Mindful Parenting. Susan Bögels
Hintergrund als Kinder- und Familientherapeutin und ausgebildete Achtsamkeitstrainerin, ihre Forschung zu familiären Faktoren bei der Entstehung kindlicher Depressionen und ihr Interesse an Evolutionspsychologie und auf Mitgefühl basierenden therapeutischen Ansätzen führten dazu, dass wir das Programm zu modifizieren begannen, um sowohl unsere Überlegungen zu Veränderungsmechanismen als auch wichtige Theorien und achtsamkeitsbasierte Interventionen zur Prävention einer transgenerationalen Weitergabe psychischer Störungen und negativen Elternverhaltens in Mindful Parenting zu integrieren (z. B. Bögels & Brechman-Toussaint 2006; Bögels et al. 2010; Restifo & Bögels 2009).
1.3.3 Mitgefühl, Liebende Güte und Mindful Parenting – Kathleens Geschichte
Während meines eigenen Achtsamkeitstrainings hatte die Liebende-Güte-Meditation, der ich zuerst in Sara Napthalis Buch Der kleine buddhistische Erziehungsberater (2003; dt. 2010) begegnete, einen prägenden Einfluss auf mich. Den von Napthali geschilderten ständigen Kampf, eine „gute“ Mutter zu sein, die sich an einem unausgereiften, aber absoluten Maßstab misst und zwangsläufig scheitert, kannte ich auch. Als Psychologin hatte ich viele Jahre lang mit Menschen gearbeitet, die mit Selbstwertproblemen, Perfektionismus und Selbsthass kämpften und Selbstmordgedanken hegten oder bereits Suizidversuche unternommen hatten. Auch ich hatte mit meinem Perfektionismus und hohen Maßstäben gekämpft und fühlte mich manchmal entsprechend unzulänglich bei meiner Arbeit und in meiner Rolle als Mutter. Hier gab es eine Praxis, in deren Zentrum Liebe und Freundlichkeit standen, und die davon ausging, dass jede und jeder Güte, Liebe und Mitgefühl kultivieren kann. In meiner Ausbildung zur Psychologin hatte ich gelernt, mich auf die
Defizite der Menschen zu konzentrieren statt auf die jedem menschlichen Wesen innewohnenden Möglichkeiten. Die Liebende-Güte-Meditation eröffnet einen anderen Weg: Indem wir mit Sätzen der Freundlichkeit, des Mitgefühls und der Liebe uns und anderen Gutes wünschen, können wir unsere angeborene Fähigkeit stärken, uns selbst und anderen diese positiven Gefühle und Haltungen entgegenzubringen.
Kurze Zeit später machte ich in einem von Martine und Stephen Batchelor geleiteten Schweigeretreat meine erste praktische Erfahrung mit der Liebende-Güte-Meditation. Die schlichten, poetischen Worte, mit denen Martine Batchelor uns durch die Meditation führte, berührten mich tief und wurden zur Grundlage meiner eigenen Liebende-Güte-Praxis. Als ich ein Jahr später zusammen mit Susan zum ersten Mal eine Mindful-Parenting-Gruppe leitete, waren wir überrascht, wie ausgelaugt die Mütter wirkten und wie kritisch sie sich selbst sahen. Trotz ihrer offenkundigen Stärken, ob im Beruf oder als Eltern, schienen sie im Hinblick auf ihre Kinder alle mit Gefühlen der Schuld, des Versagens, des Nichtgenügens zu kämpfen. Dabei war offensichtlich, dass sie hingebungsvolle Mütter waren, die ihre Kinder liebten und ihr Bestes zu geben versuchten. Ich fragte mich, ob die Liebende-Güte-Meditation sie wohl genauso ansprechen würde wie mich, vor allem, weil Buddha als Bild für die Haltung der Liebenden Güte die Liebe einer Mutter zu ihrem einzigen Kind gewählt hat. Also führten wir die Liebende-Güte-Praxis ein, und viele Eltern reagierten positiv darauf.
Bald darauf lernte ich Kristin Neffs Arbeit zum Thema Selbstmitgefühl kennen. Kristin Neff ist nicht nur Entwicklungspsychologin, sondern praktiziert auch seit vielen Jahren Achtsamkeitsmeditation. Sie hat die Praxis des Selbstmitgefühls in psychologische Begriffe übersetzt und auch dazu geforscht. Ihre Idee, die Praxis des Selbstmitgefühls für den Umgang mit Selbstwertproblemen zu nutzen, erschien uns wie eine Antwort auf einen Mangel, den wir auch an den Eltern in unserer Gruppe wahrnahmen: den Mangel an Mitgefühl für ihre eigenen Schwierigkeiten als Eltern (Neff 2011). Zur selben Zeit wurde ich auf Paul Gilberts auf Mitgefühl basierenden Therapieansatz aufmerksam (Gilbert 2009). Seine Schilderung von Patienten, die unter Gefühlen der Scham und Selbstverurteilung litten, intellektuell durchaus verstanden, dass diese Gedanken keine Tatsachen waren, aber sich selbst keine liebevollen und freundlichen Gefühle entgegenzubringen vermochten, passte zu dem, was wir in unseren Gruppen sahen. Gilberts Überzeugung, dass sich eine mitfühlende Haltung durch bestimmte Übungen und innere Bilder kultivieren lässt, und dass diese Übungen neuroendokrine Prozesse aktivieren können, die Gefühle der Zufriedenheit und Zugehörigkeit fördern, elektrisierte uns. Ich las auch Christopher Germers Buch über Selbstliebe und Achtsamkeit, und Susan und ich besuchten einen von ihm geleiteten Workshop, um einige der Techniken zu erlernen, die er gemeinsam mit Kristin Neff entwickelt hatte, und zu überlegen, ob wir sie in unseren Mindful-Parenting-Kurs integrieren konnten (Germer 2009; Neff 2011).
