit ihnen. Auf diese Weise bestätigen wir ihre emotionale Erfahrung und helfen ihnen, ihre Emotionen zu verstehen und zu akzeptieren. So unterstützen wir sie bei der Entwicklung von Empathie und Mitgefühl mit sich selbst und mit anderen. Außerdem stellen wir damit die emotionale Nähe und Sicherheit unserer Beziehung zu unseren Kindern wieder her, so dass wir für sie ein sicherer Hafen bleiben, in den sie zurückkehren können, wenn sie Kummer oder Probleme haben.
2.3.7 Die Evolution vielfältiger Bindungsbeziehungen
Weiter oben haben wir erläutert, dass unsere Vorfahren ihren Nachwuchs nach dem Prinzip der kooperativen Aufzucht, d. h. mit der Unterstützung vieler anderer Bezugspersonen, großzogen. Wie ist die Bindungsbeziehung zwischen Eltern und Kindern im Licht der Evolutionsgeschichte zu verstehen? Zu den bedeutsamsten Entwicklungen in der Bindungsforschung zählt die Erkenntnis, dass Kinder vielfältige Bindungsbeziehungen zu unterschiedlichen Bezugspersonen aufbauen können und dass mehrere sichere Bindungsbeziehungen tatsächlich vorteilhafter sein können als eine einzige sichere Bindung. So führten die Psychologen Marinus van IJzendoorn und Abraham Sagi in den Niederlanden und in Israel Studien mit Kindern durch, die entweder primär von ihrer Mutter oder von ihrer Mutter und einer weiteren Bezugsperson betreut wurden. Die Forscher fanden heraus, dass sich die Bindungsbeziehungen der Kinder zu verschiedenen Bezugspersonen unterschieden; so kam es z. B. vor, dass ein Kind unsicher an seine Mutter, aber sicher an seinen Vater oder eine Großmutter gebunden war. Aus diesen Forschungsergebnissen schlossen sie, dass die Gesamtqualität des kindlichen Bindungsnetzwerks der wichtigste Faktor für die soziale und emotionale Entwicklung eines Kindes ist. Drei sichere Beziehungen zu haben, erwies sich als optimal (van IJzendoorn et al. 1992).
2.3.8 Schlussfolgerungen für heutige Eltern
Die genannten Befunde bedeuten nicht, dass die Mutter-Kind-Bindung unwichtig wäre. Sie bedeuten lediglich, dass wir, wenn wir über Bindung nachdenken, unsere Perspektive um wichtige Andere erweitern müssen, die an der Pflege, Betreuung und Erziehung eines Kindes beteiligt sind: Vater, Stiefeltern, Großeltern, Tanten, ältere Geschwister, Tagesmütter, Erzieherinnen und Lehrer. Außerdem lassen sie Raum für eine Vielfalt von Fürsorge- und Bindungsarrangements, die uns die in unserer evolutionären Vergangenheit herrschende Flexibilität in Erinnerung ruft. So haben Untersuchungen gezeigt, dass eine sichere Beziehung zum Vater die negativen Effekte einer unsicheren Bindung an die Mutter abpuffern kann (Chang et al. 2007). Ein Kind, das bei seiner alleinerziehenden Mutter lebt, ist vielleicht sowohl an seine Mutter als auch an seine Großmutter sicher gebunden, und ein Kind, das in einer Patchworkfamilie aufwächst, kann z. B. sichere Bindungen an Mutter, Vater und Stiefvater haben. Diese Flexibilität, die vielfältige Betreuungsnetzwerke entstehen ließ, entwickelte sich, weil Menschenmütter bei der Aufzucht ihrer Nachkommen auf zusätzliche Hilfe angewiesen waren. Eine weitere Lektion aus unserer evolutionären Geschichte der gemeinsamen Fürsorge ist, dass Kinder bereitwillig Bindungen zu anderen Bezugspersonen eingehen, besonders wenn diese sich als einfühlsam, fürsorglich und verlässlich erweisen. Dass es Kindern so leicht fällt, Beziehungen zu Alloeltern aufzubauen, und dass letztere sich so stark zu Kindern hingezogen fühlen, ermöglichte es unseren Vorfahren, in größerer Zahl zu überleben und sich zahlreicher zu vermehren als andere Primaten. Die Fähigkeit unserer Kinder, vielfältige Bindungen einzugehen, wird uns (wie ich hoffe) schlussendlich die nötige Flexibilität geben, um für die Kinderbetreuung im 21. Jahrhundert Lösungen zu finden.
