Die Katholizität der Kirche. Dominik Schultheis
in der Einheit bestimmt, die durch die Communio der Teilkirchen mit ihrer je eigenen kirchlichen Wirklichkeit zustande kommt. Der andere Pol zeigt sich in der Verschiedenheit in der Einheit, die das Volk Gottes schon in sich trägt, nämlich in seiner Struktur nach innen bestehend aus Ämtern, Ständen und Lebensordnungen. Durch diesen zweiten Pol soll verdeutlicht werden, „dass in dem einen Volk Gottes [selbst schon] Raum ist für alle Berufungen und Lebensweisen, welchen den Einzelnen zur Entfaltung kommen lassen und doch dem Ganzen dienen. […] Dieses Zusammenspiel der Ordnungen ist […] die rechte Garantie dafür, dass der Geist des Dienens und der Communio alle Teilkirchen, genommen unter sich und in ihrer Beziehung zur Gesamtkirche, erfasst.“419
Die intensive Katholizität der Kirche gründet in einer grundlegenden Gemeinsamkeit (Brüderlichkeit, „communio“, allgemeines Priestertum) aller Glaubenden. Vor aller Differenz der Gläubigen, was Charismen, Dienste und Ämter anbetrifft sowie vor aller hierarchischen und ständischen Strukturierung der Kirche betont der Volk-Gottes-Begriff die grundsätzliche Gleichheit aller im Volk Gottes, „eine wahre Gleichheit in der allen Gläubigen gemeinsamen Würde und Tätigkeit zum Aufbau des Leibes Christi.“ (LG 32) und wehrt von vornherein dem Missverständnis, unter „dem Volk“ seien lediglich die Laien, d.h. die „nichtgeweihten Gläubigen“ zu verstehen.
Die extensive Katholizität ermöglicht, wie die Artikel 14–16 ausführen, eine gestufte oder relationale Kirchenzugehörigkeit. Diese Thematik war umso brisanter, als dass im Anschluss an die Enzyklika „Mystici Corporis“ Papst Pius XII. die Kirchengliedschaft an drei Voraussetzungen geknüpft war, nämlich an die Taufe, an den rechten Glauben sowie an die Zugehörigkeit zur rechtlichen Einheit der Kirche; damit aber waren die Nichtkatholiken von der Kirchengliedschaft gänzlich ausgeschlossen. Das bis dato vorherrschende Bild von der Kirche als „Leib Christi“ erwies sich – vor allem im ökumenischen und interreligiösen Dialog – als zu eng, ermöglicht es doch mit Blick auf die Zugehörigkeit zum „Leib“ lediglich die Vorstellung des „Gliedes“: Glied ist man oder man ist es nicht. Die Rede vom „Volk Gottes“ sollte diese Engführung weiten und eine neue Verhältnisbestimmung sowohl der nichtkatholischen Christen als auch der Nichtchristen zur katholischen Kirche ermöglichen. So kann gesagt werden, „dass der Begriff ‚Volk Gottes’ vom Konzil vor allem als ökumenische Brücke eingeführt worden ist“420, was auch in anderer Hinsicht gilt, verhindert die Bezeichnung der Kirche als „Volk Gottes“ doch eine absolute Selbstidentifizierung der katholischen Kirche mit der wahren Kirche Jesu Christi, die – vor allem seitens der Protestanten – in die Selbstbezeichnung als „Leib Christi“ hineininterpretiert wurde. Der Volk-Gottes Begriff lässt deutlich werden, dass die Kirche bei aller substantiellen Identität mit der wahren Kirche Jesu Christi nicht absolut mit ihr identisch ist, sondern eine von ihr verschiedene Größe bleibt: Sie ist „ecclesia semper reformanda“, eine pilgernde, d.h. auf dem Weg seiende Kirche, eine „Kirche der Sünder, die immer wieder der Reinigung und der Erneuerung bedarf, immer wieder Kirche werden muss.“421 Als pilgerndes Volk Gottes sieht sich die Kirche „sowohl in die Tradition des Exodus Israels […] als auch in die Solidarität Gottes mit den Armen u[…][nd] Leidenden dieser Welt gestellt“422 (LG 8 und 9).
LG 17 richtet schließlich ein kurzes Augenmerk auf die missionarische Tätigkeit der Kirche, die ebenfalls aus der extensiven Katholizität resultiert und im Dekret über die missionarische Tätigkeit der Kirche weiter entfaltet wird:
„In der Verkündigung der Frohbotschaft sucht die Kirche die Hörer zum Glauben und zum Bekenntnis des Glaubens zu bringen, bereitet sie für die Taufe vor, befreit sie aus der Knechtschaft des Irrtums und gliedert sie Christus ein, damit sie durch die Liebe bis zur Fülle in ihn hineinwachsen.“ Ziel und Aufgabe der Kirche ist es, „dass die Fülle der ganzen Welt in das Volk Gottes eingehe, in den Leib des Herrn und den Tempel des Heiligen Geistes“ (LG 17).
