Mindful Parenting. Susan Bögels
Aka-Pygmäen-Vätern (Hewlett 2004) und den Vollzeit-Vätern und -Hausmännern in unserer Kultur reicht. Die Geschichte der menschlichen Evolution hat uns gelehrt, dass die Beteiligung der Väter an der Aufzucht der Kinder zwar die Überlebenschancen der Kinder häufig erhöhte, aber nicht immer gegeben war. Deshalb mussten clevere Mütter sich nach zusätzlicher Unterstützung umsehen. Die Flexibilität, die Mütter bei dieser Suche bewiesen, war vielleicht eines der stärksten Selektionsmerkmale in Bezug auf die erfolgreiche Aufzucht des Nachwuchses. Das heißt nicht, dass Mütter auf die Einbeziehung der Väter verzichten wollten oder konnten. Im Gegenteil: Menschenmütter haben alle möglichen Wege gefunden, um Väter in die Kinderaufzucht einzubeziehen (Hrdy 1999). Doch falls die Väter nicht verfügbar waren, halfen Flexibilität und Findigkeit den Müttern bei der Suche nach anderen vertrauenswürdigen Helfern: Großmütter, ältere Geschwister, Tanten, sogar nichtverwandte Mitglieder der Gruppe (Hrdy 2009). Dieser Punkt ist bis heute wichtig, denn wie gut die Absichten aller Beteiligten auch sein mögen: Beziehungen enden, Ehen zerbrechen, und es gibt keine Garantie dafür, dass ein Kind während seiner gesamten Kindheit und Jugend einen engagierten Vater – oder überhaupt einen Vater – in seiner Nähe haben wird.
Welche Faktoren führen dazu, dass Väter sich intensiver um ihre Kinder kümmern? Der Anthropologe Barry Hewlett, der die Vater-Kind-Beziehungen in Jäger-Sammler-Gesellschaften erforscht, vertritt die Auffassung, dass räumliche Nähe Impulse der Fürsorge und Liebe bei Vätern fördert. Hewlett hat unter den Aka-Pygmäen gelebt, einer Wildbeutergesellschaft, die den höchsten Grad an väterlicher Beteiligung aufweist, der je in einer Gesellschaft festgestellt wurde. Er beobachtete, dass Aka-Väter sich häufig in unmittelbarer Nähe ihrer Kinder aufhielten und diese häufiger küssten oder umarmten als Aka-Mütter. Und während Vater-Kind-Interaktionen in urbanen industrialisierten Gesellschaften vor allem von Kampf- und Tobespielen geprägt sind, spielten die Aka-Väter seltener in einer derart kraftbetonten, stark stimulierenden Weise mit ihren Kindern. Diese Unterschiede zwischen Aka- und westlichen Vätern erklärt Hewlett damit, dass Aka-Väter ihre Kinder durch die größere physische Nähe sehr genau kennen und deren Signale leichter deuten könnten (Hewlett 2004). Dies ermögliche es ihnen, auf eine ruhigere Weise mit ihren Kindern zu interagieren, statt auf kraft- und körperbetonte Spiele zurückzugreifen:
„Aka-Väter interagierten weniger kraftvoll, weil sie ihre Kinder durch ihr starkes Engagement bei der Kinderbetreuung genau kannten. Weil sie ihre Kinder so gut kannten, benötigten sie keine kraftbetonten Spiele zur Initialisierung von Kommunikation oder anderen Interaktionen mit ihnen. Sie hatten andere Wege, um mit ihren Kindern zu kommunizieren oder ihre Zuneigung auszudrücken. Häufig wurden Kommunikationsprozesse von den Kindern selbst initiiert, und die Aka-Väter wussten die verbalen und nonverbalen (z. B. durch Berührung) Signale ihrer Kinder zu deuten. Väter (oder Mütter), die einen weniger nahen Kontakt zu ihren Kindern haben, sind häufig weniger gut in der Lage, die Signale ihrer Kinder zu lesen und zu verstehen, und initiieren daher mit höherer Wahrscheinlichkeit selbst Kommunikationsvorgänge, oft durch körperliche Stimulation und körperbetonte Spiele.“ (Hewlett 2004, S. 189)
Hewlett stellte außerdem fest, dass bei den Aka Mütter, Väter und Kinder an der Netzjagd teilnehmen. Durch die gemeinsame Jagd bleiben Aka-Väter in engem Kontakt mit ihren Kindern, was erklären könnte, warum sie ihren Nachwuchs so gut kennen (Hewlett 2004). Auch Sarah Hrdy betont die Bedeutung von physischer Nähe und Erfahrung als Auslöser väterlicher Fürsorgeimpulse. Wenn Väter Gelegenheit haben, nah bei ihren Kindern zu sein, und unmittelbar in deren Betreuung einbezogen werden, können sie starke väterliche Gefühle und eine intensive Bindung entwickeln. Einige Untersuchungen zeigen, dass sich der männliche Hormonhaushalt durch die Anwesenheit von schwangeren Frauen und Babys verändert (Konner 2010). Hrdy glaubt, dass väterliche Fürsorge, auch wenn ihr Ausmaß in der Geschichte der Evolution stark schwankt, vermutlich schon im Pleistozän existierte (Hrdy 2009).
