Die Tränen der Rocky Mountain Eiche. Charles M. Shawin

Die Tränen der Rocky Mountain Eiche - Charles M. Shawin


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      Der Lange grunzte. Sein Gesicht war in der Dunkelheit verborgen, Dave konnte deshalb nicht erkennen, ob Reed ihn auslachte oder ob er ihn ernst nahm.

      „Ich dachte, Mr Blackmore ist tot”, sagte Reed schließlich.

      „Das ist er auch.”

      „Dann versteh ich dich nicht. Einen Toten kann man doch nicht bestehlen. Ein Toter besitzt nichts.”

      Nun grunzte Dave. Wenn man es so betrachtete, hatte er tatsächlich nichts Unrechtes getan. Aber es fiel ihm dennoch schwer, die Sache wie Reed auf die leichte Schulter zu nehmen. „Ich mache mir Vorwürfe. Aber ohne das Gewehr wäre ich jetzt nicht hier.”

      „Dann wärst du noch in St. Louis”, flüsterte Reed nach einer Weile. „Das Gewehr hinge in Blackmores Haus, und nichts wäre anders als jetzt. Du hast wirklich niemandem einen Schaden zugefügt, Dave.”

      Nicht so sehr Reeds Worte, sondern die Tatsache, dass der Lange uneingeschränkt auf seiner Seite stand, tröstete Dave etwas. Zwar dachte er noch manches Mal an sein Vergehen, doch mit der Zeit ebbte

      sein schlechtes Gewissen ab und verblasste schließlich.

      An diesem Abend aber schnitt Reed noch ein anderes Thema an, das Dave mindestens ebenso belastete wie der Diebstahl. Reed rechnete sich nämlich aus, wenn Dave das Gewehr gestohlen hatte, dann hatte er vorher also keines besessen. Und wenn er kein Gewehr besessen hatte, dann war es gut möglich, dass er mit einer Waffe nicht umgehen konnte. Frei heraus fragte er deshalb, aber so leise, dass es nur Dave verstehen sollte: „Du kannst doch schießen?”

      Dave zögerte. Doch dann antwortete er ehrlich: „Ich kann nicht einmal ein Gewehr laden.”

      Long Reed schwieg. Er grunzte nicht einmal. Er zog sich die Decke über den Kopf, und wenig später war von ihm nur noch pfeifendes Schnarchen zu hören.

      Dave blieb noch lange wach. Er fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war, Reed gegenüber zu beichten. Sollte der ihn bei Bell anschwärzen, standen Dave gewaltige Schwierigkeiten bevor. Der Captain verabscheute nichts mehr als Lügen. Für Männer, die mit Haut und Haaren aufeinander angewiesen waren, waren falsche Voraussetzungen so ziemlich das Schlimmste. Es konnte Dave durchaus

      passieren, dass ihn Bell kurzerhand fortjagte. Doch Henry Long Reed hielt dicht.

      Die folgenden Tage, wenn er und Dave nicht mit dem Rudern dran waren, setzten sie sich etwas abseits der anderen zusammen. Sie

      taten dann, als reinigten sie ihre Gewehre oder als unterhielten sich über sonst was. Tatsächlich aber erklärte Reed ihm den Aufbau und die Funktionsweise der Waffe. Dave erfuhr, wozu das Zündhütchen und der Feuerstein waren und wie man aus einem Bleiklumpen mit Hilfe der Kugelzange gleichmäßige Kugeln machte.

      „Das Laden ist das Wichtigste”, sagte Reed. „Nimm nicht zu viel und nicht zu wenig Pulver. Wenn du die Kugel in die flache Hand legst und sie mit Pulver so überhäufst, dass sie gerade nicht mehr zu

      sehen ist, dann hast du die richtige Menge Pulver. Während der Jagd oder eines Kampfes wirst du aber oft keine Zeit finden, das Pulver auf deiner Hand zu messen. Entwickle deshalb so bald wie möglich ein Gefühl dafür. Auch die Durchschlagskraft sagt dir etwas über die richtige Menge. Wenn du die Kugel in den Leib einschlagen hörst, ist das ein sicheres Zeichen für zu wenig Pulver.”

      Danach erklärte ihm Reed, wie das Pulver in den Lauf zu streuen, wie die Kugel einzuführen war und wie man mit dem Ladestock

      beide feststampfte.

      „Aber nicht zu fest, hörst du? Zwei- oder dreimal kurz anstoßen genügt.”

      Die theoretischen Anweisungen, die Dave tagsüber erhielt, setzte er des Nachts, wenn er zur Wache eingeteilt war, in die Tat um. Anfangs war es schwer, im Dunkeln den Feuerstein zu wechseln oder das Gewehr zu laden. Sich nur auf den Tastsinn zu verlassen, war für Dave eine große Umstellung. Und manchmal, wenn er die Finger nicht richtig kontrollierte, entglitt ihm eine Kugel oder das Pulver landete im Gras anstatt im Lauf. Dann fluchte er leise, doch er probierte es immer wieder. So sehr er sich auch ärgerte, mit der Zeit entwickelte er eine geradezu schlafwandlerische Sicherheit. Zumindest, was das Laden und das Instandhalten der Waffe betraf.

