Mindful Parenting. Susan Bögels
gewesen sein. (Es mag zwar naheliegend erscheinen, dass Mütter Nahrung mit ihren Kindern teilen, doch bei unseren nächsten Verwandten, den großen Menschenaffen, ist das Teilen von Nahrung nach der Entwöhnung selten.) Eine ältere Frau, die ihrer Tochter beim Sammeln von Pflanzen und der Ernährung der Enkelkinder half, erhöhte den Fortpflanzungserfolg ihrer Tochter, weil diese sich auf die Versorgung eines Neugeborenen konzentrieren konnte, während die älteren, aber noch immer abhängigen Geschwister von ihrer Großmutter miternährt wurden. Das könnte im Laufe der Zeit dazu geführt haben, dass das längere Überleben von Frauen nach der Menopause von der Selektion begünstigt wurde, weil es die Überlebenschancen ihrer Töchter, Enkelinnen und Nichten vergrößerte (Hawkes et al. 1998). Diese These wird durch Untersuchungen heutiger Jäger-Sammler-Kulturen gestützt, die zeigen, dass die Anwesenheit einer Großmutter mütterlicherseits die Überlebenswahrscheinlichkeit von Kindern erhöht (Hrdy 2009). Während moderne westliche Gesellschaften der Sorge der jüngeren für die ältere Generation einen hohen moralischen Wert beimessen, betont Hawkes, dass die Verhältnisse in der Geschichte der menschlichen Evolution andersherum lagen: Postmenopausale Frauen hätten nur dann überlebt, wenn ihre Anwesenheit den Fortpflanzungserfolg ihrer Töchter und die Überlebensrate ihrer Enkelinnen und Nichten steigerte.
Ein letztes Rätsel in der Evolution der kooperativen Aufzucht ist die Frage, warum unsere Vorfahren irgend jemand anderem den eigenen Nachwuchs anvertraut haben sollten. Wild lebende Menschenaffenmütter lassen so gut wie niemals zu, dass andere Gruppenmitglieder ihr Junges auch nur halten, geschweige denn als „Babysitter“ einspringen. Das liegt an der sehr realen Gefahr, dass Jungtiere von Männchen einer anderen Gruppe getötet oder von einer übereifrigen Babysitterin gekidnappt werden. Sarah Hrdy stellte sich die Frage, welche Umstände eine Primatenmutter dazu gebracht haben könnten, das Risiko einzugehen und anderen ihr Junges anzuvertrauen. Sie vermutet, dass zwei Faktoren wichtig gewesen sein können: Erstens könnten weibliche Menschenaffen, die in der Nähe ihrer eigenen Mutter lebten, genügend Vertrauen zu dieser gehabt haben, um ihr Zugang zu ihren Jungen zu gewähren. Jüngste Forschungen stützen diese Vermutung: Zumindest einige unserer Vorfahren hatten flexible Wohnsitzregeln, die zuließen, dass Mütter vor der Geburt ihrer Nachkommen zu ihrer eigenen Mutter zurückkehrten oder dass Großmütter zu ihren Töchtern zogen, um ihnen nach der Geburt zu helfen. Zweitens dürften Mütter dank wachsender kognitiver Fähigkeiten im Laufe der Evolution in der Lage gewesen sein, Risiko-Nutzen-Abwägungen anzustellen. So konnte eine Mutter abschätzen, ob ihrem Baby vielleicht mehr Gefahr drohte, wenn sie es allein zurückließ, als wenn sie es in die Obhut einer Verwandten gab, der sie vertraute. In dem Maße, in dem die Bereitschaft von Müttern, einer anderen Person ihr Kind anzuvertrauen, ihren Fortpflanzungserfolg und die Überlebenschancen ihrer Nachkommen erhöhte, wurde dieses Merkmal evolutionär begünstigt (Hrdy 2009).
Tatsächlich gewähren Menschenmütter im Gegensatz zu Affenmüttern anderen Artgenossen bereitwillig Zugang zu ihrem Baby (Hrdy 2009). Denken Sie nur an das, was heute in vielen Kulturen geschieht, wenn ein neues Familienmitglied geboren wird: Alle kommen zu Besuch, und jeder will das Baby halten, vor allem Oma und Opa! Ich erinnere mich bis heute an das Lächeln auf dem Gesicht meiner Mutter, als sie meine neugeborene Tochter zum ersten Mal in den Armen hielt. Was für ein wunderbarer Moment, ein Neugeborenes auf dem Arm zu haben! Bei manchen Familienzusammenkünften wird das Baby so viel herumgereicht, dass die Mutter kaum Gelegenheit hat, es selbst zu halten, so schnell wandert es von einem eifrigen Verwandten zum nächsten. In manchen modernen Jäger-Sammler-Gesellschaften ist das Abgeben von Neugeborenen an andere Gruppenmitglieder sogar noch weiter verbreitet. Bei den Hadza z. B. werden Neugeborene in den ersten Tagen nach der Geburt 85 Prozent der Zeit von Alloeltern gehalten – Großmüttern, Großtanten, älteren Geschwistern oder Vätern. Efe- und Akafrauen geben ihr neugeborenes Kind in die Obhut weiblicher Verwandter und lassen sogar zu, dass diese es stillen, bis die Milch bei der Mutter selbst einschießt. Bei den Efe haben Neugeborene in den ersten Lebenstagen durchschnittlich 14 verschiedene Betreuer. Bei allen untersuchten Jäger-Sammler-Gesellschaften werden Babys vom Tag ihrer Geburt an von vielen anderen Gruppenmitgliedern gehalten, versorgt und ernährt. Diese Fürsorge wird wesentlich dazu beigetragen haben, dass Mütter ihre über viele Jahre abhängigen Kinder ernähren konnten, insbesondere nach der Entwöhnung (Hrdy 2009).