Sicher an mehrere Betreuer gebunden zu sein, ist jedoch nicht nur ein guter Ersatz für die Bindung an eine einzige primäre Bezugsperson, sondern offenbar auch vorteilhaft für die kognitive und soziale Entwicklung von Kindern. In der oben erwähnten Studie mit israelischen Kibbuzkindern zeigten Kinder, die sicher an ihren nichtelterlichen Betreuer oder ihre Betreuerin gebunden waren, später im Kindergarten größeres Selbstvertrauen und ausgeprägtere soziale Kompetenzen (van IJzendoorn et al. 1992). Kinder, die sicher an verschiedene Bezugspersonen gebunden sind, scheinen in ihren Beziehungen ein Gefühl der Sicherheit und bestimmte kognitive Kompetenzen zu entwickeln, darunter die Fähigkeit, die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten (Hrdy 2009).
2.4 Die Evolution von Empathie, Kooperation und Mitgefühl: Geschenke unserer Vorfahren
Schließlich kann uns die Evolutionstheorie auch etwas über die Entstehung von Empathie, Kooperation und Mitgefühl lehren – Fähigkeiten, die von zentraler Bedeutung für unser Leben als Eltern, für die Achtsamkeitspraxis und für unsere ureigene menschliche Natur sind. Evolutionstheoretiker und Psychologen führen unsere einzigartige Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl auf die ungewöhnlich enge und lange Beziehung zwischen Mutter und Kind zurück, die der Ursprung unseres Bindungssystems ist. Die Psychologin Jennifer Goetz und ihre Kollegen glauben, dass Mitgefühl in der Evolution des Menschen als ein Affektzustand auftauchte, der dazu diente, das Leid oder die Bedürftigkeit unseres verletzlichen Nachwuchses zu reduzieren. Mit der Zeit habe die höhere Überlebensrate der Kinder, die von mitfühlenderen Müttern aufgezogen wurden, zur Selektion dieses Merkmals geführt. Doch die Mutter-Kind-Bindung kennzeichnet alle Säugetierspezies, insbesondere Primaten (Goetz et al. 2010). Warum haben Empathie, Mitgefühl und Kooperationsbereitschaft sich dann gerade in unserer Spezies und nicht auch bei verwandten Menschenaffen wie z. B. Schimpansen bis zu einem so hohen Grad entwickelt?
Der Anthropologe und Entwicklungspsychologe Michael Tomasello vertritt die Meinung, dass Menschen sich durch ihre Fähigkeit, zu mentalisieren – die Gedanken anderer zu „lesen“ – und geistig-seelische Zustände zu kommunizieren, von anderen Primaten unterscheiden. Im Unterschied zu praktisch allen anderen höheren Primaten können Menschen 1) verstehen, dass andere Menschen Gedanken, Motive und Absichten haben, und 2) herauszufinden versuchen, welche Gedanken, Motive und Absichten dies sind. Unablässig bemühen wir uns zu begreifen, was in den Köpfen unserer Mitmenschen vorgeht. Noch beeindruckender ist, dass wir anderen helfen, sobald wir ihre Absichten verstanden zu haben glauben. Wir teilen die Erwartung gegenseitiger Kooperation und Hilfsbereitschaft: Unsere Motivation, die Intentionen anderer zu verstehen, ist der Wunsch, mit ihnen zusammenzuarbeiten, ihnen beim Erreichen ihrer Ziele zu helfen oder gemeinsame Ziele aufzustellen (Tomasello 2008).
Schon sehr früh versuchen Menschenbabys herauszufinden, was andere über sie denken und welche Absichten diese anderen ihnen gegenüber hegen (Hrdy 2009). Menschenbabys (und Kinder und Erwachsene) beschäftigt außerdem sehr, was andere für sie empfinden: Liebst du mich wirklich? Sorgst du dich wirklich um mich?
Warum entwickelten wir diese starke Motivation, zu wissen, was andere über uns denken, und warum sind wir darin so gut geworden? Für Sarah Hrdy liegt die Antwort auf diese Frage in unserer Geschichte der kooperativen Aufzucht. Irgendwann in der Evolutionsgeschichte wurde die Bürde der Aufzucht zu schwer für eine Mutter, als dass sie sie weiter