Die Tränen der Rocky Mountain Eiche. Charles M. Shawin
einen Mann mochte Dave von Anfang an nicht. Das war der Virginier Graham Booker. Er tat seine Arbeit wie jeder andere, versuchte nicht, sich vor etwas zu drücken, und fiel auch nicht
lästernd über irgendjemanden her. Träfe nur einer dieser Punkte zu, wäre er sowieso untauglich für eine Gemeinschaft wie diese gewesen. Bell hätte ihn dann erst gar nicht angenommen. Nein, es war etwas anderes, das Dave an ihm störte. Was genau und warum das so war, wusste er nicht. Es war mehr ein Gefühl, eine Ahnung.
So wie Dave die Männer näher kennenlernte, so lernten sie auch ihn kennen. Schon sehr bald wurde er als gleichwertiges Mitglied aufgenommen. Niemand versuchte, ihn herumzukommandieren oder ihm mit Sticheleien das Leben unnötig schwerzumachen, wie es bei Neuen hin und wieder gehandhabt wird.
Henry Long Reed wies Dave freundschaftlich in seine Aufgaben ein. Ihm war kein besonderer Posten zugedacht, er war einer von ihnen und hatte die gleichen Arbeiten zu erledigen wie alle. Während des Tages bestand ihre Tätigkeit hauptsächlich aus Rudern; des Nachts richtete man gemeinsam das Lager, sammelte Holz, falls welches zur Verfügung stan;, wenn nicht, suchte man in der Prärie nach trockenem Bisondung. Nur beim Kochen und beim Wacheschieben wechselte man sich ab.
Captain Orlando Bell, das riesige Halbblut, teilte die Männer ein. Mit eiserner Härte sorgt er für Disziplin. Aber er war stets bemüht,
gerecht zu sein. Auch gab es selten Grund, dass er seine Führungsstellung hätte lautstark durchsetzen müssen.
An diesem ersten Tag ihrer Reise legten sie eine Strecke von fünfzehn Meilen zurück. Der Fluss war ruhig gewesen und hatte ihnen keine Schwierigkeiten bereitet. Am Abend saßen sie am Feuer und brieten sich Fische, die Reed während der Fahrt geangelt hatte. Sich nebenbei mit Frischkost zu versorgen, war durchaus üblich. So wurde der Proviant geschont und diente als Reserve für Notlagen, in denen es ihnen nicht möglich war, Wild oder Fische zu erbeuten.
Nach dem Essen fand sich Gelegenheit zu plaudern. Den Tag über hielt sie die anstrengende Arbeit in Atem, doch jetzt wurde erzählt und gelacht. Dave kam nicht dazu, über sein Weggehen nachzudenken, denn schon bald übermannte ihn der Schlaf. Er kuschelte sich in seine Decke und war wenige Minuten später eingeschlafen.
Der Tagesverlauf änderte sich so wenig wie die Landschaft. Die Prärie präsentierte lange Zeit das gleiche Bild: eine weite, offene Fläche, auf der jetzt – Anfang April – das Gras zu sprießen begann. Oft unterbrach nur eine Schar Krähen diese Monotonie, die schimpfend über sie hinweg flog, oder eine Herde Mustangs, die aufgeschreckt davongaloppierte und in die Weite des Landes entkam. Dafür zeigte sich der Missouri, den die Otoes zu Recht „den Großen Schlammigen” nannten, in abwechslungsreicher Vielfalt. Mal war sein Wasser ruhig, dann wieder wild und unberechenbar; jetzt war er über eine Meile breit und eine Stunde später zwängte er sich durch eine
wenige hundert Yards enge Schleuse, die steil aufragte und dessen Felsformation in den herrlichsten Schattierungen von Ocker über Zinnober bis zu hellem Blau in der Sonne leuchtete.
Am 4. April, dem zweiten Tag ihrer Reise, war Daves neunzehnter Geburtstag. Zum ersten Mal dachte er an daheim. Seine Mutter – jung und schön lächelte sie ihn an –, Mr und Mrs Blackmore und Cuthbert erschienen ihm in Gedanken. Er dachte auch an Miriam, seine erste Liebe, und an Clarissa Upton, jene Frau, die er begehrt und verteufelt hatte. Viele Menschen aus St. Louis, Orte und Begebenheiten drängten sich in seine Erinnerung. Doch er vermisste niemanden und nichts. Nur der Diebstahl des Gewehrs belastete ihn manchmal. Dass er heute Geburtstag hatte, verschwieg Dave.
Am nächsten Tag kam kräftiger Wind auf. Bell ließ Segel setzen, und am Abend hatten sie fünfunddreißig Meilen zurückgelegt. Das war mehr als das Doppelte, was sie nur mit Rudern geschafft hätten.
Jeder Tag, jede Meile brachte sie weiter westwärts. Jenem Land entgegen, in dem Dave die Freiheit zu finden hoffte.
