Die Tränen der Rocky Mountain Eiche. Charles M. Shawin

Die Tränen der Rocky Mountain Eiche - Charles M. Shawin


Скачать книгу
an ihn, wie sich ein Kind an den Vater klammerte. Und tatsächlich schienen ihm die Stunden im Saloon sein Leid vergessen zu lassen. Doch es war ein Teufelszeug, von dem er Hilfe erhoffte, und auf Dauer musste er daran zugrunde gehen. So oder so.

      Anfang März wurde ihm der Whiskey zum Henker. Es war später Nachmittag, als er betrunken nach Hause torkelte. Die Menschen, die ihm begegneten, erkannten ihn nicht oder wollten ihn nicht mehr erkennen. Selbst Clara Gardner, die auf dem Weg zum Bibelkreis war, grüßte nur flüchtig. Erst als Blackmore sich an ihrem Mantel festklammerte, weil er jemanden brauchte, mit dem er sich unterhalten konnte, blieb sie stehen. In ihren Augen, die ihn stumm anstierten, erkannte Blackmore nur Mitleid. Nichts weiter als Mitleid mit einem armen Teufel. Er stieß sie weg und ließ sie gehen.

      Seit Wochen hatte es nicht mehr geschneit. Bräunlicher Matsch lag auf der Straße; milder Wind wehte vom Osten und trieb leichten Graupel vor sich her. Es war ungemütlich draußen, und die einbrechende Dunkelheit ließ die Stadt trostlos wirken.

      Als er dann in seinem Hof stand, schwankend wie eine vom Wind gebeutelte Eiche, war er allein. Blackmore fand, dass auch sein Haus trostlos wirkte. Der Stall, der Fuhrwagen, die Werkstatt waren nutzlos geworden, wie er selbst nutzlos geworden war. Sie entbehrten jeder Aufgabe, jeden Sinns.

      Schwankend hob er sein Haupt, starrte geradewegs hinauf in den wolkenverhangenen Himmel und schickte einen Fluch dorthin, wo er die Ursache seines Übels zu wissen glaubte. Der Graupel schmolz auf seinem erhitzten Gesicht; es schien, als weine er.

      Als er seinen Kopf nun wieder senkte, streifte sein Blick das Hausdach, auf dem er zwei lose Bretter bemerkte. Er seufzte tief. Dann richtete sich sein beleibter Körper auf, als fahre neue Kraft in ihn. Seine Augen leuchteten, als er jetzt lallend in die Dunkelheit rief: „Ich bin noch immer Hastings Blackmore, der beste Zimmermann, den St. Louis je sah!”

      Flache Mulden in den Matsch stampfend, lief er hinüber zur Werkstatt, suchte einen Hammer und Nägel und holte aus dem Stall die Leiter. Als er sie an das Dach lehnte und seine knorpeligen Finger die Sprossen umklammerten, fuhr ihm ein stechender Schmerz in die Glieder. Er biss sich auf die Lippen und knurrte verzweifelt.

      „Du besiegst mich nicht!”, schrie er wieder in den Himmel. „Du kannst mich quälen, aber du besiegst mich nicht!”

      Der Alkohol half, die Schmerzen zu ertragen. Sprosse um Sprosse kämpfte er sich die Leiter bis zur Traufe hinauf. Keuchend sah er in die Tiefe. Er hatte es geschafft. Trotz des Rheumas, trotz der Schmerzen hatte er es geschafft. Und er hatte sich bewiesen: Er war noch längst nicht nutzlos. Ein heroisches, selbstherrliches Gefühl erfüllte ihn. Er lachte wie im Wahn.

      Mit dem Ärmel wischte er den nassen Schnee von den losen Brettern, die wie gebogene Weidenruten emporstanden. Nun konnte er sie festnageln. Er holte den Hammer aus der Tasche, seine geschwollenen Finger schlangen sich vor Schmerzen zitternd um den Stiel, beugte sich hinüber zu den Brettern, wollte mit der anderen Hand einen Nagel ansetzen, als die Leiter unter seinen Füßen wegrutschte. Er stürzte fünf Yard tief. Hart schlug sein Körper auf. Wie ein verkrüppeltes Gebilde, ungelenk wie seine rheumatischen Finger, lag der Leib im hässlich-braunen Matsch, als wolle Gott ihn symbolisch für seine ungläubige Lästerei strafen. Mr Hastings Blackmore, der beste Zimmermann der Stadt, war tot.

      Dave wusste von dem Drama nichts. Er war mit der Scheune gut

      vorangekommen und musterte sein Werk: Der Boden war gelegt, und drei Seiten der Wände waren mit Braunkohlenteer bestrichenen Brettern beschlagen. Er hatte sich von Upton eine Öllampe geliehen, die er bei anbrechender Dämmerung anzündete, um so bis spät in die Nacht arbeiten zu können. Noch zwei, drei Tage für die Scheune, rechnete er sich aus, dann noch insgesamt eine Woche für den Stall und die Schmiede, an denen nur Kleinigkeiten zu erledigen waren. Anschließend würde er wieder frei sein. Uptons Auftrag wäre erfüllt, eine Strafe also nicht fällig, und Dave könnte sich wieder neuen Arbeiten zuwenden, die Geld einbrachten.

