Mindful Parenting. Susan Bögels

Mindful Parenting - Susan Bögels


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ins Gericht gehen, wenn sie die Nerven verloren haben.

      Nicht nur wird die Anwendung der in Kursen erworbenen Fähigkeiten unter Stress häufig vergessen, auch psychische Erkrankungen der Eltern können verhindern, dass eine Familie von solchen Kursen profitiert. Um einige Beispiele zu geben: Parent Management Training ist ein wirksames Trainingsprogramm für Eltern von Kindern mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und vermindert die Verhaltensprobleme der Kinder. Doch Kinder von Eltern, die selbst unter ADHS leiden, profitieren deutlich weniger davon (z. B. Sonuga-Barke et al. 2002). Kinder aus Familien, in denen sowohl das Kind als auch Mutter oder Vater Symptome wie unaufmerksames oder unkontrolliert-impulsives Verhalten zeigen, haben sogar das höchste Risiko, eine psychische Störung wie ADHS zu entwickeln (Sonuga-Barke 2010). Ebenso hat sich gezeigt, dass Kinder depressiver Mütter weniger von Elterntrainings profitieren (Forehand et al. 1984; Owens et al. 2003; Reyno & McGrath 2006; Webster-Stratton 1990b). Auch bei Eltern mit Partnerschaftsproblemen zeigte sich in einigen Untersuchungen eine geringere Wirksamkeit von Elterntrainings (Reisinger et al. 1976; Webster-Stratton 1985), wenngleich andere Studien keinen Zusammenhang zwischen Problemen/ Unzufriedenheit in der Partnerschaft und der Wirksamkeit von Elterntrainings feststellen konnten (Brody & Forehand 1985; Firestone & Witt 1982). Aus diesen Gründen besteht Bedarf an einem Elterntraining, das dem Stress, den die Eltern selbst erleben, ihrem Leid und ihren psychischen Symptomen einen hohen Stellenwert einräumt.

      Mindful Parenting eröffnet einen anderen Zugang für Eltern, die unter starkem Stress stehen oder selbst unter einer psychischen Störung leiden. In diesem Programm stehen das Stresserleben der Eltern, ihr Leiden und gegebenenfalls ihre eigene psychische Symptomatik im Mittelpunkt und nicht das Problemverhalten des Kindes. Natürlich kann das Problemverhalten des Kindes durchaus die Hauptstressquelle in der betroffenen Familie sein, doch unser „Arbeitsmaterial“ ist der aus diesem Verhalten resultierende Stress der Mutter und/oder des Vaters. Ein anderer Umgang mit Stress ist das Herzstück von MBSR (Mindfulness-based Stress Reduction), dem von Jon Kabat-Zinn entwickelten Programm zur Stressreduktion.

      Achtsamkeitsmeditation ist eine Meditationsform, die auf der buddhistischen Tradition basiert. Achtsamkeit zu praktizieren bedeutet, im gegenwärtigen Moment präsent zu sein, sich auf die Realität zu fokussieren und sie so zu akzeptieren, wie sie ist. Jon Kabat-Zinn entwickelte das MBSR-Programm, um chronisch kranken Menschen den Umgang mit ihrer Erkrankung und Gesunden den Umgang mit dem Stress, den das Leben mit sich bringt, zu erleichtern. Auf der Grundlage des MBSR-Programms entwickelten Zindel Segal, Mark Williams und John Teasdale die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie (Mindfulness-based Cognitive Therapy; MBCT), die für Menschen gedacht ist, die an Depression erkrankt sind. In den letzten zwei Jahrzehnten sind achtsamkeitsbasierte Interventionen bei einer Vielzahl von physischen, stressbedingten und psychischen Problemen erfolgreich eingesetzt worden. Die Anwendung der Achtsamkeitspraxis auf den Bereich Elternschaft, Kindeserziehung und Familienleben (Mindful Parenting) gehört zu den neueren Entwicklungen.

      In diesem Buch geht es um Mindful Parenting im Kontext der psychologischen und psychotherapeutischen Beratung und Begleitung von Eltern, die Hilfe bei der Erziehung ihrer Kinder suchen, oder denen geraten wurde, solche Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil ihr Kind oder sie selbst unter psychischen Problemen leiden. Im Folgenden schildern wir die Entwicklung des Mindful-Parenting-Programms von seinen mehr als zehn Jahre zurückliegenden Anfängen bis heute.

      1.3.1 Die ersten Schritte: Mindful Parenting für die Eltern jugendlicher Teilnehmer eines Achtsamkeitskurses – Susans Geschichte