Doch der Wind hielt nicht lange an. Wieder waren sie auf ihre Muskelkraft angewiesen. Die Schwielen an den Händen, die Dave die ersten Tage bekommen hatte und die ihm Reed mit Fett einrieb, waren zu fester Hornhaut verwachsen, die wie hartes Leder schützte. Glaubte Dave nun, die anstrengendste Tätigkeit leicht schaffen zu können, nachdem sich Muskeln und Hände dem Rudern angepasst hatten, so lernte er schon bald eine weitere Art kennen, die Boote fortzubewegen.
Ohne einen für Dave ersichtlichen Grund ließ Captain Bell am Ufer anlegen, das hier nur wenige Zoll höher als der Wasserspiegel war. Noch vor wenigen Wochen, als die Schneeschmelze die Flüsse gespeist hatte, musste das Land ringsum weitläufig überschwemmt gewesen sein. Noch immer war es feucht und nährte hohes, saftiges Gras. Eine Vielzahl von Vögeln lebte hier, und Myriaden von
Mücken summten in der Luft.
Der Grund, weshalb Bell hatte anlegen lassen, befand sich direkt vor ihnen. Für das ungeübte Auge unsichtbar, lauerte in dem schmutzig-gelben Fluss nur drei Fuß unter der Oberfläche eine Sandbank von mehreren Meilen Länge. Bell kannte diese und andere Hindernisse von seinen zahlreichen Reisen. Er brauchte nicht erst nachzumessen, um genau zu wissen, dass die beladenen Boote zu tief lagen. Sie
trugen deshalb die Fracht ans Ufer. Von dort marschierten sie los, jeder über einen Stirnriemen ein oder zwei Säcke tragend. Captain Bell, ein Hüne und Auswuchs an Kraft, schleppte zwei große Bündel, die zusammen an die zweihundertvierzig Pfund wogen. Dave schaffte immerhin zweihundert Pfund; und damit mehr als die meisten, was aber das Halbblut leistete, verlangte ihm den größten
Respekt ab.
Nach einer halben Meile legten sie ihre Last ab, liefen zurück und holten den nächsten Teil, bis die gesamte Fracht geholt war. Nach einer kurzen Pause gingen sie an die nächste halbe Meile. Etappe um Etappe schleppten sie die Fracht weiter. Nach der zweiten Meile fing das Land an, sumpfig zu werden. Die Männer sanken unter dem Gewicht auf ihren Rücken bis über die Knie in den Schlamm. Die Mücken quälten sie obendrein. Es war eine einzige Tortur, die sogar erfahrenen Männern wie Bell und Reed hart an die Grenze des Erträglichen ging. Graham Booker schlug wie wild nach den stechenden Quälgeistern und fluchte erbärmlich, was aber nur zur Folge hatte, dass sie ihn noch heftiger heimsuchten. Am Abend war sein Gesicht voller Pusteln und geschwollen. Die anderen sahen nicht hübscher aus.
Insgesamt dreieinhalb Meilen schleppten sie die Fracht. Dort wurde das Wasser wieder tiefer. Da es nun zu dunkel war, um die Boote zu holen, richteten sie sich ihr Lager. Schlafen aber konnte vorerst niemand, denn die Mücken folterten sie weiter. Schließlich vertrieb sie die Nachtkälte, und den Männern blieben fünf Stunden Ruhe. Schon vor Sonnenaufgang weckte sie Bell.
Sie treidelten die Boote. Während Durak, der Leichteste von ihnen, am Bug stand und mit dem Staken das Boot vom Ufer fern hielt,
zogen es die anderen mit einem langen Seil flussaufwärts. Ohne Fracht war der Tiefgang nicht nennenswert, das Boot glitt ohne Schwierigkeiten über die Sandbank hinweg.
Wieder mussten sie durch den Sumpf, und wieder kamen mit der Wärme die Mücken. Einen vollen Tag benötigten sie, um die zwei Boote in tiefes Wasser zu bringen.
Am dritten Tag um die Mittagszeit, als die Fracht an Bord war und sich die Boote langsam wieder in Bewegung setzten, sahen sie alle aus wie in Schlamm gebadet, obendrein waren ihre Hände und Gesichter feuerrot und juckten teuflisch.
Auch wenn diese Strapaze – Bell wusste, es warteten noch mehr solche Hindernisse auf sie – die Männer bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit geführt hatte, so war es doch für Tage die einzige Abwechslung gewesen. Auch die Prärie entschädigte sie nicht. Sie entfaltete jetzt ihre volle Schönheit, das Gras war saftig, Blumen blühten in tausenderlei Farben, Sträucher und einzelne Bäume zierten sie wie Tupfer auf einem herrlichen Teppich. Fast ständig war der Himmel sonnig. Der Duft von herb-süßem Salbei erfüllte das Land. Und nur die Stimmen des Präriehundes, das Zirpen der Grillen und manchmal der einsame Schrei eines Falken unterbrachen das ein-
tönige Klatschen der Ruder.
Henry Long Reed bemerkte bald, dass Dave etwas bedrückte. Eines Nachts, als sie sich in ihre Decken rollten, sprach er Dave darauf an.
„Ich hab gestohlen”, flüsterte Dave. Die anderen