Mindful Parenting. Susan Bögels

Mindful Parenting - Susan Bögels


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Außerdem ist die Erziehung eines Kindes mit einer oder mehreren der genannten Störungen sehr belastend. Viele Eltern hatten stressreiche Jahre hinter sich, in denen sie wegen schulischer Schwierigkeiten und Fehlverhalten ihres Kindes häufig in die Schule zitiert worden waren oder Anrufe von anderen Eltern oder sogar von der Polizei bekommen hatten. Die Erwartungen und Hoffnungen, die sie in ihr Kind gesetzt hatten, etwa im Hinblick auf seine Schulleistungen, seine Beliebtheit, die „richtigen“ Freunde und Freizeitaktivitäten, schienen sich nicht zu erfüllen. Vielleicht entsprach auch die Beziehung, die sie zu ihrem Kind aufgebaut hatten, nicht ihren Erwartungen von Nähe (weil ihr Sohn oder ihre Tochter den Kontakt mied), Gegenseitigkeit (weil ihr Kind Schwierigkeiten hatte, die Welt aus der Perspektive der Eltern zu sehen) oder Ehrlichkeit (weil ihr Kind sie gewohnheitsmäßig belog oder sogar bestahl). Möglicherweise konnten manche Eltern nachts nicht schlafen, weil ihr Sohn oder ihre Tochter spät oder gar nicht nach Hause kam und weil sie sich wegen seines Alkohol- oder Drogenkonsums und der Gewalt auf den nächtlichen Straßen Sorgen machten. Vielleicht konnte Achtsamkeit diesen Eltern helfen, mit derartigen Stressbelastungen umzugehen, und Akzeptanz für die oft gravierenden und in Anbetracht ihrer langen Geschichte und vieler erfolgloser Behandlungsversuche möglicherweise sehr hartnäckigen Schwierigkeiten ihrer jugendlichen Söhne und Töchter zu entwickeln. Der Grundgedanke dahinter war: Wenn wir an dem Problem selbst nichts ändern können, können wir doch zumindest an unserer Beziehung zu dem Problem arbeiten, indem wir für uns selbst sorgen und dem Problem gegenüber eine offene, sanfte, nichturteilende Haltung entwickeln.

      Wir tauften das parallel stattfindende Achtsamkeitstraining für Eltern „Mindful Parenting“ – Achtsames Elternsein. Die Bezeichnung „Mindful Parenting“ geht auf den Titel des 1997 erstmals erschienenen Buchs Everyday Blessings: The Inner Work of Mindful Parenting von Myla und Jon Kabat-Zinn zurück (dt. 1998: Mit Kindern wachsen. Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie), das beschreibt, wie wir ein tieferes Verständnis für unsere Kinder und für uns selbst entwickeln können, indem wir bewusst nichturteilende Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt in unseren Erziehungsalltag und unsere Familien bringen. Jon und Myla Kabat-Zinn zeigen, wie heilend und transformierend achtsames Elternsein sowohl für Kinder als auch für Mütter und Väter sein kann.

      Im Jahr 2000, als der Elternkurs begann, hatten die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer noch nie etwas von Achtsamkeitsmeditation gehört. Manche waren neugierig und motiviert, andere kamen nur, weil ihr Kind sonst nicht am Training hätte teilnehmen dürfen. Viele Eltern waren beeindruckt von der Wirkung, die die Übungen auf ihr Elternsein, ihre Familie und ihr persönliches Leben hatten. So konnte ihr Tag z. B. anders verlaufen, wenn sie sich einfach nur die Erlaubnis gaben, zu spüren, wie müde sie waren. Manche Eltern äußerten hinterher, sie wünschten, sie hätten einen Mindful-Parenting-Kurs gemacht, als ihr Kind noch klein war, statt zu einem Zeitpunkt, an dem sie mit dem manchmal stark oppositionellen Verhalten eines Heranwachsenden in der sehr entscheidenden Phase kurz vor dem Auszug konfrontiert waren.

      Annette Heffels, eine Ehe- und Familientherapeutin, kam als teilnehmende Beobachterin in einen meiner ersten Mindful-Parenting-Kurse, um für eine bekannte Zeitschrift, die sich vorwiegend an Mütter richtete, über ihre Erfahrungen zu schreiben. Sie erwähnte die starke Gruppenbindung und die Atmosphäre der Sicherheit, die sie in dem achtwöchigen Kurs schon sehr bald gespürt habe. Sie stellte fest, dass die Eltern in der Gruppe nichts falsch machen konnten. Auch wenn sie zu spät kamen oder zu Hause nicht geübt hatten, waren sie willkommen und akzeptiert, einfach weil sie da waren. Ihre Beobachtungen erinnerten mich an etwas, das bei Jon Kabat-Zinn „Achtsamkeit des Herzens“ und bei Jeffrey Young „Reparenting“ („Neu“- oder „Wiederbeelterung“) heißt: Das Gefühl, versorgt und genährt zu werden (von der Gruppe, dem Lehrer oder der Lehrerin, der Meditationspraxis), und zu lernen, besser für sich selbst zu sorgen, kann für Eltern, die die schwere Aufgabe haben, unter manchmal sehr schwierigen Umständen für ihre Kinder zu sorgen, etwas ganz Wesentliches sein.

