Sperare Contra Spem. Susanne Hegger
nach nur einen einzigen Ausweg, nämlich den der Neubelebung der Seinsfrage, weil „das Christliche immer wieder nur als Antwort auf die Seinsfrage im Ganzen … sich den Menschen plausibel machen kann. Wo die Seinsfrage nicht ertönt, wird die Theologie mysterienlos-positivistisch.“107
Damit sind wir nun beim eigentlich Originären des balthasarschen Denkansatzes angelangt. Wenn im Folgenden von seiner Neubelebung der Seinsfrage die Rede sein wird, so darf darunter keinesfalls eine Renaissance der antiken Metaphysik, gleichsam ein Schritt zurück hinter neuscholastisches Denken, hin zu den griechischen Wurzeln gedacht werden.108 Balthasar will nicht etwa das Rad der Geschichte zurückdrehen; vielmehr verfolgt er ausdrücklich einen theoretischen Neuansatz. Sein Grundgedanke dabei ist, dass Meta-Physik für uns heute eben nicht mehr „den Akt des Überstiegs über die Physis besagt, die für die Griechen den ganzen Kosmos umfaßte, von dem der Mensch ein Teil war. … Der Kosmos vollendet sich für uns im Menschen, der zugleich Zusammenfassung der Welt ist und ihr Überstieg.“109 Diese veränderte Weltsicht macht es unabdingbar, die Seinsfrage aus einer entsprechend veränderten Blickrichtung anzugehen. „Unsere Philosophie wird also wesentlich eine Meta-Anthropologie sein, die nicht nur die kosmologischen, sondern auch die anthropologischen Wissenschaften zur Vorraussetzung hat und sie auf die Seins- und Wesensfrage des Menschen hin übersteigt.“110 Balthasar tritt also an, die klassische Seinslehre von der existenzialen111 Verfasstheit des Menschen her neu zu durchdringen, „wobei alle früher gestellten Grundfragen der Philosophie ein neues Gesicht erhalten“112.
An dieser Stelle ist es nun aus einem doppelten Grund unerlässlich, den Versuch zu unternehmen, die unterschiedlichen, stark miteinander verwobenen Dimensionen der Gedankenführung Balthasars offen zu legen. Zunächst einmal führen sie natürlich zu seinem Verständnis von Sein, das es hier ja zu ergründen gilt. Weil aber, wie dargelegt, nach balthasarscher Überzeugung auch und gerade die Theologie untrennbar an die metaphysische respektive meta-anthroplogische Urfrage gebunden ist, ergeben sich die wesentlichen originären inhaltlichen wie methodischen Grundzüge seiner Theologie notwendig aus seinem Umgang mit der Seinsfrage. Mit anderen Worten: Gelingt es, das Seinsverständnis Balthasars zu erschließen, so ist damit bereits auch Wesentliches bezüglich seines Theologieverständnisses zumindest markiert. Nur darum kann und soll es an dieser Stelle gehen. Die einzelnen, sich mit diesem Seinsverständnis eröffnenden theologischen Gehalte, gilt es dann im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung im Hinblick auf die Höllenthematik eingehend zu bedenken.
2.1.2.2 Das Wunder des Seins aus meta-anthropologischer Perspektive
Balthasars Unterfangen der philosophischen Neubelebung der Seinsfrage besteht im Wesentlichen darin, „seine eigenen, speziellen Überlegungen in das ontologische Erbe der klassischen Philosophie einzufügen.“113 Er ist also keineswegs bestrebt, aus meta-anthropologischer Perspektive gleichsam eine völlig neue Seinslehre zu konzipieren. Vielmehr werden die zentralen Gehalte der traditionellen Lehre „in einer umfassenderen Sichtweise wiederaufgenommen, nämlich in der einer existentiellen Verfasstheit des Menschen“114, mit dem Ziel, sie dergestalt gleichermaßen zu erhärten wie für heutiges Denken neu fruchtbar zu machen. Der Mensch ist, so Balthasars fundamentale Überzeugung, das Wesen „das als konkrete Universalität die Idee der Welt ist und deshalb auch der Ort, wo Sein überhaupt verstanden und erhorcht wird.“115 Eine Annäherung an die Seinsfrage ist demnach nur möglich über eine Reflexion auf das Wesen des Menschen.
