Mindful Parenting. Susan Bögels
haben, stehen häufig unter großem Stress (Deater-Deckard 1998). Angesichts der scheinbar allgegenwärtigen Belastungen, die mit dem Elternsein verbunden sind, stellte sich uns die Frage, ob der Stress, den wir als Eltern erleben, vielleicht evolutionäre Grundlagen hat. Um die Anthropologin Sarah Hrdy zu paraphrasieren: Gibt es möglicherweise ein „Primatenrecht“ auf elterlichen Stress (Hrdy 2009; dt. 2010, S. 184)? Mit anderen Worten: Kann uns eine evolutionsbiologische Perspektive helfen, die Belastungen, mit denen heutige Eltern konfrontiert sind, besser zu verstehen? Und inwiefern kann Achtsamkeit hier eine Hilfe sein?
Unser Verhalten als Eltern ist zweifellos durch natürliche Selektion geformt worden (Hrdy 1999). In der Geschichte der menschlichen Evolution wurden elterliche Eigenschaften und Verhaltensweisen, die die Chancen eines Kindes erhöhten, das Erwachsenenalter zu erreichen, auch mit höherer Wahrscheinlichkeit an die folgende Generation weitergegeben. So gerne wir glauben würden, unser Erziehungsstil sei ein Ergebnis bewusster Entscheidungen, unserer eigenen Kindheitserfahrungen und der Kultur, in der wir leben, könnte der größte Teil dessen, was uns als Eltern auszeichnet, in unserer gemeinsamen evolutionären Vergangenheit liegen. „Wir sind von der Evolution geprägte Wesen“, schreibt der Psychologe Paul Gilbert (Gilbert 2009; dt. 2011, S. 41), und wir könnten hinzufügen: Wir sind von der Evolution geprägte Eltern.
Welche Bedeutung hat die Evolutionstheorie im Hinblick auf die Belastungen, denen wir uns heute als Eltern gegenübersehen? Viele Eltern verurteilen sich wegen ihres vermeintlichen Versagens bei der Erziehung ihrer Kinder oder wegen der Schwierigkeiten, die ihre Kinder haben. Aber aus evolutionsgeschichtlicher Perspektive könnten viele Eigenschaften, die wir heute als hinderlich erleben, genau jene Eigenschaften gewesen sein, die unseren Vorfahren das Überleben ermöglicht haben.
Wie kann Achtsamkeit uns helfen, besser mit Eigenschaften und Verhaltensweisen umzugehen, die in unserer heutigen Umwelt nicht mehr hilfreich sind? Durch die Praxis der Achtsamkeit lernen wir, mit unseren Erfahrungen – positiven wie negativen – gegenwärtig zu sein, sie wahrzunehmen und zu akzeptieren. Wenn wir unsere Reaktionen als Eltern wahrnehmen und als das annehmen, was sie sind, können wir eine freundlichere und mitfühlendere Haltung uns selbst und unseren Kindern gegenüber entwickeln. So paradox es klingt: Je besser wir in der Lage sind, unsere Situation klar zu sehen und zu akzeptieren, desto eher sind wir in der Lage, sie zu verändern.
In diesem Kapitel werden wir uns mit den evolutionären Grundlagen des Elternseins und der damit verbundenen Stressbelastungen sowie mit der Evolution von Bindung, Empathie und Mitgefühl beschäftigen. Wir werden untersuchen, inwiefern diese Perspektive für unsere Erfahrung als Eltern im 21. Jahrhundert bedeutsam ist und wie Achtsamkeit uns helfen kann, weiser mit unseren ererbten Reaktionsweisen umzugehen.
2.2 Die Quellen elterlicher Stressbelastung
Was macht das Elternsein so belastend? Aus evolutionsbiologischer Perspektive gibt es mindestens vier Quellen elterlichen Stresses: die enorme Menge an Ressourcen, die nötig ist, um ein Menschenkind großzuziehen; die Tatsache, dass sich unser heutiges familiäres Umfeld stark von dem Umfeld unterscheidet, in dem sich unsere Vorfahren entwickelt haben; unser ererbtes Affektregulationssystem und unser ererbtes Bindungssystem.
2.2.1 Viele Ressourcen sind nötig, um ein Menschenkind großzuziehen
Erziehung ist mit einem enormen Ressourceneinsatz verbunden. Keine andere Spezies investiert so viel Zeit und Ressourcen in die Aufzucht des Nachwuchses wie der Mensch. Selbst im Vergleich mit unseren engsten Primatenverwandten, den Menschenaffen, die vier bis sieben Jahre lang für ihre Nachkommen sorgen, ist die Last für menschliche Eltern bedeutend größer: 18 Jahre und länger umsorgen und ernähren wir unsere Kinder (die Kosten für ein Studium nicht einmal eingerechnet …) (Hrdy 2009). Trotzdem sehen und würdigen wir die ungeheure Größe dieser Last nur selten. Stattdessen sehen wir uns oft mit idealisierten Bildern des Elternseins, insbesondere des Mutterseins, konfrontiert, was dazu führen kann, dass Eltern, denen es nicht gelingt, diesen unrealistischen Maßstäben zu entsprechen, sich schuldig oder unzulänglich fühlen.