      Diese ersten Achtsamkeitsgruppen für Heranwachsende mit externalisierenden Störungen und die parallel stattfindenden Mindful-Parenting-Kurse für die Eltern bewirkten, dass die Heranwachsenden in Bezug auf ihre externalisierenden Störungen und Aufmerksamkeitsprobleme wichtige Fortschritte machten (Bögels et al. 2008). Doch es blieb unklar, ob diese Effekte dem Achtsamkeitstraining für die Jugendlichen selbst oder aber dem Mindful-Parenting-Kurs für die Eltern oder beiden Interventionen zuzuschreiben waren.

      1.3.2 Mindful Parenting als eigenständiger Kurs

      Als ich 2008 in Amsterdam zu arbeiten begann, bekam ich die Chance, mit Joke Hellemanns zusammenzuarbeiten, einer klinischen Psychologin und erfahrenen Achtsamkeitslehrerin, die von Jon Kabat-Zinns Team am Center for Mindfulness der Universitätsklinik in Massachusetts ausgebildet worden war. Wir profitierten sehr von Jokes Wissen, ihrer tiefen Beziehung zu und ihrer großen Erfahrung mit MBSR und MBCT und ihren klinischen Anwendungen bei Erwachsenen, die unter Stress (MBSR) oder Depressionen (MBCT) leiden. Sie konnte daher wichtige Beiträge zum Curriculum von Mindful Parenting liefern, die die wesentlichen Elemente dieser beiden Ansätze aufgreifen, insbesondere (1) die zentrale, systematische, formale und informelle Achtsamkeitspraxis und (2) die Gruppengespräche über die Erfahrungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit dieser Praxis.

      Joke und ich starteten unseren ersten Mindful-Parenting-Kurs ohne ein paralleles Achtsamkeitstraining für die Kinder der Teilnehmer. Das hatte den Vorteil, dass wir auf diese Weise Eltern von Kindern aller Altersstufen und mit allen Arten von psychischen Störungen aufnehmen konnten, außerdem Eltern, deren Kinder keine besonderen Schwierigkeiten hatten, die jedoch selbst unter psychischen Problemen litten, die ihre elterlichen Fähigkeiten beeinträchtigten. Die Interessentinnen und Interessenten, die sich meldeten, kamen mit einer großen Bandbreite von Fragen und Problemen in Bezug auf ihre Elternrolle. Bei einigen hingen die Schwierigkeiten mit ihrer Partnerschaft zusammen, etwa weil die Kinder nach einer Scheidung den neuen Partner oder die neue Partnerin nicht akzeptierten, bei anderen hatten sie psychische Ursachen, z. B. eine postnatale Depression, die zu Schuldgefühlen gegenüber dem Kind geführt hatte. Bei manchen wurzelten die Probleme in ihrer eigenen Biografie, etwa weil ein traumatisches Kindheitserlebnis wieder reaktiviert wurde, als sie selbst Eltern wurden. Wieder andere hatten Schwierigkeiten, familiäre und berufliche Aufgaben zu vereinbaren, und mussten sich ständig krankmelden, seit sie Kinder hatten. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer schließlich waren mit psychischen Auffälligkeiten ihrer Kinder – wie Trennungsangst, Autismus-Spektrum-Störungen oder ADHS – und den daraus resultierenden Erziehungsproblemen konfrontiert.

      Die einzelnen Sitzungen dauerten mit drei statt anderthalb Stunden doppelt so lange wie im ersten Mindful-Parenting-Kurs, der parallel zum Achtsamkeitskurs für Jugendliche stattgefunden hatte (da sich Anderthalb-Stunden-Sitzungen für Kinder und Jugendliche als ideal erwiesen hatten, hatten wir dies für den Elternkurs übernommen, teils aus praktischen Erwägungen, damit die Eltern ihre Kinder gleich mitbringen konnten, teils, um das Programm für jene Eltern, die nur teilnahmen, weil wir das zur Bedingung für die Teilnahme ihrer Kinder gemacht hatten, akzeptabler zu machen). Etwa zwei Drittel der Inhalte des neuen Kurses basierten auf den achtwöchigen MBSR- und MBCT-Programmen, rund ein Drittel war Mindful Parenting und stützte sich auf unsere Aufzeichnungen und Erfahrungen aus den früheren, kürzeren Mindful-Parenting-Kursen, die parallel zum Programm für Kinder und Jugendliche stattgefunden hatten, sowie auf neu entwickelte Übungen, für die wir uns von Dan Siegels und Mary Hartzells Buch Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen (2003; dt. 22009) inspirieren ließen. Die Resultate berührten und beeindruckten uns. Die teilnehmenden Eltern schilderten tiefgreifende Veränderungsprozesse, sowohl in ihrem eigenen Leben als auch in den Beziehungen zu ihren Kindern und Partnern. In Fragebogenerhebungen berichteten sie über erhebliche Verbesserungen in Bezug auf ihre psychischen Symptome und die ihrer Kinder, wie auch in Bezug auf die elterliche und die familiäre Funktionalität (Bögels et al. 2010).

      Joke und ich leiteten noch viele weitere Mindful-Parenting-Gruppen mit demselben Programm bei UvA minds, dem psychotherapeutischen Zentrum für Eltern und Kinder der Universität Amsterdam. Viele Kinder- und Familientherapeuten und Achtsamkeitslehrer begleiteten diesen Prozess als teilnehmende Beobachter und unterstützten uns durch ihr Feedback über ihre Beobachtungen und ihre Erfahrungen mit den Wirkungen von Mindful Parenting in ihrem eigenen Leben, in dem sie familiäre und berufliche


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