Die Tränen der Rocky Mountain Eiche. Charles M. Shawin

Die Tränen der Rocky Mountain Eiche - Charles M. Shawin


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folgte der nüchterne Arbeitsrhythmus.

      Langsam wurde der Indianer zu einem Bestandteil der Umgebung. Wie ein Baum oder ein Strauch, nur dass er sich bewegte. Stur hielt er sich auf gleicher Höhe mit den Booten. Zwei Stunden vergingen, drei Stunden. Doch auf einmal schien ihn der Eskortierposten zu langweilen. Er riss sein Pferd hart am Zügel und galoppierte im nächsten Moment davon. Das Ufer war hier wieder flach, und sie sahen ihn in einer Geschwindigkeit über die Prärie dahinjagen, die sie dem

      schäbigen Gaul nicht zugetraut hatten. Nur eine Minute später war von dem seltsamen Indianer nur noch eine Staubwolke in der Ferne zu sehen.

      Dave und die anderen verschwendeten keinen Gedanken an den zeitweiligen Weggesellen. Doch als die Nacht kam, erinnerten sie sich wieder an ihn. Vorsichtshalber ließ Captain Bell die Wachen verdoppeln, da noch immer nicht sicher war, welchem Stamm der Indianer angehörte. Aber nur ein alter Wolf, der einsam umherstreifte, näherte sich dem Lager, ansonsten blieb es ruhig.

      Am Morgen entdeckten sie südlich von sich eine Herde Gabelböcke. Sie waren aber zu weit entfernt, um auf sie zu schießen. Booker wollte unbedingt an Land, um eines dieser graziösen Tiere zu erlegen. Doch Bell verweigerte es ihm. „Die lassen dich auf keine halbe Meile heran”, sagte er.

      Booker sah ein, dass es ohne Pferd sinnlos war, auf Gabelböcke Jagd zu machen. Da es aber ganz angenehm und auch üblich war, das Trockenfleisch, den enthülsten Mais und die konservierten Früchte ihres Proviants ab und zu durch Frischfleisch zu ergänzen – Reeds Fische hingen ihnen auch langsam zum Hals heraus –, so vertröstete ihn Bell auf ein anderes Mal, wenn die Gelegenheit günstiger war.

      Booker, der vor Übermut fast zerplatzte, konnte sich einen Schabernack dennoch nicht verwehren. Er hielt seine doppelläufige Büchse in die Höhe und schoss zweimal. Die Gabelböcke hoben daraufhin erschrocken ihre Köpfe, in der nächsten Sekunde flüchteten sie in wilder Panik. Sie boten ein herrliches Bild. Ihre eleganten Körper schnellten mit unglaublicher Kraft und in majestätischen Bewegungen dahin. Dave hätte ihnen gern noch lange zugesehen, doch auch die Herde verschwand wie zuvor der Indianer in einer Staubwolke.

      Zwei Stunden später verschwand auch die offene Prärie vor ihren Augen. Die Ufer ragten hier fünfzig Fuß empor. Bell stand nun

      dauernd im vorderen Boot am Bug und suchte die Böschungen ab.

      Unwillkürlich langte Dave nach seinem Gewehr, das immer griffbereit in der Nähe lag.

      „Es ist besser, du rührst es nicht an”, warnte der Lange. „Die Mandanen könnten deine Geste sonst missverstehen.”

      Auf den Booten war es plötzlich ruhig. Nur die Ruder waren zu hören, die sanft in das Wasser tauchten. Alle außer Dave kannten diese Gegend und wussten, dass das Dorf der Mandanen nicht weit entfernt war. Sie kannten sie als gastfreundliche und friedliche Menschen, dennoch war Vorsicht geboten. Irgendein Zwischenfall hätte das Dorf seit dem letzten Jahr feindlich stimmen können. Bell redete sich zwar ein, dennoch als Freund wiedererkannt und willkommen geheißen zu werden; sicher war er sich aber nicht.

      Endlich löste Bell die Spannung, indem er stumm vor sich hin deutete. Am westlichen Ufer waren zwei Gestalten auszumachen. Beim Näherkommen waren sie als Frauen zu erkennen, die nach Wurzeln gruben. Auch sie nahmen jetzt die Boote wahr, und als sie Bell am Bug wiedererkannten, winkten sie und kamen lachend näher. Nun gab es keine Zweifel mehr – die Mandanen waren ihnen noch immer wohlgesonnen. Booker feuerte deshalb zwei Salutschüsse ab, worauf schon bald mehrere Indianer am Kamm der Böschung erschienen, zuerst neugierig hinunter zum Fluss blickten und dann mit einem lauten Ruf die Weißen willkommen hießen oder einfach nur zur Begrüßung die flache Hand hoben.