Tatsächlich erfordern Mutter- und Vaterschaft jedoch schon seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte einen ständigen Ausgleich zwischen den Ressourcen, die ein Elternteil braucht, um für sich selbst zu sorgen, und den enormen Ressourcen, die nötig sind, um den Nachwuchs aufzuziehen. Reichen die Ressourcen nicht aus, dann beeinträchtige dies, so betont Sarah Hrdy, auch „mütterliche Instinkte“ wie die Motivation und die Fähigkeit, hingebungsvoll für Kinder zu sorgen. So stellt Hrdy fest, dass die evolutionäre Entwicklung im Hinblick auf Schwangerschaft und Kindeserziehung auf die Sicherstellung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen den zur Kinderaufzucht benötigten Ressourcen und den Ressourcen, die der Mutter selbst zur Verfügung stehen, zielte. Bei unseren Jäger-Sammler-Vorfahren wurde die Zahl der Nachkommen, die eine Frau gebar, durch ein fein austariertes Gleichgewicht zwischen den Umweltbedingungen und der weiblichen Physiologie reguliert. Die erste Regelblutung (Menarche) beispielsweise setzt erst dann ein, wenn der Körper einer Heranwachsenden bestimmte Proportionen aufweist. Im Pleistozän, jener Phase der Erdgeschichte, in der der moderne Mensch sich entwickelte, erreichten nur Mädchen, die in einer Umgebung mit guten Nahrungsgrundlagen heranwuchsen und von ihren Müttern oder anderen Pflegepersonen ernährt wurden, das fortpflanzungsfähige Alter. Diese natürliche Selektion sorgte dafür, dass junge Frauen, die schwanger wurden, ihre Kinder in einem Umfeld zur Welt brachten, das sie bei der Versorgung dieser Kinder unterstützte, d. h. reich an Ressourcen und Betreuungspersonen war. Das Stillen war eine weitere Form der Geburtenkontrolle: Während der in jener Zeit üblicherweise zwei bis vier Jahre dauernden Stillphase hatte eine Frau keinen Eisprung und konnte deshalb in der Regel auch nicht erneut schwanger werden. Dies bewahrte Mütter davor, für zu viele Säuglinge oder Kleinkinder gleichzeitig sorgen zu müssen (Hrdy 1999). Diese natürlichen Einflussfaktoren auf die Zahl der Geburten existieren heute nicht mehr. Ein ausreichender Körperfettanteil als Voraussetzung für die Menarche ist nicht länger gleichbedeutend mit dem Vorhandensein ausreichender Ressourcen für die Aufzucht eines Kindes und die meisten Frauen stillen nicht lange genug, um von dem natürlichen Schutz vor Empfängnis zu profitieren, den das Stillen bietet.
2.2.2 Geteilte Fürsorge: Schon immer brauchten Mütter Hilfe bei der Aufzucht ihrer Kinder
Eine weitere Stressquelle heutiger Eltern resultiert daraus, dass sich die Umgebung, in der wir heute leben, radikal von der Umgebung unserer Jäger-Sammler-Vorfahren unterscheidet, in der sich die menschliche Evolution zu über 90 Prozent abspielte (Konner 2010). Für die längste Zeit unserer evolutionären Geschichte war nicht das Konzept der Kernfamilie – Eltern und Kinder leben für sich unter einem Dach –, sondern das Leben in der Gemeinschaft die Norm. Anthropologen, die heutige Jäger-Sammler-Kulturen in Afrika und Südamerika untersuchten, um so mehr darüber herauszufinden, wie unsere Vorfahren gelebt haben, schlossen aus der systematischen Beobachtung vieler solcher Gesellschaften, dass die Fürsorge für die Nachkommen als „kooperative Aufzucht“ (cooperative breeding) stattgefunden haben muss (Hrdy 2009; Konner 2010). Mit anderen Worten: Mütter erhielten Unterstützung von anderen.
Bei Spezies, die in kooperativer Aufzucht für ihre Jungen sorgen, sind nicht nur die Mütter, sondern auch andere Individuen, sogenannte Allomütter, zu denen Väter, Großeltern, ältere Geschwister und Tanten, aber auch nicht mit der Mutter verwandte Mitglieder der Gemeinschaft gerechnet werden können, in die Kinderbetreuung und -versorgung involviert. Obwohl diese Form der Aufzucht schon für viele andere Spezies von Bienen bis hin zu einigen Hunde- und Primatenspezies beschrieben wurde, haben Evolutionstheoretiker erst vor Kurzem ihre Bedeutung für die menschliche Evolution erkannt. Die Befunde der Evolutionsforschung lassen darauf schließen, dass Mütter während der längsten Zeit der Menschheitsgeschichte bei der Aufzucht ihrer Kinder von vielen anderen Pflegepersonen unterstützt wurden (Hrdy 2009; Konner 2010). Die in der westlichen Kultur gehegte Erwartung, dass sich Mütter exklusiv und ohne Inanspruchnahme anderer Personen um ihre Säuglinge und Kleinkinder zu kümmern hätten, passt einfach nicht zur Geschichte der menschlichen Evolution und Anpassung.
2.2.2.1 Schlussfolgerungen für heutige Eltern
Aus evolutionsgeschichtlicher Perspektive ist die Kernfamilie eher eine Abweichung als eine „naturgegebene“ Regel. Sarah Hrdy zufolge entstand