Sperare Contra Spem. Susanne Hegger
Wahrheit in ihr nur noch wie ein zufälliges, nebensächliches Moment erscheint. Er wird sich bewusst bleiben, daß die Identität der einen Wahrheit innerhalb der Wirklichkeit in Gestalt einer Reihe von analogen Ausgestaltungen auftritt, die weder durch eine einzelne aus ihnen, noch von einer imaginären übergeschichtlichen Warte aus bemessen und gerichtet werden können.“237 Ein System zeitloser Wahrheit kann es nach Balthasar schlechterdings nicht geben.238
Die bis hierher umrissenen allgemeinen Strukturen liegen nach Balthasar jedem Prozess der Erkenntnis weltlicher Wahrheit zugrunde. Je nach Seinsstufe des Objekts unterscheiden sich die jeweils konkreten Ausprägungen aber deutlich im Grad ihrer Innerlichkeit. Eine gewisse Intimität kommt schon leblosen Dingen zu, „denn auch in ihnen sind Kräfte am Werk, die sich äußern, die also eine Bewegung von innen nach außen vollziehen“239, ohne dass diese Äußerungen einfachhin mit dem Wesen des jeweiligen Seienden gleichzusetzen wären. Anders ist nach Balthasar der hypothetische und damit vorläufige Charakter naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nicht zu erklären.
Deutlich gesteigert ist diese Innerlichkeit dann schon auf der Stufe vegetativen Lebens. „Das Innere ist in einen fast undurchdringlichen Schleier gehüllt: was das Lebensprinzip in sich selbst ist, wird keine Forschung je wissen.“240 Zugang zum Sein des Lebendigen und damit zu seiner Wahrheit hat der Mensch einzig, weil und indem es sein Leben lebt und dergestalt sein Wesen als Lebendiges enthüllt.
In der animalischen Welt nun sieht Balthasar eine qualitativ völlig neue Ebene erreicht, weil jedes tierische Lebewesen als mit Bewusstsein ausgestattetes nicht nur potentielles Objekt von Wahrnehmung, sondern zugleich immer auch wahrnehmendes Subjekt ist. „Subjektivität (aber) ist Intimität, und zwar seinshaft garantierte Intimität, die nicht nur nicht erbrochen, die auch nicht als solche mitgeteilt werden kann.“241 Das wahrnehmende menschliche Subjekt hat keinerlei Zugriff auf den Innenraum eines ihm als Objekt gegenüberstehenden tierischen Subjektes; und das Tier hat seinerseits, ungeachtet der ihm zur Verfügung stehenden Ausdrucksformen, die sich freilich noch auf der Ebene des rein Naturhaften bewegen, keine Möglichkeit, sein Inneres mitzuteilen.
In der menschlichen Existenz schließlich vertieft sich das Bewusstsein zu Selbstbewusstsein. Der innere Raum seiner Intimität ist dem Subjekt, wenn auch nicht bis in seine tiefste Tiefe erschließbar, so aber doch prinzipiell zugänglich. Dieser Selbstbesitz bedeutet nun wesentlich personale Freiheit. Zwar ist der Mensch als soziales Wesen grundsätzlich auf Mitteilung hin angelegt, dennoch aber ist er zu keiner bestimmten Äußerung gezwungen. „Niemand kann ihm seine Wahrheit abringen, niemand kann ohne sein Wissen und Wollen darüber verfügen.“242 Mehr noch: Selbst wenn er sich zu einer Kundgabe entschließt, ist damit erstens noch nichts über ihre Form entschieden; der Mensch verfügt über eine Vielzahl leiblich-sinnlicher Ausdrucksmöglichkeiten, wobei der Sprache im Sinne freier Wortgestaltung besondere Bedeutung zukommt.243 Zweitens aber begibt der Mensch sich mit keiner wie auch immer gearteten Selbstäußerung seines letzten personalen Geheimnisses. „Soll der Geist wirklich frei sein, so muß er nicht nur vor der Mitteilung, sondern auch in ihr und nach ihr frei sein. Es muß ihm also die Möglichkeit zur Verfügung stehen, von sich selber zu reden, sich in wahrer Weise zu offenbaren, ohne deshalb doch seine Intimität, sein Für-sich-sein preisgeben zu müssen.“244 Mit dieser weitgehenden Freiheit von naturhafter Notwendigkeit kommt dem Menschen eine einzigartige Verfügungsgewalt über seine eigene Wahrheit aber damit zugleich auch über die Unwahrheit zu. Der Mensch ist je neu in die Verantwortung gestellt; nur er kann und muss letztlich die Wahrheit seiner Selbstmitteilung verbürgen.245
Diese qualitativ neue Ebene auf der Seite des sich mitteilenden Subjektes versetzt nun aber auch das aufnehmende Subjekt zwangsläufig in eine veränderte Position. Weil nämlich zwischen dem Inhalt einer Äußerung und ihrem Ausdruck die Freiheit des Mitteilenden steht, entzieht sich der Wahrheitsgehalt einer jeden Selbstkundgabe grundsätzlich dem richtenden Urteil des Aufnehmenden. Sprechen nicht offensichtliche äußere Gründe dagegen, bleibt ihm deshalb nur die vertrauensvolle Annahme der Äußerung. In diesem Sinne ist die Aufnahme des Mitgeteilten mit Balthasar letztlich als Glauben zu verstehen.
