Mindful Parenting. Susan Bögels
Grundlagen der buddhistischen Meditation speist, deren Herz, so heißt es oft, die Achtsamkeit bildet.
Die Autorinnen und ihre Kolleginnen und Kollegen haben eine Reihe von wissenschaftlichen Studien zu Stress und Elternschaft durchgeführt, um ihr klinisches Mindful-Parenting-Programm zu validieren. In diesem Buch präsentieren sie ihr Curriculum in sehr verständlicher, klarer und detaillierter Form. Es basiert auf verwandten klinischen Ansätzen wie MBSR (Mindfulness-based Stress Reduction) und MBCT (Mindfulness-based Cognitive Therapy) und erweitert das Anwendungsspektrum dieser achtsamkeitsbasierten Konzepte um den komplexen Bereich der familiären Interaktionen und der besonderen Herausforderungen, denen sich Eltern von Kindern mit psychiatrischen Diagnosen gegenübersehen. Mindful Parenting enthält sowohl die formalen als auch die informellen Achtsamkeitsübungen aus den MBSR- und MBCT-Programmen, auf phantasievolle Weise ergänzt und auf die Anforderungen der Erziehung und der Elternschaft zugeschnitten.
Diese Arbeit ruht auf einem machtvollen Fundament von Freundlichkeit und Mitgefühl für Eltern und Kinder, was angesichts des auch in Familien unvermeidlichen Leids von größter Bedeutung ist. Diese Qualitäten des Herzens sind keineswegs Dekor oder Fassade, sondern bilden in Wirklichkeit die Grundlage aller Achtsamkeitspraktiken und ihrer klinischen Anwendungen, denn der Begriff „Achtsamkeit“ (mindfulness) impliziert immer eine „Achtsamkeit des Herzens“ (heartfulness). Ohne dieses intuitive Verständnis, diese tiefe Verkörperung von Achtsamkeit verlöre dieser Ansatz seine Kraft. Erfreulicherweise betonen die Autorinnen diesen entscheidenden Punkt immer wieder, ebenso wie die Tatsache, dass man Achtsamkeit, um sie wirklich zu begreifen und zum Nutzen anderer kreativ einsetzen zu können, wirklich als Seinsweise im eigenen Leben kultivieren muss. Im Hinblick auf diese beiden so überaus wichtigen Aspekte wird die gelebte Erfahrung und Weisheit der Autorinnen immer wieder sichtbar und spürbar. Ihre Darstellung dieser Seinsweise, die achtsames Elternsein heißt, wird für all jene Menschen eine Inspiration sein, die dieses Curriculum für ihren eigenen Kontext und ihr eigenes Leben zu übernehmen beabsichtigen.
Es freut uns sehr, dass Susan Bögels und Kathleen Restifo ihr ebenso profundes wie differenziertes Curriculum in dieser Form zur Verfügung stellen. Zugegebenermaßen fordert es eine ganze Menge von allen Beteiligten. Das tut Achtsamkeit immer. Doch wer das hier vorgestellte Programm in die Praxis umsetzt, wird finden, dass Mindful Parenting nicht mehr von Eltern verlangt, als sie zu geben in der Lage sind – um ihrer Kinder und ihrer selbst willen.
Wir hoffen, dass die ausgereifte Perspektive und die kompetente Anleitung, die dieses Buch bietet, möglichst vielen Familien zugutekommen.
JON UND MYLA KABAT-ZINN
Lexington, Massachusetts, im Oktober 2012
TEIL 1
Theoretische und empirische Grundlagen
KAPITEL 1
Mindful Parenting – eine Einführung
Ich könnte jedes Baby als einen kleinen Buddha oder als einen Zen-Meister ansehen, als persönlichen Achtsamkeitslehrer.
JON KABAT-ZINN ÜBER DAS ELTERNWERDEN (1994/DT. 2007, S. 204)
1.1 Warum Elternsein mit Stress verbunden sein kann
Kinder großzuziehen ist für viele Mütter und Väter eine der kraftraubendsten und verantwortungsvollsten Aufgaben im Leben, und doch gehen Eltern dieser Aufgabe mit Liebe, Freude, Stolz und einem Gefühl der Erfüllung nach. Kinder oder Enkel auf ihrem Weg zum Erwachsensein zu begleiten, ist vielleicht tatsächlich der erfüllendste „Job“ überhaupt, und ein guter Vater oder eine gute Mutter zu sein, unser höchstes Lebensziel. Auf die Frage, was wir bei unserer eigenen Beerdigung am liebsten über uns hören würden, kommt den meisten von uns, die wir das Glück haben, Eltern oder Großeltern zu sein, wohl als Erstes der Satz in den Sinn: „Sie/er ist eine gute Mutter / ein guter Vater gewesen.“ Bereits der Wunsch, es so gut zu machen – die bestmögliche Mutter oder der bestmögliche Vater zu sein –, kann Stress erzeugen. Hinzu kommen viele weitere Herausforderungen und Hindernisse auf unserem Weg als Eltern. Das beginnt mit dem Übergang ins Erwachsenenleben, wenn wir die Verantwortung für unser eigenes Leben übernehmen, dann Kinder zur Welt bringen und nun auch für ihr Leben verantwortlich sind – all dies verlangt von uns einen völlig neuen Umgang mit unserer Zeit, unserer Aufmerksamkeit, unserer Energie und unseren Ressourcen (z. B. Bardacke 2012). Nie wieder wird unser Leben so sein wie vor der Geburt eines Kindes. Und während wir uns um unsere Kinder kümmern, unser Familienleben organisieren und all das mit unseren beruflichen Interessen und Verpflichtungen zu vereinbaren versuchen, vergessen wir leicht, für uns selbst zu sorgen. Wenn die inneren Speicher sich dann mehr und mehr leeren, kann das zu Reizbarkeit, depressiven Verstimmungen, Müdigkeit, körperlichen Beschwerden und schließlich zu psychischen oder physischen Erkrankungen führen, die auch das Elternsein beeinträchtigen.
