Traditionelle Chinesische Medizin für Dummies. Jean Pélissier
Das Shen umfasst das Denken, aber auch Wünsche und Emotionen, zwei komplementäre Entitäten, die sich aus den Sinnesorganen ableiten. Die Entwicklung dieses sechsten Sinns kann nur aufgrund spezifischer Übungen der Meditation entstehen. Die Reaktion wiederum ist das Auftreten von Emotionen, die ein integraler Bestandteil des Shen sind. Diese drei Funktionen, Gedanken, Wünsche und Emotionen, sind also die drei Teile des Shen, des Geistes.
Der sechste Sinn
Es gibt fünf Sinne: Hören, Riechen, Tasten, Sehen, Schmecken. Der »sechste Sinn« ist der Intellekt, die intuitive Wahrnehmung.
Das Jing, die Essenz, deckt drei Entitäten ab: Schutz, Ernährung und Ausscheidung. Diese Unterteilung in drei Teile bezeichnet man als die drei Erwärmer, San Jiao, die oberen, mittleren und unteren Erwärmer.
Der obere Erwärmer umfasst das Lungen-Paket, wozu die beiden Lungenflügel, aber auch die Haut gehören. Damit wird der obere Erwärmer als erste Verteidigungsbarriere des Organismus betrachtet. Es ist der schützende Teil des Jing. Er kontrolliert die Aufnahme. Er absorbiert die Energie der Luft durch die Lunge und vermischt sie mit der Energie der Erde, die aus dem Bauch kommt. Sein Kontrollpunkt in der Akupunktur ist 17RM, Dan Zhong, zwischen den Brüsten.
Der mittlere Erwärmer umfasst Milz/Bauchspeicheldrüse, Leber und Gallenblase. Die wichtigste Aufgabe dieses Erwärmers ist die Umwandlung unserer Nahrungsmittel und die Ernährung des Körpers. Er zerkleinert, knetet Nahrung, um die Verdauung zu ermöglichen. Sein Kontrollpunkt ist 25Ma, Tian Shu, auf beiden Seiten des Nabels.
Der untere Erwärmer umfasst im Wesentlichen die Niere und ist unter anderem für die Ausscheidung verantwortlich. Er kontrolliert die Trennung von Flüssigkeiten und Feststoffen. »Er trennt, was klar ist, und was trüb ist« (Nei Jing). Das Wasser gelangt in die Blase, die »Festkörper« in den Dünndarm. Um diesen Erwärmer zu kontrollieren, verwendet man 6RM, Qi Hai.
Das Qi, die Energie, ist der Motor für Synthese, Blut- und Energiekreislauf, Anpassung, Assimilation, Reproduktion und Ausscheidung. Von der Synthese bis zur Ausscheidung gibt es einen generischen Begriff: den Stoffwechsel. Der Stoffwechsel umfasst zwei Konzepte, das der Erneuerung und das der Ausscheidung. Das eine ist ohne das andere nicht möglich. Wir haben gesagt, dass das Qi auch die Anpassung abdeckt, sowohl an die äußere Umgebung als auch an die verschiedenen inneren Zustände. Alle diese Aktivitäten der Synthese, des Kreislaufs, der Assimilation, der Anpassung müssen an spätere Generationen übertragen werden. Die Rolle des Qi, des Zhen Qi, ist genau, das Leben an die nächste Generation weiterzugeben. Zhen Qi, die wahre Energie, ist also auch der Erhalt des Lebens.
Die drei Erwärmer und die Verdauung
Stellen wir uns eine Flamme vor. Es gibt eine Flamme des unteren Erwärmers, das Feuer des Ming Men, die kleine Flamme von »Aladins Wunderlampe«. Diese Flamme erleuchtet den mittleren Erwärmer: Verdauung erfolgt nur bei 38 Grad. Das Problem ist, dass diese Wärme eine Verdampfung verursacht, weil alle Nahrungsmittel feucht sind. Der obere Erwärmer muss entzündet werden, sonst überfluten uns unsere Flüssigkeiten: wenn wir ausatmen, selbst im Sommer, dann feuchte Wärme.