      Als ihm Reed schließlich noch erklärte, wie über Kimme und Korn zu zielen war, konnte Dave – theoretisch – schießen. Aber eben nur theoretisch. Die Praxis würde zeigen, wie weit er die Unterweisungen Reeds begriffen hatte. Dave wartete gespannt auf eine Gelegenheit, sein Wissen zu erproben. Niemand hatte von ihrer Schulung Wind bekommen. Dieses Geheimnis verband Dave und Long noch mehr. Sie wurden zu echten Freunden.

      Drei Wochen, nachdem sie von St. Louis aufgebrochen waren,

      sahen sie den ersten Indianer. Die Uferböschung stieg hier sanft an und verwehrte einen weiten Blick. Reed entdeckte den Indianer, der plötzlich auf dem Kamm der Böschung auftauchte, als Erster. Sein schwarzes Haar war lang und ungepflegt. Eine klobige Nase hing ihm schräg über dem schiefen Mund. Die Hässlichkeit seines Gesichts wurde noch betont durch den kurzen, fetten Leib, der in staubigen Leggins und einem schmucklosen dunklen Lederhemd

      steckte. An Waffen trug er nur Pfeil und Bogen. Das Pferd war

      schäbig; die Brustknochen traten deutlich unter dem Fell hervor, dem stellenweise die Haare fehlten. Schweif und Mähne bestanden nur noch aus ein paar Fransen, in die rot gefärbte Taubenfedern gebunden waren. Ohne ein Zeichen zu geben, folgte er den Booten in einer Entfernung von hundert Yards. Ob seine Stammesgenossen in der Nähe waren, ließ sich nicht erkennen.

      Orlando Bell rief ihn mehrmals an, erhielt aber keine Antwort. Entweder verstand ihn der Indianer nicht, oder er wollte ihn nicht verstehen. Auch das mienenlose Gesicht ließ keine Reaktion auf die

      Zurufe erkennen.

      „Wenn er schon stumm ist wie ein Toter”, knurrte Graham Booker, „dann kann ich ihm auch gleich eins aufs Fell brennen.” Er nahm sein Gewehr, das immer geladen war, und legte an.

      „Leg die Büchse hin, verdammter Idiot!”, befahl ihm Bell mit unterdrückter Stimme.

      Booker gehorchte wortlos, aber er hätte liebend gern einen Schuss gewagt. Den Indianer schien das nicht zu stören. Stoisch ritt er neben ihnen her, sah weder nach links noch nach rechts. Manchmal schien es, als schlafe er beim Reiten. „Ist das ein Mandane?”, fragte Reed.

      „Keine Ahnung”, sagte der Captain ruhig. „Das ist das Land der Mandanen. Er kann aber auch einem anderen Stamm angehören.”

      „Was hat er vor?”

      Bell zuckte die Schulter. „Weiß der Teufel.”

      Ohne ersichtlichen Grund folgte ihnen der Indianer. Er kam aber nie näher als hundert Yards an den Fluss heran.

      Für Dave war es der erste freie Indianer, den er zu Gesicht bekam. Die Caddos in ihren armseligen Behausungen vor St. Louis und der alte Medizinmann, der mehr oder weniger nur noch im Saloon

      lebte, hatten in ihm ein verzerrtes Bild der Indianer entstehen lassen. Er ahnte wohl, dass dieses Bild nicht den Stämmen der Plains entsprach. Durch Reverend Gardner, der die wilden Indianer wie leibhaftige Teufel von der Kanzel aus verschrien hatte, aber auch durch die Frontier News, die fast regelmäßig von schrecklichen Überfällen auf friedliche Siedler berichtet hatte, war in Dave die Vorstellung gewachsen, der frei lebende Indianer sei groß und stark wie ein Bär, furchteinflößend wie ein zähnefletschender Wolf, voller Tatendrang und ständig unterwegs, um im tollkühnen Angriff wehrlose Menschen niederzumetzeln. Andere Berichte zeichneten ihn als einen stolzen, erhabenen Ritter der Prärie, der auf edlem Ross und mit wehendem Haar über die Ebene galoppierte.

      Als Dave nun den seltsamen Begleiter betrachtete, wusste er, dass alles, was er über Indianer gelesen und gehört hatte, falsch war. Diese unscheinbare, unförmige Erscheinung auf dem dürren Gaul war weder stolz und erhaben zu nennen, noch schien sie tollkühn zu sein.

      Dave tat es deshalb wie die anderen Männer auf den Booten: Sie beachteten den Indianer einfach nicht mehr. Mit kräftigen Armbewegungen


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