Mindful Parenting. Susan Bögels

Mindful Parenting - Susan Bögels


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und ob diese Muster sie an Muster aus ihrer eigenen Kindheit erinnerten. Auf diese Weise konnten Eltern einen Zusammenhang zwischen den „Low-Road“-Erfahrungen, die sie mit ihren Kindern machten, und den ungelösten oder schwierigen Mustern ihrer eigenen Kindheit entdecken. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer fanden dies auf tiefgreifende Weise hilfreich. Sie konnten nun ihren eigenen Beitrag zu solchen Interaktionen, die sie bisher mit dem schwierigen Verhalten ihres Kindes oder seinen heftigen Emotionen erklärt hatten, erkennen. So wurde es ihnen möglich, sich ihrem Kind gegenüber empathischer und im Hinblick auf ihre eigenen Reaktionen neugieriger und mitfühlender zu verhalten. Sie begannen außerdem zu erkennen, dass ihre Reaktionen keineswegs zufällig waren, sondern spezifisch für ihren persönlichen Hintergrund und ihre Entwicklung. Indem sie eine Verbindung zwischen ihren oberflächlich betrachtet außer Kontrolle geratenen Reaktionen und solchen sehr persönlichen, vor langer Zeit entstandenen Mustern herstellten, fiel es ihnen leichter, sich selbst und ihr Kind mehr zu akzeptieren.

      Wir stellten fest, dass diese sich wiederholenden Muster stark an die von Beck et al. (2004) sowie Young (1994) beschriebenen frühen Schemata erinnerten: automatische oder unbewusste Erfahrungen des Selbst, die Kognitionen, Emotionen und Körperempfindungen beinhalten. Es verblüffte uns, wie sehr die Beschreibung der Schemata der Beschreibung der „Geisteszustände“ in der Achtsamkeits- und buddhistischen Literatur ähnelte. Wie Schemamodi beziehen sich Geisteszustände auf ein komplexes Muster interagierender Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen, die simultan und als Gesamtzustand erfahren werden. Geisteszustände können jeden emotionalen Zustand reflektieren – Zorn, Glück, Niedergeschlagenheit und inneren Frieden –, und sie formen unsere Wahrnehmung der Welt ebenso wie unsere Reaktionen. Was Geisteszustände und Schemata so machtvoll macht, ist, dass wir sie als Realität erleben. Wenn wir uns in einem bestimmten Geisteszustand oder Schema befinden, glauben wir, dass wir die Welt, andere und uns selbst wirklichkeitsgetreu wahrnehmen, und sind nicht in der Lage zu erkennen, wie stark unsere Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und Handlungen durch den jeweiligen Geisteszustand bzw. das Schema bestimmt sind. Die rund 2500 Jahre alte Lehre des Buddha, „Geisteszustände als Geisteszustände zu erkennen“ – sprich: sie nicht für die Realität zu halten und sich nicht mit ihnen zu identifizieren –, stimmt vollständig mit dem MBCT-Ansatz überein, „Gedanken als Gedanken“ zu sehen und nicht als Fakten. Wir fanden jedoch, dass Schemata das intensive, verwickelte Chaos aus verzerrten Gedanken, Gefühlen, Körperempfindungen und Reaktionen, das sich anfühlen kann wie ein veränderter Bewusstseinszustand, auf eine mehr empirische Weise erfassen.

      Wir stellten außerdem fest, dass Schemata die Verbindung zwischen den aktuell schwierigen Eltern-Kind-Interaktionen und den unaufgelösten Interaktionsmustern der jeweiligen Mutter oder des jeweiligen Vaters mit den eigenen Eltern herstellten. Diese Verbindung war von größter Bedeutung, weil sie Eltern half, sich solcher Muster bewusst zu werden und deren emotionale Kraft sowie deren negative Effekte in der Gegenwart zu verstehen und schließlich fähig zu werden, diese Muster loszulassen und in schwierige Interaktionen mit ihrem Kind achtsames Gewahrsein und bewusste Entscheidungen einzubringen. Aus der Entwicklungsforschung wissen wir, dass dysfunktionale Erziehungsmuster von einer Generation auf die nächste „übertragen“ werden können. Dasselbe gilt für Eltern-Kind-Bindungsmuster (Egeland et al. 1987; van IJzendoorn 1995). Diese These fanden wir durch unsere eigenen Erfahrungen als Eltern und die Erfahrungen vieler Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Mindful-Parenting-Gruppen vielfach bestätigt: Die Erfahrungen, die wir als Kinder mit unseren Eltern gemacht haben, können durch emotionale oder stressbelastete Interaktionen wieder aufleben.