Die im Vergleich zu Menschenaffen weit größere Bereitschaft menschlicher Mütter, anderen die Sorge für ihre Neugeborenen anzuvertrauen, erklärt Sarah Hrdy mit dem Wissen der Mütter, bei der Aufzucht ihrer Kinder auf die Hilfe der Gemeinschaft angewiesen zu sein:
„Das Wissen, dass sie beim Aufziehen ihrer Babys auf Hilfe angewiesen sind, macht menschliche Mütter kritischer gegenüber dem Neugeborenen. Mütter wissen auch, wie förderlich es für das Wohl eines Babys ist, in eine soziale Gemeinschaft eingeführt zu werden. Indem sie andere in die Betreuung ihres Babys einbeziehen, senden Mütter ein deutliches Signal, dass sowohl sie als auch ihr Nachwuchs auf die Unterstützung durch die Sippe zählen. Indem die Mutter Alloeltern dem Anblick, den Lauten und dem Geruch ihres verführerischen kleinen Schützlings aussetzt, legt sie die Grundlagen für emotionale Bindungen zwischen ihrem Baby und potentiellen Betreuern und umgekehrt. … Wenn Menschenmütter nach der Niederkunft eine größere Toleranz gegenüber anderen zeigen, dann bedeutet das zwangsläufig, dass sie stärker von den wohlmeinenden Absichten anderer überzeugt sind. Ihr Vertrauen ist so stark, dass es die zwanghafte Hypervigilanz, die man bei allen frischgebackenen Menschenaffenmüttern antrifft, überwindet.“ (Hrdy 2009; dt. 2010, S. 115)
Die Nähe zu Angehörigen, denen sie vertrauen konnten – der eigenen Mutter, Schwestern, Tanten usw. – könnte unseren frühen Vorfahrinnen das erforderliche Maß an Vertrauen und Sicherheit gegeben haben, um das Risiko einzugehen, auch andere Gruppenmitglieder für das eigene Baby sorgen zu lassen, und so dazu beigetragen haben, der Evolution der geteilten Fürsorge den Weg zu bahnen (Hrdy 2009).
2.2.2.5 Soziale Unterstützung und mütterliche Ambivalenz
Die Notwendigkeit, geeignete Helfer für die Aufzucht der Nachkommen zu finden, hatte unter anderem zur Folge, dass unsere Spezies im Laufe der Evolution besonders feine Antennen für das Vorhandensein oder Fehlen sozialer Unterstützung entwickelt hat. Im Pleistozän, dem Zeitabschnitt, in dem sich der in anatomischer Hinsicht moderne Mensch zu entwickeln begann, betrug die Säuglingssterblichkeit bis zu 50 Prozent. Eine Mutter wird damals fast sicher die Hilfe anderer benötigt haben, damit ihre Kinder überlebten. In unserer Evolutionsgeschichte musste eine schwangere Frau sich also die Frage stellen: Wer wird mir helfen, dieses Baby aufzuziehen? Die Fähigkeit einer Mutter, zutreffend einzuschätzen, wer für diese Aufgabe in Frage kam – und keine Gefahr für das Kind darstellte –, war stark selektionsbegünstigt (Hrdy 2009).
Allerdings hat unsere Empfänglichkeit für Signale sozialer Unterstützung, wie Hrdy betont, auch eine Schattenseite. Wenn eine Menschenmutter nämlich wahrnimmt, dass die Aussichten auf Hilfe bei der Aufzucht ihres Neugeborenen schlecht sind, kann dies ihre Bereitschaft, für ihr Kind zu sorgen, ernsthaft beeinträchtigen. Anders als unsere Menschenaffenverwandten zeichnen wir Menschenmütter uns daher durch eine hohe mütterliche Ambivalenz aus. Während es bei Menschenaffenmüttern praktisch keine Fälle von Vernachlässigung oder Kindstötung gibt, kommt dies bei Menschenmüttern durchaus vor, wenngleich selten. Meist ist dies der letzte Ausweg und ein sehr schmerzhafter Schritt für die Mutter.
Im Gegensatz zu Affenmüttern besitzt eine Menschenmutter die kognitive Fähigkeit, ihre Situation einzuschätzen und sich die Zukunft vorzustellen. Sie weiß, dass sie ihr Kind nicht ohne Unterstützung aufziehen kann. Ihre Ambivalenz entsteht aus der Notwendigkeit, die Überlebensaussichten ihres Kindes vor dem Hintergrund der voraussichtlich verfügbaren Hilfe zu beurteilen. Für eine Menschenaffenmutter ist die Wahrnehmung verfügbarer Unterstützung schlicht unwichtig. Weder ist sie auf gemeinsame Fürsorge angewiesen, noch würde sie ihr Junges anderen anvertrauen, weil die Risiken zu hoch wären. Aus diesen Gründen ist die wahrgenommene soziale Unterstützung extrem wichtig für das Engagement und die Fürsorgebereitschaft einer Menschenmutter (Hrdy 2009).
2.2.2.6 Schlussfolgerungen für heutige Eltern: soziale Unterstützung und mütterliche Ambivalenz
Was bedeutet all dies für heutige Mütter und Väter? Als Mütter haben wir im Laufe