Sperare Contra Spem. Susanne Hegger
und den Notwendigkeitsgrad zudenken, die der Welt im ganzen eignen.“130 Es klafft also zunächst einmal eine Differenz auf zwischen der Zufälligkeit des je einzelnen Daseins und der Faktizität des Seins der Welt.
Weil der Mensch nun ein soziales Wesen ist, begreift er zugleich darüber hinaus, „daß alle übrigen Seienden zum Sein im gleichen Verhältnis stehen“131. Somit vertieft sich die Differenz auf einer zweiten Stufe: Weil alle Seienden in Ihrem Wirklich-Sein das Sein als Ganzes in sich haben, ist das Sein keinesfalls mit der Summe der Seienden identisch zu setzen. Vielmehr hat das Sein einerseits eine unerschöpfliche, auch über die Summe aller möglichen Seienden hinausgehende Fülle, wobei es aber andererseits zu seiner Verwirklichung gleichzeitig notwendig auf ein konkretes Seiendes angewiesen ist. Beide Momente, das Da-Sein wie das konkrete So-Sein, sind unlösbar miteinander verbunden, ohne jedoch jemals zusammenzufallen oder auf einander rückführbar zu sein. „Das Ganze der Wirklichkeit existiert je nur im Fragment eines endlichen Wesens, aber das Fragment existiert nicht, es sei denn durch das Ganze des Wirklichseins.“132
An dieser Stelle zeigt sich, dass sich Balthasars „metaphysische Wende zum Singulären“133 keineswegs auf einen rein gnoseologisch motivierten Perspektivenwechsel beschränkt, sondern auch sein Seinsverständnis zutiefst durchdringt. Seine Ausführungen zur thomanischen Lehre von der Realdistinktion weichen nämlich deutlich von der traditionellen Interpretation ab, die ein Gefälle implementierte, indem sie dem Sein die Funktion zusprach, das Wesen ins Dasein zu rufen. Balthasar betont demgegenüber den wechselseitigen Bedingungszusammenhang zwischen Da-Sein und So-Sein.134 „Das Sein ist selber auf die Wesenheiten ‚angewiesen‘.“135 Indem Individualität dergestalt als konstitutives Moment des Seins ausgewiesen wird, wird ihr zugleich eine ganz neue Dignität zugesprochen.136
Balthasars Sicht auf die ontologische Differenz impliziert aber noch ein Weiteres. Wenn nämlich jedes Seiende seinem Wesen nach immer in der unauflösbaren Spannung zwischen der Überfülle der Seinsmöglichkeiten und seinem faktischen So-Sein steht, dann ist „das Wesen … also weit davon entfernt, jeweils verwirklicht zu sein.“137 Vielmehr ist weltliches Sein als eine unaufhaltsame Bewegung, als ein Pendeln zwischen den beiden Polen zu beschreiben. In diesem Sinne ist „eine mit der Dasein-Sosein Polarität im endlichen Seienden unmittelbar mitgegebene Struktur … dessen Zeithaftigkeit.“138 Zeit wird zunächst einmal als Gegenwart erfahren; „in ihr meldet sich das Da des Seins“139. Weil nun aber die Fülle des Seins immer weit über die an ihr teilhabende konkret daseiende Verwirklichung hinausgeht, wohnt jedem Dasein zugleich die Verheißung zukünftiger Möglichkeiten inne. „Zukunft ist der Überschuß über die Gegenwart, der aber nicht hinter, sondern gerade in ihr verborgen liegt“.140 Balthasar geht deshalb so weit zu mutmaßen, Realdistinktion und Zeit seien letztlich nichts anderes, als zwei unterschiedliche Perspektiven auf dieselbe Wirklichkeit.141 Er rückt also deutlich von dem zeitlos-statischen Seinsbegriff der klassischen Metaphysik ab und setzt seinerseits ein Verständnis dagegen, wonach „das Phänomen der Zeit ins Herz der geschöpflichen Ontologie hinein gehört“142.
In der Erkenntnis der wechselseitigen Bedürftigkeit von Sein und Seiendem wird nun nach Balthasar das menschliche Denken weitergetrieben. Indem es begreift, dass das Sein keinen Bestand in sich hat, muss es auf einer dritten Stufe unweigerlich auch einsehen, „daß das Sein im ganzen oder das Wirklichsein alles Wirklichen die wirklichen Wesenheiten nicht aus sich selber entlässt, weil verantwortendes Auszeugen von Formen selbstbewußten freien Geist voraussetzen würde.“143 Hinter dem zu seiner Verwirklichung auf das Seiende angewiesenen und in diesem Sinne unfreien Sein muss also notwendig ein dieses Sein und damit auch alles weltlich Seiende begründendes, freies, subsistierendes, absolutes Sein gedacht werden. An der Nichtsubsistenz des Seins „bricht … die letzte (vierte; S. H.) Tiefe der Differenz, die Gegenüberständigkeit von Gott und Welt auf.“144
Damit nun sieht Balthasar die thomanische Definition des Seins als „die erste von Gott ausströmende Weltwirklichkeit, woran teilnehmend alle Wesen wirklich sind“145, eingeholt. Er erkennt gerade darin die „schöpferische Hauptleistung“146 des Thomas, in aller Deutlichkeit zwischen dem Sein als Weltwirklichkeit und Gott als Quelle eben dieser Wirklichkeit unterschieden zu haben. Zum einen wird dadurch natürlich „Gott … über alles Weltsein, alle Berechenbarkeit und Anzielbarkeit hinaus entrückt, als das ernstlich Ganz-Andere“147. Indem Balthasar diese Bestimmung seinerseits über einen anthropologischen Zugang zu bestätigen sucht, trägt er also zunächst einmal seinem Anliegen Rechnung, das absolute Sein Gottes auf auch für heutiges Denken plausible Weise als jedem Zugriff durch die menschliche Vernunft grundsätzlich entzogen auszuweisen und so jedwedem Bewältigungsdenken den Boden zu entziehen. „Gott kann von der Welt aus nicht dadurch ‚konstruiert‘ werden, daß dem ‚einfachen, unteilbaren, aber nicht subsistierenden‘ Wirklichen eine un-endliche Wesenheit gleichgesetzt wird“148.
