Die Katholizität der Kirche. Dominik Schultheis

Die Katholizität der Kirche - Dominik Schultheis


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Kirche unmöglich macht. Die in der Kirchenkonstitution zu einem Leitbegriff gemachte Rede von der Kirche als „Volk Gottes“ (LG 14–16) ermöglicht so nicht nur ein Verständnis von Kirche, das die Kirche nur und ausschließlich deshalb als „Volk Gottes“ sieht, weil sie in einer strukturellen Kontinuität zu Israel als dem von JHWH ursprünglich erwählten Volk steht, sondern sie überwindet auch ein juridisch-hierarchisches Kirchenverständnis im Sinne einer „societas perfecta“, das die bleibende Sammlung der Kirche und ihre Öffnung auf das Ganze hin aus dem Blick verliert. Dies vermag Kirche aber nicht aus sich selbst, sondern es ist ihr geschenkt. Nur Christus kann das Ganze zusammenhalten und einen; er ist die eine Mitte, die alles trägt und sein Volk je neu um sich versammelt. Er kommt vom Vater und wirkt gegenwärtig in der Geschichte durch den Heiligen Geist, der von Christus Zeugnis ablegt und in alle Wahrheit einführt (Joh 15,26; 16,13).395

      Die Konzilsväter vermeiden bei der Aufnahme des Volk-Gottes-Begriffs in die ekklesiologischen Texte des Konzils bewusst, von einer Identität zwischen dem Theologumenon „Volk Gottes“ und (römisch-)katholischer Kirche zu sprechen. Absicht der Konzilsväter ist es nicht, mit der Verwendung des Volk-Gottes-Begriffs als Bezeichnung der Kirche den Anschein zu erwecken, als sei das „alte“ Volk Gottes durch das von Christus versammelte „neue“ Volk Gottes abgelöst und ersetzt worden; die alte klassische Substitutionslehre wird vom Konzil ausdrücklich nicht mehr bemüht. Die Konzilsväter wollen mit der Verwendung des Volk-Gottes-Begriffs gerade das bleibende Verhältnis der Christen zu ihren älteren Geschwistern zum Ausdruck bringen. In LG 16 ist daher – in einer gewiss etwas unglücklichen, da abgestuften Formulierung – von einer „Hinordnung“ der Juden auf das Gottesvolk die Rede. Unstrittig ist, dass das vom Konzil bemühte Attribut „neu“ nicht als Gegenstück zu einem missverständlichen „alt“ im Sinne von „überholt“ zur Verhältnisbestimmung von Kirche und Israel verstanden worden ist. Das Attribut „neu“ diente den Konzilsvätern in ihrer biblischpatristischen Rückbesinnung auf den Volk-Gottes-Gottes-Begriff vielmehr zur Korrektur einer übertrieben forcierten Leib-Christi-Ekklesiologie in der Pianischen Epoche. Die Ekklesia, so die Intention des Konzils, ist in Israel entstanden, sie versteht sich selbst als das endzeitliche, von Gott gesammelte Israel, als das „neue Volk Gottes“396 (vgl. LG 9) und ist deshalb unlösbar und für immer mit dem ganzen Israel verknüpft. Die Kirche findet ihren heilsgeschichtlichen Ursprung nicht in einem einmaligen, durch Christus gesetzten Stiftungsakt, sondern vollzieht sich als ein gestufter Prozess, der nach Überzeugung der Kirchenväter – aufgrund des universalen Heilswillens Gottes – seinen Ursprung bereits in den Anfängen der Menschheits-Geschichte nimmt („ecclesia ab Abel“) und verborgen unter allen Völkern geschieht.397 Eine öffentliche Sammlung dieses Volkes beginnt mit der Berufung Abrahams und der Erwählung Israels, dem Vorausbild und Wurzelstock der Kirche, in den sie eingepflanzt wurde (vgl. Röm 11,16–24).398 Dass der vom Konzil bemühte Volk-Gottes-Begriff als möglicher Leitbegriff zur Verhältnisbestimmung von Israel und der Kirche aus heutiger Sicht nur noch schwerlich herangezogen werden kann, muss mit Erich Zenger zweifelsfrei eingestanden werden. Aus Sicht des Ersten Testaments ist der Begriff des Gottesvolkes, so Zenger, derart Israel-zentriert, dass er nur schwerlich als Leitbegriff zur Verhältnisbestimmung von Synagoge und Kirche noch als ekklesiologischer Grundbegriff verwendet werden kann.399

      Diese mahnenden Worte Erich Zengers ernst nehmend, sei ein kurzer Blick auf den biblisch-theologischen Befund des Volk-Gottes-Begriffs geworfen, ferner auf dessen theologiegeschichtliche Verwendung.