Als alle Völker, Rassen, Klassen und Geschlechter aller Orte und Zeiten umspannende „Communio“ ist die Kirche die Catholica, ein messianisches Volk, sichtbares Sakrament der Einheit der Menschen (LG 9). „Das neue Volk [Gottes] bildet in seiner Katholizität mit ihrer quantitativen und extensiven Bedeutung das Haus mit den vielen Wohnungen ab (Joh 14,2), von dem der Herr als Verheißung der künftigen Welt spricht.“423 Die Heilszusage Gottes manifestiert sich ein für allemal im Erlösungstod Christi und realisiert sich je neu durch alle Zeiten und Orte hindurch, wonach die Katholizität der Kirche als geschichtlicher Vollzug zu begreifen ist, als Gabe und Aufgabe zugleich: „Die Katholizität der Kirche ist ihr eine von Gott zugesprochene Wirklichkeit […], die im geschichtlichen Spannungsverhältnis des Schon und Noch-nicht verbleibt.“424 Sie bleibt „immer Aufgabe, auf die hin wir uns ausstrecken und so Auftrag, den wir nie ganz einholen“425, bis dass Gott die Kirche im Eschaton einst vollenden wird. So ist die Kirche als das Volk Gottes dessen eschatologische Sammlungsbewegung, in die alle Menschen aller Zeiten, Orte, Nationen, Rassen, Kulturen und Weltanschauungen gerufen sind. Die bestehenden Unterschiede werden dabei nicht einfach ausgelöscht, wohl aber relativiert: „Im Volk Gottes wird der eschatologische schalom unter den Bedingungen des gegenwärtigen Äon antizipiert. […] Als Volk Gottes ist die Kirche auf den staubigen Straßen der Geschichte unterwegs, um seiner ewigen Heimat und der eschatologischen Fülle der Zeit entgegenzugehen. Sie kann allein Gott selbst heraufführen. […][Damit wendet sich die Volk-Gottes-Ekklesiologie gegen jedwede innerweltliche Geschichtsutopie, sei sie westlich fortschrittlicher oder marxistisch revolutionärer Art“426.
In nachkonziliarer Zeit ließ ein horizontalistisch verflachter Volk-Gottes-Gedanke seinen theozentrischen Charakter in Vergessenheit geraten. Dies ließ das Leib-Christi-Sein der Kirche in den Hintergrund treten. Im Zuge der 68er-Bewegung wurde das Volk-Gottes-Sein der Kirche gar demokratisch gedeutet. Man vergaß, dass die Kirche kein rein innerweltlicher Verein, sondern Volk Gottes ist und dass die Rede vom Volk Gottes der Kirche keine rein soziologische, sondern eine theologische Größe zuschreibt.427. Eine innerkirchliche Gegenbewegung war die Folge, die die neutestamentliche Begründung des Volk-Gottes-Gedankens zum Teil in Frage zu stellen versuchte und den Leib-Christi-Gedanken in teils einseitiger Weise prononcierte.
Bevor wir uns diesem zweiten Leitbegriff widmen, wollen wir uns in einem ersten Exkurs der schwierigen Verhältnisbestimmung von Israel als dem bleibenden Volk Gottes und der Kirche als dem „neuen“ Volk Gottes widmen, um wichtige Erkenntnisse für unsere Bestimmung der Katholizität der Kirche zu gewinnen.
3. Exkurs: Die schwierige Verhältnisbestimmung zwischen Jesu Sammlung des wahren Israels und der Kirche
Im Rahmen der bis hierher betriebenen Betrachtungen des Volk-Gottes-Begriffs, der vom Konzil in einer patrististischen Rückbesinnung wieder entdeckt und ins Zentrum seiner ekklesiologischen Reflexion gerückt wurde428, bleibt ein kurzer Blick auf eine erste kontrovers diskutierte ekklesiologische Frage zu werfen, nämlich auf die schwierige Verhältnisbestimmung von Israel als dem von JHWH erwählten Volk Gottes zu der von Jesus Christus begründeten Kirche429. Spätestens seit der viel beachteten Rede Johannes Pauls II. vor den Repräsentanten des deutschen Judentums in Mainz am 17. November 1980, in der er von einer „Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes (vgl. Röm 11,29) und dem des Neuen Bundes“430 sprach, spielt die Frage einer exegetisch fundierten Bundestheologie eine immer wichtigere Rolle. Die Herkunft der Kirche aus Israel und ihre bleibende Heilsgemeinschaft mit Israel als dem wahren Volk Gottes vermochte das Konzil sowohl in der Kirchenkonstitution als auch in der Erklärung über das Verhältnis der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra Aetate“ nur bruchstückhaft zu reflektieren; die biblische wie systematische Theologie ist auf diesem Weg in den letzten vierzig Jahren zwar ein beachtliches Stück voran gebracht worden, kann aber – vor allem unter ekklesiologischen Gesichtspunkten – nicht als geklärt und abgeschlossen bezeichnet werden. Die entscheidende Frage lautet nach wie vor: Wie verhält sich die von Jesus Christus intendierte und in seiner Sendung verwirklichte Sammlung des wahren, endgültig wiederhergestellten Volk Gottes, des endzeitlichen Israels, zu der Kirche, die nach Ostern mit dem Pfingstereignis im Heiligen