Zum anderen aber führt diese aus der Betrachtung der formalen Struktur erwachsene fundamentale Unterscheidung zwischen Gott und Sein von Balthasar auch zur Bestimmung der inhaltlichen Struktur des Seins.
2.1.2.2.2 Materiale Struktur des Seins
Das Sein, so haben wir gesehen, ist wesentlich Fülle von Möglichkeiten, die aber in weltlich Seiendem nie zu ihrer vollen Entfaltung kommen kann. „Diese Fülle kann sich nur einmal absolut ausbreiten: in Gott“149. Gott ist in sich absolut erfüllt und in diesem Sinne des Seins der Welt gänzlich unbedürftig. Die Existenz der Welt unterliegt daher keiner wie auch immer zu denkenden Notwendigkeit; sie ist völlig ungeschuldete Gabe. Gottes „Fülle (ist) als solche reine Mächtigkeit … aus deren Mögen alles Mögbare als das Vermögen hervorgeht, deshalb reine Freiheit, und als nicht an sich haltende … Freiheit reine Schenkung und Liebe.“150 In seiner Unterscheidung von Gott, und nur hier, so wird man mit Balthasar sagen müssen, ist das Sein nicht anders zu verstehen, denn als freie Gabe der Liebe. „Eben wenn das Geschöpf sich im Sein von Gott abgerückt fühlt, weiß es sich aufs unmittelbarste von Gottes Liebe erdacht“151. „Der metaphysische Ansatz im Denken und Werk Hans Urs von Balthasars verdichtet sich zur Kurzformel: Sein als LIEBE. Sein und Liebe sind koextensiv.“152
Diese Aussage erwächst einmal mehr aus dem unlösbaren Ineinander von Philosophie und Theologie im Denken Balthasars. Zu der Einsicht, dass Sein gleichbedeutend mit Liebe ist, vermag die menschliche Vernunft nämlich keinesfalls von sich aus zu gelangen; sie ist vielmehr nur von der Selbstoffenbarung göttlich-trinitarischer Liebe in Jesus Christus her möglich. Die metaphysische Einsicht in die Gott-Welt-Differenz bildet zwar den notwendigen Verstehenshorizont, in den hinein Offenbarung allein ergehen kann, ihre Vollendung findet die Metaphysik aber nur in der Reflexion auf das Offenbarungsgeschehen. „Vom theologischen Apriori her, d. h. von der gesamten Heilsgeschichte, die in Jesus Christus ihren Höhepunkt hat, klärt sich der Seinsbegriff.“153 In diesem Licht erst kann der Mensch begreifen, dass sein Gott-gegenüber-Stehen Geschenk der Anteilgabe am göttlichen Liebesgeschehen ist. Damit aber erscheint das Sein als personale Beziehung. „Das Seinsverständnis, das in von Balthasars gesamtem Werk waltet, ist ein ‚dialogisches‘. Nicht das Sein als Bei-sich-Sein, sondern das Sein als Gespräch und Begegnung bestimmt das Denken.“154
Mit diesem Verständnis des Seins rücken nun notwendig auch seine Eigenschaften, in ein neues Licht. Das Sein ist ein sich mitteilendes, an sich teilgebendes; Sein ist Liebe. „Liebe wird in ihrer inneren Wirklichkeit nur von Liebe erkannt.“155 Sein verstanden als Liebe kann daher nur in liebender, i. e. interessenloser Hinwendung zum anderen Seienden erblickt werden. Entsprechend buchstabiert von Balthasar auch die traditionelle Tanszendentalienlehre neu durch. „Die Transzendentalien werden in der Begegnung entdeckt, denn in Wirklichkeit ist jede Begegnung eine Begegnung mit dem Sein und die Transzendentalien sind Eigenschaften des Seins als solchem“156. Auch hier denkt Balthasar also wieder vom konkreten Einzelmenschen in seiner existentiellen Ausrichtung auf ein Gegenüber her. Erkenntnis des Seins und seiner Eigenschaften kommt ihm nicht etwa in theoretischer Reflexion auf ein abstraktes, allgemeines