Die Ba Gang oder die »acht Regeln«
Es ist die Klassifizierung der Krankheiten nach ganz bestimmten Kriterien, die dafür sorgt, dass in der chinesischen Medizin keine Störung unverstanden bleibt. Diese Klassifizierung geht sogar noch weiter. Man könnte das Ganze ein wenig mit Mendelejews berühmtem Periodensystem vergleichen, in dem es leere Felder gab und wir wussten, dass früher oder später die Namen neuer Elemente dort erscheinen würden. Analog dazu wissen wir, dass kein Symptom, keine Krankheit für lange Zeit unbekannt bleibt. Sie werden ihren Standort zwangsläufig in einem solcher »Kästchen« finden.
Als Aids auftauchte, so wie viele andere Krankheiten später auch, ermöglichte es die Untersuchung dieser Ba Gang, seinen Ursprung, aber auch und vor allem seine Entwicklung zu erkennen, damit auch Methoden für die Prävention und womöglich auch für die Heilung.
Das Prinzip dieser acht Klassifizierungen ist eine direkte Anwendung der Theorie des Yin-Yang. Dieses Werkzeug gestattet, die Symptome zu unterscheiden, den Puls zu erkennen und Behandlungsmethoden anzuwenden.
Durch die Klassifizierung der Anzeichen und der Symptome kann die Art einer Krankheit bestimmt werden. Wenn wir ein Symptom oder eine Krankheit haben, kann Folgendes der Fall sein:
ein übermäßiges Yin oder ein übermäßiges Yang, das heißt ein Ungleichgewicht von Yin und Yang. Ein Symptom könnte also sowohl Yin als auch Yang sein.
interner oder externer Ursprung (Li oder Biao)
kalter oder warmer Art (Han und Re)
Und schließlich können sie die Konsequenz eines Mangels oder eines Überschusses sein (Xu oder Shi).
Beispielsweise gehen wir bei einem Patienten, der ein Ungleichgewicht der Milzenergie hat, davon aus, dass er schwach und fiebrig ist. Sie werden lernen, dass die Energie der Milz keine Feuchtigkeit mag und dass die Dinge anfangen zu verderben, wenn sich diese Feuchtigkeit in Wärme umwandelt. Dies ist eine der häufigsten Ursachen (Ernährungsungleichgewicht), die sich langsam in eine innere Ursache verwandelt.
Tabelle 3.1: Die Ba Gang oder die acht Regeln
Yin | Yang |
intern, Li | extern, Biao |
kalt, Han | warm, Re |
Schwäche, Xu | Überschuss, Shi |
Kapitel 4
Verbindungen zwischen Mensch und Universum
IN DIESEM KAPITEL
Der Mensch, untrennbar mit der Natur verbunden
Die fünf Elemente, Wu Xing
Die chinesische Medizin, eine ganzheitliche Medizin, setzt seit Langem auf die Theorie der sogenannten »Signaturen«, um zu verstehen, was im Inneren unseres Organismus passiert. Alles, was sich außen von uns befindet, funktioniert wie unser Inneres, und umgekehrt. Wir müssen nur »intuitiv« genug sein, um diese Beziehungen einzurichten. Ein paar Hinweise:
Im Nei Jing steht: »Der Mensch, der Himmel und die Erde sind sich ähnlich.« Der Mensch ist tagsüber aktiv und schläft in der Nacht, so wie die Sonne morgens aufgeht und abends untergeht.
Das Leben des Menschen wird durch die vier Jahreszeiten gesteuert. Er unterliegt dem Einfluss des Frühlings, des Sommers, des Herbstes und des Winters, die sich zyklisch wiederholen.
Im Nei Jing steht: »Der Mensch kann sich den Naturgesetzen nicht entziehen.« Dies ist der Vorgänger unserer modernen Ökologie.
Die fünf Energien des Himmels und der Erde
Die fünf Geschmacksrichtungen, ein generischer Begriff, der für »alle Nahrungsmittel« steht, kommen von der Erde: Der Mensch nimmt sie auf. Die fünf Klimas des Himmels sind die Grundlagen für unsere Lebenskraft. Nach dem Nei Jing gibt es noch ein sechstes Klima, das Feuer, wobei es sich in Wirklichkeit um eine interne Umwandlung der externen Wärme handelt (siehe Kapitel 11).