„Damit scheint sich das Verhältnis von Subjekt und Objekt fast in sein Gegenteil verkehrt zu haben. Das Objekt ist nicht mehr das unbeteiligte Material der Erkenntnis, deren tätiger, schöpferischer Träger das … Subjekt ist, es verwandelt sich beinahe in den aktiven Partner, während das Subjekt mit seiner primären Rezeptivität fast in die Rolle der wehrlosen Passivität gedrängt scheint.“246 Bei genauerem Hinsehen erweist sich aber auch auf der Ebene geistiger Freiheit des Objekts die den Prozess weltlicher Wahrheitserkenntnis vorantreibende strukturelle Verwobenheit von Aktivität und Passivität. Auch hier nämlich ist, wie von Balthasar ausdrücklich betont, Erkenntnis notwendig immer auch schöpferisch-spontaner Akt des Subjekts. „Bestünde keinerlei Freiheit im Akt geistiger Erkenntnis, so wäre sie keine geistige Tätigkeit.“247 Und in umgekehrter Blickrichtung gilt: Auch die Wahrheit eines jeden menschlichen leiblich-geitigen Seins konstituiert sich allererst, indem sie durch ein anderes Subjekt erkannt und dergestalt mit hervorgebracht wird. Das subjektive Objekt muss sich seine Wahrheit immer auch in einer Haltung der Passivität zusagen lassen.
Mit der Ebene personaler Wahrheit ist die Stufe tiefster Innerlichkeit weltlicher Wahrheitserkenntnis erreicht, und darum auch ein Vorverständnis für die Erkenntnis von Glaubenswahrheit eröffnet. Die im Hinblick auf Wahrheitserkenntnis in Subjekt-Subjekt-Beziehungen umrissenen Strukturen finden bei Balthasar daher nun auch im Hinblick auf theologische Wahrheit Anwendung, erfahren jedoch angesichts der grundsätzlichen Unähnlichkeit des unendlichen göttlichen Subjektes mit jedem endlichen Subjekt wesentliche Modifikationen, i. e. weitere Vertiefungen. Theologische Erkenntnis geschieht (nur) analog zur weltlichen.
2.2.2 Theologische Wahrheit als Liebesgeschehen
Wie die Begegnung zwischen weltlichen Subjekten, so ist nach Balthasar auch das Verhältnis zwischen Geschöpf und Gott in den Kategorien eines freien, dialogischen und somit situativ-geschichtlichen Beziehungsgeschehens zu beschreiben. Inbegriff dieser Beziehung ist „das besondere Wort Gottes, das wir die biblische Offenbarung nennen und das Mitte des göttlichen Sprechens bleibt“248. Zwar bleibt auch hier richtig, dass der Mensch die Freiheit besitzt, sich für das an ihn ergehende Wort zu öffnen oder aber seine Ohren zu verschließen, aber im Unterschied zu allen innerweltlich als Objekt begegnenden Subjekten, ist Gott des erkennenden menschlichen Subjektes in keiner Weise bedürftig. Weil er der Schöpfer ist, der alles Sein seiner unendlichen Fülle entspringen lässt, liegt das Maß jedweden Seins in ihm begründet, so dass er kein Gegenüber braucht, um daran die Dimensionen seiner selbst allererst zu ermessen. In diesem Sinne ist Gott der Welt völlig transzendent.
In der Konsequenz liegt, so Balthasar weiter, die Wahrheit Gottes nicht in einer der weltlichen Wahrheit vergleichbaren Form vor. Die schon im menschlichen Objekt zu personaler Freiheit gesteigerte letzte Geheimnishaftigkeit seines Daseins ist angesichts des absoluten Selbstbewusstseins Gottes als absolute Freiheit und unendliche Intimität zu denken. Die Wahrheit des Seins Gottes wird dem Menschen deshalb anders als die aller endlichen Objekte „gar nicht in sich selbst erschlossen, sondern ausdrücklich in der Gestalt der Verschlossenheit in ihrem innern Geheimnis bekanntgegeben“249. Enthüllung des göttlichen Seins geschieht immer in Verhüllung. Gerade in der größten Unsichtbarkeit aber, in der Verhüllung Gottes in menschlicher Gestalt, tritt sein Wesen als dreieinige Liebe in unüberbietbar anschaulicher Weise hervor. „Das Unbegreifliche Gottes ist nun nicht länger ein blosser Ausfall an Wissen, sondern eine positive Gottesbestimmtheit des Glaubenswissens.“250 In Jesus Christus, und nur hier, wird das Sein Gottes erkennbar. Wenngleich Balthasar auch, wie dargelegt, „die Christen als Hüter der … Metaphysik“251 in die Verantwortung rufen will, so vertritt er doch einen zutiefst offenbarungstheologischen Ansatz. Eine Bewegung des gedanklichen Aufstiegs des Menschen zu Gott ist überhaupt nur möglich, weil und indem Gott in der Person Jesu zum Menschen absteigt und sich ihm zeigt. Einerseits heißt das, der Mensch kann Wahres von Gott einzig und allein dann aussagen, wenn er bereit ist, es sich zu-sagen