Die These, dass körperliche Nähe eine enge Vater-Kind-Beziehung fördert, erinnerte mich an die Zeit, als mein Mann sich um unsere neugeborene Tochter kümmerte. Er hatte einen Job mit flexiblen Arbeitszeiten und war deshalb jeden Donnerstag allein für unsere Tochter verantwortlich. An diesem Tag hatte ich außer Reichweite zu sein, damit er die einzige Bezugsperson sein konnte, ohne dass ich mich einmischte. Diese gemeinsame Zeit war entscheidend für den Aufbau ihrer Bindung, denn ich war weder zum Stillen noch zum Trösten verfügbar. Stattdessen gab mein Mann unserer Tochter abgepumpte Muttermilch zu trinken, wechselte ihr die Windeln, tröstete sie, legte sie schlafen und tat alles, was sonst noch zu tun war. An diesen Donnertagen suchte er die Nähe anderer Väter, die ihre Kinder schaukelten oder sich – meist getrennt von den Müttern – auf den Spielplätzen aufhielten. Ziemlich schnell hatte er erst einen, dann zwei, dann drei andere Väter mit flexiblen Arbeitszeiten gefunden, die ebenfalls kleine Töchter hatten. Bald trafen sie sich jeden Donnerstag auch ohne feste Verabredung, und oft lasen sie weitere zukünftige Mitglieder ihrer Gruppe im Park auf. Es dauerte nicht lange, und die Vätergruppe hatte acht bis zehn regelmäßige Teilnehmer, die sich gemeinsam um ihre Babys kümmerten, mit ihnen spielten und sich zum Frühstück in einem nahe gelegenen Café trafen, wo das typischerweise junge und weibliche Personal sie vor lauter Entzücken über den Anblick von acht Kerlen mit acht winzigen Töchtern in Tragesitzen und Buggys mit größter Zuvorkommenheit zu bedienen pflegte. Was mir heute an dieser Zeit, die mein Mann allein mit unserer Tochter verbrachte, bemerkenswert erscheint, ist nicht nur die Nähe zwischen ihnen, sondern auch die Tatsache, dass er an diesen Tagen wirklich allein für sie verantwortlich war. Genau wie ich musste er lernen, ihre Signale zu deuten, musste herausfinden, wie er sie zum Einschlafen bringen konnte, wann sie hungrig war, eine frische Windel brauchte usw. So entwickelte er die Zuversicht, dass er dazu ebenso gut in der Lage war wie ich.
2.2.2.10 .Vor welchen Herausforderungen stehen moderne Väter?
In mancher Hinsicht waren die Erwartungen an Väter noch nie so groß wie heute. In postindustriellen Gesellschaften werden der Erfolg eines Vaters und der soziale Status seiner Familie vor allem mit ökonomischen Maßstäben gemessen. Gleichzeitig erwartet man von Männern, dass sie sich stärker als je zuvor an der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder beteiligen, Windeln wechseln, den Abwasch erledigen und sich als einfühlsame Väter zeigen – und außerdem nach wie vor ihren finanziellen Verpflichtungen als Ernährer nachkommen (Lamb & Tamis-Lemonda 2004). Diese Erwartungen können miteinander in Konflikt geraten. Oft würden Väter tatsächlich gerne mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen, doch der Druck, finanziell für die Familie sorgen zu müssen, erweist sich häufig als größer.
Eine zweite Herausforderung resultiert daraus, dass Männer extrem unterschiedliche Erfahrungen mit ihren eigenen Vätern in die Vaterschaft einbringen. Das Spektrum reicht von Männern, die ihren Vater nie kennengelernt haben, bis zu Männern, die in einer engen Beziehung zu einem fürsorglichen und emotional präsenten Vater aufgewachsen sind. Manche Väter beschreiben ihre Vaterbeziehung so: „Mein Vater wusste nicht, wie er einen emotionalen Zugang zu mir finden sollte. Er arbeitete hart, er bezahlte die Rechnungen, doch wenn ich jemanden brauchte, wandte ich mich an meine Mutter. Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, meinen Kindern der Vater zu sein, der ich sein will.“
2.2.2.11 Achtsam Vater sein: Wie kann Achtsamkeit helfen?
Häufig äußern Väter uns gegenüber, dass sie sich sehnlichst wünschen, sie wären fähig gewesen, eine Beziehung zu ihrem Vater aufzubauen, oder dass sie für ihre eigenen Kinder so gerne emotional präsent wären. Dies ist der erste Schritt auf dem Weg, der Vater zu werden, der sie sein wollen. Denn wenn sie sich der emotionalen Auswirkungen ihrer eigenen Kindheitserfahrungen bewusst werden, können Väter diese Erfahrungen in ein kohärentes Bild von sich selbst integrieren. Außerdem können Väter auf Beziehungen zu anderen Vaterfiguren zurückgreifen, die in emotionaler Hinsicht vielleicht mehr für sie da waren – ein Onkel, ein Lehrer, der Stiefvater usw. Und Väter, die eine enge Beziehung zu ihrer Mutter oder einer anderen weiblichen Bezugsperson hatten, können sich an dieser Erfahrung orientieren. Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Väterforschung ist, dass die Eigenschaften eines Vaters und seine Beziehung zu seinem Kind eine größere Rolle spielen als das Geschlecht. Qualitäten wie väterliche Wärme und Nähe sind für Kinder ebenso wichtig wie mütterliche Wärme und Nähe (Lamb & Tamis-Lemonda 2004). Bindungsforscher