       2.1Biblisch-theologische Grundlegung des Volk-Gottes-Begriffs

      Das AT verwendet zur Bezeichnung Israels den ein Beziehungsgefüge, einen freiwilligen Zusammenschluss oder eine Erwählung ausdrückenden Termius ‛am, der ursprünglich ein Verwandtschaftsverhältnis ausdrückte. Mit diesem Terminus unterscheidet das AT Israel von anderen Völkern, die im profan-staatlichen Sinne meist als goi („Nation“) bezeichnet werden. Außer in Ex 19,4–7 und Ps 135 finden sich alle wichtigen Belege in Dtn 4;7;14;26;32.400 Israel ist das ‛am JHWHS, das – zum Bundesvolk erwählt (vgl. Ex 19,5f; 24; Dtn 5) – in eine besondere, familiäre Beziehung zu JHWH tritt (vgl. Ex 34,10; 2 Kön 11,17; Jer 31,33). Diese Beziehung ist als eine reziproke gekennzeichnet: „Ich nehme euch als mein Volk an und werde euer Gott sein.“ (Ex 6,7) oder: „Ich bin euer Gott und ihr seid mein Volk.“ (Lev 26,12). Sie konkretisiert sich darin, dass JHWH einerseits die Geschicke seines Volkes lenkt und andererseits ein bundesgemäßes Handeln seines Volkes einfordert. Spezifikum der Erwählung Israels zum Volk Gottes ist seine Irreversibilität: Das Verhältnis zwischen JHWH und seinem Volk ist unzerstörbar, Israel bleibt auf ewig Volk Gottes (vgl. Jes 54,7; Hos 2,1; Mal 3,6; Bar 2,35; Ps 111,9). In nachexilischer Zeit wird der Gedanke vom auserwählten Volk Gottes in der Zuordnung der vielen Völker zu dem einen Gottesvolk Israel universalistisch geweitet (vgl. etwa Jes 19,25; Sach 2,15; 8,20ff; Mi 4,1–4; Jes 66,20–23); darin ist die ekklesiologische Rede von der Einheit aller Völker im eschatologischen Gottesvolk begründet (LG 2). Norbert Lohfink zeigt, dass der Volk-Gottes-Begriff nicht Israel in sich selbst bezeichnet; lediglich in seiner Hinwendung zu JHWH, im Akt der Beziehung und Selbstüberschreitung, wird es zu dem, was es aus sich selbst nicht ist: zum Volk Gottes.401

      Im NT drückt der Begriff „Volk Gottes“ einerseits das Selbstverständnis der christlichen Gemeinden aus, anderseits bestimmt er deren Verhältnis zu Israel. Jesus weiß sich zu ganz Israel als dem auserwählten Volk Gottes gerufen (vgl. Lk 6,20b.21; Mt 11,5 par; Lk 4,18ff), um es als endzeitliches Volk Gottes zu sammeln. In diesem Sinne versteht sich die urchristliche Gemeinde als „durch Christus berufenes ‚endzeitliches Aufgebot Gottes’ (ἐκκλησία τοῦ θεοῦ [ἐν Χϱιστῷ]“402. Joseph Ratzinger betont in diesem Zusammenhang den schon für das AT bestimmenden Akt der Hinwendung, in diesem Falle zu Christus: „Nur in der christologischen Umdeutung des Alten Testaments, also durch die christologische Transformation hindurch, kann es [sc. das Wort „Volk Gottes“] das neue Israel anzeigen. Die normale Benennung für Kirche ist im Neuen Testament das Wort Ecclesia, das im Alten Testament die Versammlung des Volkes durch das rufende Wort Gottes bezeichnet. […] Erst die neue Geburt in Christus [lässt] das Nicht-Volk zum Volk werden“403. Das neutestamentliche Wort „ecclesia“ nimmt den alttestamentlichen Begriff des Volkes Gottes als von Gott gerufener und vor ihm versammelter Volksgemeinde auf und führt ihn weiter. Jedoch stellt sich die von Gott gerufene und vor ihm versammelte ecclesia nicht nur als heilsgeschichtliche Verlängerung des alttestamentlichen Gottesvolkes dar (vgl. Röm 9,25f), sondern als dessen eschatologische Neubegründung in Jesu Heilswirken für alle Menschen (vgl. Röm 8,34).404 Volk Gottes ist die Kirche nicht in ungebrochener Kontinuität zu Israel; hierauf verweist das spannungsvolle Verhältnis der frühchristlichen Gemeinden zu den Juden in Jerusalem und in den Gebieten der paulinischen Mission. Äußerst selten wird die Bezeichnung „Volk Gottes“ auf die ersten Christen angewandt (vgl. Röm 9,25 und 1 Petr 2,9f), dies jedoch stets in christologischer Konnotation. „’Volk Gottes’ sind die Christen als ‚Geheiligte in Christus Jesus’ […][und] ‚berufene Heilige’ (1 Kor 1,2 u.ö. […]), als ‚Erwählte Gottes’ aufgrund der ‚Hingabe seines Sohnes’ (Röm 8,32f)405.

      Für Paulus ist Israel das bleibend auserwählte Volk Gottes (λαὸς, vgl. Röm 4,11f; 11,1ff.25ff.29; 15,7–13), auch wenn nur ein „Rest“ des auserwählten Volkes Jesus als Messias erkennt und bekennt (vgl. Röm 11,4f). Da den Christen durch Christus dieselbe Verheißung geschenkt ist wie Abraham, gehören auch sie als „Erwählte“, „Heilige“, „Gemeinde Gottes“, „Tempel, Bauwerk, Kinder bzw. Söhne Gottes“ dem Volk Gottes an (vgl. Röm 4,15; Gal 3,6–9). Diesen christologischen Transformationsprozess fasst Paulus später im Leib-Christi-Begriff zusammen.

      Mit der Trennung von Christentum und Judentum beginnt die Rede vom Volk Gottes indes abzuflachen; die Kirche bezeichnet sich – z.T. polemisch und in Abgrenzung von Israel – als „auserwähltes Geschlecht“, „Volk des Eigentums“ (1 Petr 2,9), „königliche Priesterschaft“ (Offb 1,6), „Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“ (Eph 2,19). Im lukanischen Doppelwerk hat die Volk-Gottes-Thematik


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