      Phil Lapteek fand Dave an jenem 4. März 1831 in Uptons Scheune beim Aufräumen des Werkzeugs, als er ihm die Nachricht von

      Hastings Blackmores Tod brachte. Lapteek selbst hatte den Zimmermann zufällig entdeckt und sofort Doktor Finn gerufen, der aber nur noch den Tod hatte feststellen können.

      Dave wollte zuerst nicht glauben, was ihm da gesagt wurde. Doch Lapteek war nicht der Mann, der üble Scherze machte; so rannte er hinaus in die Graupelnacht, lief durch die Stadt, bis er völlig außer Atem vor Blackmores Haus ankam.

      Mr Blackmore, der väterliche Freund, lag noch immer da, wie er gestorben war: die Glieder grotesk verkrümmt, das Gesicht im schmutzigen Matsch. Dave erschauderte.

      Nur allmählich begriff er, dass er nun vollkommen allein war. Vor sieben Jahren war seine Mutter gestorben, er hatte sich sehr einsam gefühlt damals, doch es war immer noch Hastings Blackmore dagewesen. Zu ihm hatte er sich hingezogen gefühlt wie zu einem Vater. Und nun war auch er tot.

      War der plötzliche Tod an und für sich schon schmerzhaft für Dave, so sank er in tiefe Betrübnis, weil er Mr Blackmore nicht einmal eine anständige Beerdigung bezahlen konnte. In einer schmucklosen Holzkiste ließ man den Leichnam in ein achtlos ausgehobenes Loch. Einst hatte der Zimmermann zu den reichsten Bürgern von St. Louis gezählt, die meisten kannten und achteten ihn, doch an jenem nass-kalten Tag fanden sich nur eine Handvoll Trauergäste. Sogar Mrs Clara Gardner fehlte. Und Cuthbert.

      Bis zuletzt hatte Mr Blackmore gehofft, seinen Sohn wiederzusehen. Sein Warten war vergebens gewesen. Jetzt war es zu spät. Dave fragte sich, ob Cuthbert je vom Tod seines Vaters erfahren würde. Und wenn ja, wie er es aufnehmen würde. Würde er im Nachhinein vielleicht seine Schandtat bereuen?

      Daves Trauer war ehrlich und tief, dennoch wuchs mit der Zeit eine noch nie empfundene Zuversicht heran. Mit einem Mal begriff er: Er war frei. Nichts band ihn mehr an diese Stadt, die ihn verurteilt und ausgestoßen hatte.

      Eine merkwürdige Beobachtung änderte Daves Leben. Ohne es zu wollen, wurde er Zeuge einer Szene zwischen Orlando Bell und den beiden Kreolen. Sie standen vor Uptons Scheune und unterhielten sich so laut, dass es Dave, der im Inneren der Scheune arbeitete, zwangsläufig mitbekommen musste. Die Kreolen weigerten sich plötzlich, an der Fahrt teilzunehmen. Den Captain erzürnte nicht nur, dass sie ihren Rücktritt so kurzfristig bekanntgaben; vor allem geriet er in Zorn, weil er die beiden Männer sehr schätzte und ihre Erfahrung und ihr Wissen eine klaffende Lücke in der Mannschaft zurückließen. Auf die Schnelle gleichwertigen Ersatz zu finden, war so gut wie unmöglich.

      „Ihr habt es mir versprochen!”, brüllte der Captain. Doch am Entschluss der Kreolen war nicht zu rütteln. Dave konnte ihre Gesichter nicht sehen, aber ihren Stimmen nach zu urteilen, war es ihnen sehr ernst. Sie hatten gestern eine Taube geschlachtet, um aus ihrem Blut ihr Schicksal zu deuten.

      „Tot”, sagte der eine Kreole.

      „Alle tot”, ergänzte der andere.

      „Wer ist tot?”, fragte merklich erschrocken Orlando Bell, der riesenhafte Captain.

      „Alle tot. Ganze Mannschaft.”

      „Am Yellowstone lauert der Tod.”

      Eine Weile blieb es draußen vor der Scheune still. Dann schien sich Bell gefasst zu haben.

      „Aberglaube”, behauptete er mit sicherer Stimme. „Nichts als Firlefanz. Ihr könnt mich jetzt nicht im Stich lassen.”

      Sie konnten. Die beiden Kreolen ließen sich auf keine weitere Debatte ein. Sie hatten gesagt, was sie vorausgesehen hatten, mehr sagten sie nicht mehr. Sie schwiegen einfach. Zwei Minuten später gingen sie weg.

      Ungewollt war Dave Zeuge geworden. Er war nie abergläubisch gewesen, und dass vom Tod gesprochen worden war, verdrängte er schlichtweg. Vielleicht auch deshalb, weil sich etwas anderes in sein Bewusstsein drängte und ihn von Stunde zu Stunde mehr einnahm. Ohne die Kreolen fehlten dem Captain zwei Männer. Er würde

      Ersatz suchen müssen. Mit einem Mal öffnete sich Dave unvermutet eine Tür. Jetzt war seine Chance gekommen. Er musste nur durch


Скачать книгу