      Abschließend sei gesagt, dass die Entwicklung des Mindful-Parenting-Programms auf den Beiträgen vieler Menschen beruht. Es erwuchs aus dem Feedback der Eltern und der Achtsamkeitslehrerinnen und -lehrer, die einen Mindful-Parenting-Ausbildungskurs absolvierten. Auch unsere persönlichen Meditations-, Lehr- und Retreaterfahrungen waren wesentlich für diesen Prozess. Wir haben als Fachfrauen, aber auch als Mütter an diesem Programm gearbeitet. Als Expertinnen profitierten wir von unserem beruflichen Hintergrund als Familientherapeutinnen, kognitive Verhaltenstherapeutinnen und Schematherapeutinnen, der es uns ermöglicht hat, die Übungen dieses Programms in unserer klinischen Praxis und bei der Ausbildung anderer Therapeuten zu testen. Als Mütter haben wir die Übungen auf unseren Familienalltag angewandt – im Bewusstsein unserer eigenen „Low-Road“-Momente und unserer transgenerationalen Elternerfahrungen.

      In den folgenden 13 Kapiteln beschreiben wir das Mindful-Parenting-Programm, so wie wir es entwickelt und am Mental-Health-Zentrum UvA minds für Eltern und Kinder der Universität Amsterdam (Niederlande) umgesetzt und getestet haben. In Teil 1, Kapitel 1 bis 3, stellen wir den theoretischen, klinischen und empirischen Hintergrund des Programms vor. In Kapitel 2 erweitern wir die Perspektive und erforschen das Elternsein und den damit verbundenen Stress im Kontext der Evolutionsgeschichte. In Kapitel 3 präsentieren wir Ergebnisse aus zwei klinischen Studien zum Mindful-Parenting-Programm und erste Befunde zu unserer neuesten Version des Programms, die auch die in diesem Buch beschriebenen Mitgefühls- und schematherapeutischen Übungen enthält.

      In Teil II, Kapitel 4 bis 13, stellen wir das Mindful-Parenting-Curriculum vor. Wir beginnen mit einem Überblick über das Programm, den Sie in Kapitel 4 finden. Dort beschreiben wir die Ziele des Programms, die Themen und Übungen jeder Sitzung und machen einige auf unseren Erfahrungen als Kursleiterinnen basierende Vorschläge. Wir erläutern außerdem, für welche Familien und Eltern das Programm entwickelt wurde und wie wir bei den Aufnahmegesprächen vorgegangen sind. Am Ende des Kapitels schildern wir den Aufbau und die Pflege der eigenen Achtsamkeitspraxis, die wir als unerlässlich für angehende Mindful-Parenting-Lehrerinnen und -Lehrer ansehen. In Kapitel 5 bis 13 beschreiben wir die neun Einzelsitzungen des Kurses (acht Sitzungen plus eine Follow-up-Sitzung zwei Monate nach Programmende) im Detail: Nach einer kurzen Erläuterung des theoretischen und/oder klinischen Hintergrundes dieser Sitzung folgt jeweils eine detaillierte Beschreibung der Übungen und der sich daran anschließenden Gesprächsrunden mit Praxisbeispielen. Am Ende jedes Kapitels finden Sie die Arbeitsblätter für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu den jeweiligen Hausaufgaben und wichtigen Themen der Sitzung. In Kapitel 14 schließlich geben wir den Eltern das Wort: Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer schildern, wie sich der Kurs langfristig auf ihr Leben ausgewirkt hat.

      Dieses Buch enthält viele Beispiele aus den Kurssitzungen, um die vorgestellten Übungen zu illustrieren. Dabei handelt es sich um anonymisierte Äußerungen und Berichte von Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus unseren Kursen und Workshops. Um sie und ihre Familien zu schützen, haben wir Namen und Einzelheiten verfremdet. Einige Eltern haben auch unter ihrem richtigen Namen Texte und Gedichte über ihre Erfahrungen beigesteuert. Persönliche Beispiele aus unserem eigenen Alltag beginnen mit „ich“ und beziehen sich immer auf Kathleen oder Susan. Wenn wir von „wir“ sprechen, ist stets eine Vielzahl gemeint: wir als Mindful-Parenting-Lehrerinnen, als Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Mindful-Parenting-Kurses, als Eltern oder als Autorinnen.

       KAPITEL 2

       Elternverhalten und elterlicher Stress aus evolutionsgeschichtlicher Perspektive

      Eltern zu sein, ein Kind zu erziehen – mit all den Anstrengungen, die erforderlich sind, bis ein Menschenkind erwachsen ist – kann eine der größten Freuden des Lebens sein. Doch für viele Väter und Mütter bringt das Elternsein auch neue Belastungen mit sich (Cohen et al. 1997).


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