Verhaltensschwierigkeiten oder psychopathologische Symptome bei Kindern wie bei Eltern stellen besondere Herausforderungen dar, die das Elternsein belasten. Für die von solchen Problemen betroffenen Familien wurde das in diesem Buch beschriebene Mindful-Parenting-Programm entwickelt. Ein Kind, das z. B. mit starkem Stress oder Widerstand auf alles Neue reagiert, sich nicht selbst beschäftigen oder seinen Schulalltag nicht bewältigen kann, wegen seines aggressiven Verhaltens nicht mit Geschwistern allein bleiben darf oder unter Schlafstörungen leidet, kann den Erziehungsalltag belasten. Das Gleiche gilt für psychische Erkrankungen eines Elternteils. So kann etwa ein Vater, der an Depressionen leidet, seine elterlichen Aufgaben als Überforderung erleben und sich für einen schlechten Vater halten, eine Mutter mit einer Angststörung ist möglicherweise übermäßig besorgt und geht über-fürsorglich mit ihrem Kind um, ein an einer Zwangsstörung erkrankter Vater sieht sich vielleicht außerstande, elterliche Aufgaben abzugeben oder zu teilen, und eine Mutter, deren exekutive Funktionen gestört sind, könnte zu impulsiven und widersprüchlichen Reaktionen auf ihr Kind neigen.
Doch auch wenn weder Kind noch Eltern unter psychischen Störungen leiden, sind Eltern immer wieder mit Stressoren konfrontiert. Kinder entwickeln und verändern sich ständig, was Eltern vor die Herausforderung stellt, sich immer wieder neu an diese Veränderungen anzupassen: Ein Krabbelkind lernt laufen, ein Jugendlicher hält sich nicht mehr an die Familienregeln, eine Volljährige zieht aus. Selbst wenn Kinder schon lange erwachsen sind, fühlen sich Eltern weiter für deren Sicherheit und Wohlergehen verantwortlich und machen sich oft Sorgen, wenn ihre Kinder neue Herausforderungen selbstständig meistern müssen.
Stress kann auch aus unerwarteten familiären Ereignissen wie einer Trennung oder Scheidung resultieren. Die Mehrzahl der Kinder lebt heute mit Stiefeltern und oft auch mit Stiefgeschwistern zusammen, was häufig zu Abgrenzungs- und Loyalitätskonflikten führt. Stiefeltern bzw. -kinder können eine Quelle der Unterstützung und der Freude sein, aber auch für Stress sorgen. Für Alleinerziehende wiederum wird der Mangel an Unterstützung und Mitverantwortung des anderen Elternteiles sehr oft zur Belastung.
Partnerschaftsprobleme und Schwierigkeiten, bei der Erziehung miteinander zu kooperieren, sind weitere mögliche Stressquellen für Eltern. Während wir uns in unseren individualistischen westlichen Gesellschaften immer weniger auf soziale Gemeinschaften verlassen, ist die Partnerschaft als Quelle von Verbundenheit und Unterstützung immer wichtiger geworden – entsprechend groß sind die Erwartungen an partnerschaftliche Beziehungen (Johnson 2008). Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass der durch Probleme in der Partnerschaft verursachte Stress das Elternsein nachweislich negativ beeinflusst. Bei Vätern ist dieser Effekt sogar noch größer als bei Müttern (Bögels et al. 2010).
1.2 Wie Mindful Parenting helfen kann
Stress kann zum Zusammenbruch elterlicher Kompetenzen führen (z. B. Belsky 1984; Webster-Stratton 1990a). Zwar bereiten sich viele Mütter und Väter heute mit Hilfe von Elternkursen, -ratgebern und TV-Sendungen auf ihre Aufgaben vor, doch wenn sie unter Stress oder unter dem Einfluss starker Emotionen stehen, neigen Eltern aus allen sozioökonomischen Schichten dazu, ihre Kinder anzuschreien, ihnen zu drohen oder sie sogar zu schlagen. Elternkurse und das Wissen, wie ein guter Vater oder eine