      Der Missouri beschrieb jetzt eine scharfe westliche Kurve und

      bildete somit einen rechten Winkel. Noch eine halbe Stunde ruderten sie, dann ließ Bell an einer flachen Stelle anlegen. Sie stiegen an Land und waren sofort umringt von Indianern, hauptsächlich von lebhaften Kindern, für die die Ankunft der Weißen ein besonderes Ereignis war. Bell ließ die Boote festbinden, schulterte ein kleines Leinensäckchen, das er aus der Frachtbox geholt hatte, und wurde dann mit den anderen von den schreienden Kindern hinauf ins Dorf begleitet. Ihre Gewehre nahmen sie mit, während der Proviant und die restliche Fracht zurückgelassen wurden. Dave wunderte sich deswegen, erinnerte er sich doch, dass Mr Blackmore und Reverend Gardner sämtliche Indianer als Strauchdiebe beschimpft hatten. Entweder hatte Bell vollstes Vertrauen zu diesen Indianern und strafte Blackmore und Gardner somit der Lüge, oder er war sehr arglos und dumm, was aber wiederum gar nicht zu dem verantwortungsbewussten Captain passte.

      Das Dorf war genau in den Knick des Missouri gebaut, der es von zwei Seiten schützte. An der Ost- und Westseite umzäunte es eine mannshohe Palisade aus starken Hölzern, in der schmale Ritzen geblieben waren, wodurch sie Pfeile oder Kugeln auf Angreifer abschießen konnten. Zwei Öffnungen gab es, durch sie konnte ein

      Reiter bequem passieren, die im Falle eines Angriffs aber schnell verbarrikadiert werden konnten.

      Das Dorf selbst führte Dave in eine fremde Welt. Eine Welt, wie er sie sich nie hätte vorstellen können, die eigenartig und faszinierend war. Eine große Anzahl kuppelförmiger Häuser gruppierte sich ohne bestimmte Ordnung um einen freien Platz. Auf diesem waren mehrere Pfähle in den Boden gerammt; an ihnen hingen Skalps. Die Häuser sahen aus wie große Bienenstöcke und waren vollkommen mit Erde bedeckt. Dave konnte keine Fenster entdecken, ins Innere führte nur jeweils eine Öffnung, die mit Stoff oder Leder verhangen war. Auf den Dächern, die sehr stabil zu sein schienen, standen oft Gruppen von Kindern oder es lagerten ausgebleichte Büffelschädel auf ihnen.

      Jetzt, kurz nach der Ankunft der Weißen, herrschte reges Treiben im Dorf. Viele kamen persönlich, um die Ankömmlinge zu begrüßen, etliche aber begnügten sich damit, aus der Entfernung einen Blick auf die Trapper zu werfen. Allen jedoch war die ehrliche Wiedersehensfreude anzumerken. Dave hatte noch nie ein so freundliches Volk gesehen, das so gerne und so herzhaft lachte. Unter das

      Stimmengewirr, das in unbekannten Lauten auf ihn einströmte, mischte sich das Kläffen der zahlreichen Hunde.

      Dave schätzte die Zahl der Mandanen auf etwa achtzehnhundert bis zweitausend. Sie waren von mittelgroßer Gestalt, die meisten von

      ihnen schön und anmutig. Die Männer trugen Leggins und Hemden aus hellem Leder, das mit Farbe oder Fransen verziert war. Ihre Haare

      waren lang und glänzten vom Fett, nur selten schmückte es eine Adlerfeder. Viele trugen zusätzlich eine Büffelrobe über der Schulter. Die Kleider der Frauen waren ebenfalls aus hellem Leder gefertigt, und obwohl Dave wahre Schönheiten unter ihnen bemerkte, schien es ihm, als legten sie weniger als ihre Männer Wert auf Eitelkeit und beschränkten sich auf schlichte Zweckmäßigkeit.

      Zu seinem großen Erstaunen entdeckte Dave Männer sowie Frauen, die nackt waren und nur einen schmalen Lendenschurz um die Hüfte gebunden hatten. Anscheinend kannten die Mandanen in dieser Hinsicht keine Tabus.

      „Du kannst eine haben”, flüsterte ihm Long zu und stieß ihn neckisch in die Seite.

      Dave sah Long verblüfft und gleichzeitig erschrocken an.

      „Vergiss die Zivilisation!”, erklärte der Lange mit breitem Grinsen. „Vergiss, was dir die Kirche und sonstwer an Geboten, Verboten, Vorschriften und Gesetzen in dein Hirn gehämmert hat! Vergiss

      alles! Hier in der Wildnis gelten diese Regeln nicht. Wenn dir einer der Indianer seine Frau anbietet, dann pack die Gelegenheit beim Schopf. Du tust niemandem weh damit. Die Mandanen sehen vieles anders als wir. Je eher du ihre Lebensauffassung durchschaust, desto eher findest du dich hier zurecht.”

      Dieser krasse Gegensatz zu seiner gewohnten Umgebung verwirrte Dave zutiefst. Noch vor drei Wochen hatte er unter Menschen gelebt, die sich gegenseitig jeden Schritt, jeden Atemzug vorschrieben und mit fast schon akribischer Zwanghaftigkeit gegen ein Vergehen vorgingen. Jeder war der Richter des anderen. Diese erdrückende Enge war es schließlich gewesen, die ihn veranlasst hatte, sich den

      Trappern anzuschließen. Und jetzt traf er auf Menschen, denen jegliche Vorschriften fremd waren.


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