Wir begannen uns zu fragen, wie wir diese Übungen von Anfang an so in den Mindful-Parenting-Kurs einbauen konnten, dass die Selbstmitgefühlspraxis zu einem roten Faden werden würde, denn unserer Einschätzung nach würden die teilnehmenden Eltern sie über längere Zeit üben müssen. Außerdem bemühten wir uns um ein genaueres Verständnis für die Beziehung zwischen Mitgefühl und Achtsamkeit. Durch Gespräche mit Achtsamkeitslehrern und Psychologen – Nirbay Singh, Joke Hellemans, Mark Williams, Christopher Germer, Christina Feldman, John Teasdale, Myla Kabat-Zinn, Jon Kabat-Zinn, Rebecca Crane und Franca Warmenhoven – begannen wir Liebende Güte schließlich als die jeder Achtsamkeitspraxis zugrunde liegende und nicht von ihr zu trennende Haltung zu begreifen. Zugleich kamen wir zu der Überzeugung, dass die Vermittlung spezifischer Übungen zur Kultivierung von Selbstmitgefühl und Liebender Güte Eltern helfen kann, diese Haltung zu entwickeln.
1.3.4 Schemamodi und Mindful Parenting
In unseren Mindful-Parenting-Gruppen und in unserem eigenen Alltag als Eltern stellten wir fest, dass sich stressbelastete Eltern-Kind-Situationen manchmal blitzartig zu hoch emotionalen Interaktionen entwickelten. Charakteristisch für solche Interaktionen waren schnelle, automatische und oft wütende Reaktionen und eine rasche Eskalation des Konflikts. Viele Eltern beschreiben diese Interaktionen mit Worten wie „durchdrehen“, „explodieren“ oder „ausrasten“ und empfinden anschließend Reue und Scham, weil sie die Kontrolle über sich verloren und sich ihrem Kind gegenüber destruktiv verhalten haben.
Wir begannen darüber nachzudenken, was genau eigentlich in diesen Situationen vor sich ging. Offensichtlich wirkte etwas in der Eltern-Kind-Interaktion wie ein emotionaler Trigger, der, einmal ausgelöst, die Eltern geradezu in einen veränderten Bewusstseinszustand katapultierte, aus dem es kein Zurück gab. In diesem „veränderten Zustand“ reagierten sie schnell, automatisch und mit starken Emotionen. Darauf reagierte das Kind häufig wütend und verletzt, was wiederum die starken negativen Emotionen weiter eskalieren ließ. Wir stellten uns folgende Fragen: 1. Was an der Eltern-Kind-Beziehung ist so anfällig für diese Art der Interaktion? 2. Was erleben die Eltern bei solchen Interaktionen? und 3. Wie können wir Eltern helfen, in solchen Situationen weiser zu reagieren?
Der Psychiater Dan Siegel und die Erziehungswissenschaftlerin Mary Hartzell beschreiben in ihrem Buch Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen (2003; dt. 22009) solche elterlichen Reaktionen als ein Sichverlieren auf dem „unteren Weg“. Mit dem Begriff des „unteren Wegs“ (low road) bezeichnen sie schnelle, automatische Reaktionen auf eine wahrgenommene Bedrohung, die durch stressbelastete Interaktionen mit unseren Kindern getriggert werden können. Grundlage solcher „Low-Road“-Reaktionen ist eine direkte Informationsweiterleitung vom Thalamus zur Amygdala unter Umgehung höherer kortikaler Regionen. Dan Siegel schildert eine solche Low-Road-Situation zwischen ihm und seinem 12-jährigen Sohn. Sie begann mit einer Auseinandersetzung über ein Videospiel, das sein Sohn kaufen wollte. Sein Beispiel für eine elterliche „Explosionsreaktion“ passte zu dem, was wir in unserer klinischen Praxis sahen und manchmal auch in unseren eigenen Interaktionen mit unseren Kindern und Partnern erlebten (Siegel & Hartzell 2003). Wir stellten fest, dass Achtsamkeitsübungen, insbesondere der „Drei-Minuten-Atemraum“, den Eltern half, sich solcher Reaktionen bewusster zu werden und manchmal sogar innezuhalten, bevor sie reagierten. Doch oft erwiesen sich die Emotionen in solchen Momenten als zu stark. Auffallend war für uns der Wiederholungscharakter dieser Eltern-Kind-Interaktionen. Es schien, als folgte das „Ausrasten“ von Eltern in diesen Situationen bestimmten wiederkehrenden Mustern. Wir fragten uns, ob diese Muster vielleicht mit Kindheitserfahrungen der Eltern zusammenhingen. Anders formuliert: Reinszenierten die Eltern zentrale Themen aus ihrer eigenen Beziehung zu ihren Eltern in den Interaktionen mit ihren Kindern?
Wir entwickelten eine Übung, um Eltern zu helfen, achtsames Gewahrsein in ihre Interaktionen