      Als Aufmerksamkeitsforscherin hatte ich Interesse an einem Aufgabenkonzentrationstraining für Menschen entwickelt, die an sozialer Phobie, insbesondere Errötungsangst, leiden. Wissenschaftliche Untersuchungen hatten gezeigt, dass an einer sozialen Phobie Erkrankte in sozialen Situationen zu erhöhter Selbstaufmerksamkeit neigen und entsprechend wenig Aufmerksamkeit für ihre Umgebung und andere Menschen aufbringen (Bögels & Mansell 2006). Dies hat, wie sich zeigte, zahlreiche negative Folgen für ihr Sozialverhalten und ihre Wirkung auf andere und führt zu mehr negativen Emotionen und Gedanken und einer Steigerung der körperlichen Erregung. Das Trainingsprogramm basierte auf der Vermutung, dass die soziale Ängstlichkeit abnimmt, wenn Menschen lernen, sich in Momenten sozialer Angst, in denen ihre Aufmerksamkeit sich normalerweise der eigenen Person zuwendet, auf äußere Dinge, auf eine zu lösende Aufgabe zu konzentrieren. Als wir 1997 unseren ersten Beitrag zum Aufgabenkonzentrationstraining publizierten (Bögels et al. 1997; spätere Veröffentlichungen: Bögels 2006; Mulkens et al. 2001), schrieb mir Isaac Marks, ein bekannter Angstforscher: „Ist dies nicht dasselbe wie Achtsamkeit?“ Nein, es war nicht dasselbe, doch wir beobachteten die positiven Wirkungen, die Übungen wie das Gehen im Wald unter Einbeziehung aller Sinne hatten, indem sie die Aufmerksamkeit der Übenden aus ihrem (mit Angstempfindungen beschäftigten) Kopf und in die Erfahrung des Lebens von Moment zu Moment holten und ihnen halfen, in Gegenwart anderer Menschen präsent zu sein, statt absorbiert von sich selbst und ihren Ängsten – und das ist nichts anderes als Achtsamkeit. Der Same der Achtsamkeit war also gesät, wenigstens in meinem Forscherinnengehirn.

      Im Jahr 2000 lud ich Mark Williams ein, den Teams an unserem Mental -Health-Care-Zentrum für Erwachsene und Kinder in Maastricht eine Einführung in das MBCT-Programm zu geben. Wir waren sehr beeindruckt von diesem Ansatz zum Umgang mit psychischen Erkrankungen, der so anders war als der, mit dem wir als ausgebildete kognitive Verhaltenstherapeuten üblicherweise arbeiteten. Wir planten sofort eine randomisierte klinische Studie mit Erwachsenen, die unter sozialer Angst litten, um den achtsamkeitsbasierten Ansatz mit kognitiver Verhaltenstherapie zu vergleichen. Doch dann fragten meine von Mark Williams Training inspirierten Kolleginnen und Kollegen vom Mental-Health-Care-Zentrum für Kinder mich, ob ich nicht einen Achtsamkeitskurs für Jugendliche mit Angststörungen anbieten könne. Da für Jugendliche mit solchen Störungen hoch wirksame kognitiv-behaviorale Therapieprogramme zur Verfügung standen (z. B. Bodden et al. 2008), lag der Gedanke, in diesem Setting mit einem Achtsamkeitsprogramm zu beginnen, nicht gerade nahe. Doch was war mit Jugendlichen, die an externalisierenden Störungen litten, also an Problemen der Verhaltenskontrolle, an Unaufmerksamkeit und Impulsivität, die sich hauptsächlich im Verhalten und nicht in Gedanken und Gefühlen äußern? Bei diesen Jugendlichen hätte man wohl eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), eine Autismus-Spektrum-Störung, oppositionelles Trotzverhalten oder sonstige Störungen des Sozialverhaltens diagnostiziert. Für Jugendliche mit solchen Störungen, die im klinischen Setting häufig komorbid sind, gab es nur wenige evidenzbasierte Therapiekonzepte.

      Obwohl das Achtsamkeitstraining ursprünglich nicht für diese Störungsformen entwickelt worden war, gab es Grund zu der Vermutung, dass Achtsamkeitsübungen auch hier hilfreich sein könnten. Viele Kinder und Jugendliche mit externalisierenden Störungen haben Aufmerksamkeitsprobleme. So macht es ihnen Mühe, ihre Aufmerksamkeit über längere Zeit aufrecht zu erhalten, sie gleichzeitig auf verschiedene Aspekte zu richten und ihre erste Reaktion zu unterdrücken, wenn dies wünschenswert ist. Kinder mit externalisierenden Störungen haben außerdem bestimmte Verhaltensweisen gemeinsam, etwa eine starke Impulsivität, Hyperaktivität oder Unruhe, die möglicherweise aus den selben Informationsverarbeitungsproblemen resultieren. Durch die Achtsamkeitspraxis werden aufmerksamkeitsbezogene Fähigkeiten wie das Fokussieren und das Ausweiten der Aufmerksamkeit trainiert. Ebenso lernen Übende zu registrieren, wenn ihr Geist umherzuwandern beginnt, und Unruhe und Handlungsimpulse wahrzunehmen, ohne ihnen nachzugeben. Deshalb bot das Achtsamkeitstraining vielleicht eine Möglichkeit, direkt an den Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitäts- oder Impulskontrollproblemen dieser Jugendlichen anzusetzen.

      Während ich ein entsprechendes Programm entwickelte, kam mir der Gedanke, dass zumindest jeweils ein Elternteil an einem parallelen Achtsamkeitskurs für Eltern teilnehmen sollte. Denn da die Jugendlichen noch in ihren Familien lebten, müssten die Achtsamkeitsfähigkeiten, die sie erlernen würden, um mit ihren Aufmerksamkeits-, Verhaltens- und sozialen Problemen besser umzugehen, in einen familiären Kontext eingebettet sein, in dem Achtsamkeit einen Ort gefunden hat – etwa in der Art und Weise, in der die Familie zu Abend isst und Zeit miteinander verbringt, in den Familienbeziehungen und im Umgang mit familiärem Stress und Konflikten. Hinzu kam, dass einige der Eltern ganz ähnlich gelagerte Probleme hatten wie ihre


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