In diesem seinem Ansatz vollzieht Balthasar nun allerdings einen entscheidenden Paradigmenwechsel. Jörg Disse verweist dazu in seiner Habilitationsschrift auf eine von ihm entdeckte unveröffentlichte Schrift Hans Urs von Balthasars, die er auf den Zeitraum zwischen 1939 und 1941 datiert.116 Unter dem Titel „Geeinte Zwienatur. Eine philosophische Besinnung“ bemüht sich Balthasar „im Rückgang bis auf die Anfänge der Metaphysik … noch im Rahmen der antik-scholastischen Begrifflichkeit die falsche Weichenstellung in Bezug auf das Verhältnis von Allgemeinem und Individuellem aufzudecken.“117 Sein Ziel dabei ist es, die mit dem Erbe der griechischen Philosophie und ihres Dualismus von Begriff und Anschauung übernommene Zuordnung eines abstrakten Seins zur Metaphysik, der konkreten seienden Dinge dagegen zu den Einzelwissenschaften zu überwinden und auch das Seiende als Gegenstand der Metaphysik auszuweisen. Aus diesem Grund destruiert er den nach seinem Verständnis für griechisches Seinsdenken charakteristischen metaphysischen Stammbaum des Menschen nach Porphyrius um ihn seinerseits durch ein gegenläufiges Paradigma zu ersetzen. Der sogenannte ‚Baum des Porphyrius‘ stellt sich folgendermaßen dar:118
Diesem Schema zufolge ist das abstrakte begriffliche Sein das Eigentliche, dem Individualität lediglich noch äußerlich zukommt. Metaphysische Seinserkenntnis ist demnach nur in Ablösung vom konkreten Seienden möglich.
Diesem Verständnis setzt Balthasar nun seine Sicht entgegen:119
Hier erfolgt Seinserkenntnis gerade nicht unter Absehung vom Einzelnen, Besonderen. Im Gegenteil, „wir erschließen das Sein eines jeden Dinges, sowie Sein als solches nur, indem wir die Individualität des jeweiligen Seienden berücksichtigen, d. h. indem wir jedes Einzelwesen in seinem konkreten Gesamtsein sehen lernen bzw. von diesem Gesamtsein aus zum Gesamtsein des weltlich Seienenden überhaupt aufsteigen.“120 Balthasar weist also seinerseits auch und gerade das Individuelle als Materialobjekt der Metaphysik aus.
Vor diesem Hintergrund also ist die balthasarsche Interpretation der traditionellen Seinslehre zu sehen. Er macht den konkreten Einzelmenschen zum Ausgangspunkt seiner Neuinterpretation und buchstabiert die wesentlichen Gehalte von ihm her durch. Leitend dabei ist die moderne Grundeinsicht in die wesentlich dialogische Verfasstheit des menschlichen Wesens. „Der Mensch existiert nur im Dialog mit seinem Nächsten.“121 Wenn Balthasar also vom konkreten Menschen spricht, so meint er damit kein isoliertes Wesen, sondern immer schon „die je einzelne Person in der Gemeinschaft“.122 Seine metaphysische Betrachtung des Seins setzt unmittelbar beim je einzelnen Menschen in seiner Verwiesen- und Bezogenheit auf andere Seiende an und überschreitet dergestalt „das traditionelle Denken … in einen geschichtlichen und dialogischen Denkansatz hinein“123. Dadurch aber erfährt der metaphysische Entwurf des Seins sowohl hinsichtlich seiner formalen, wie auch in seiner materialen, inhaltlichen Struktur124 wesentliche Neubestimmungen. „Die Unterscheidung von material und formal versteht sich hier als Hilfsgröße zur besseren Erklärung.“125 Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich in den folgenden Darlegungen nur um eine rein analytische Trennung von zwei nach balthasarschem Verständnis sich wechselseitig durchdringenden und bedingenden Dimensionen des Seins handeln kann und soll.
2.1.2.2.1 Formale Struktur des Seins
Zur Bestimmung der formalen Struktur des Seins greift Balthasar die thomanische Lehre von der Realdistinktion, i. e. von einer alles weltlich Seiende durchwaltenden „reale(n) Differenz zwischen dem Sein als Wirklichkeit und den einzelnen Wesen“126 auf. Das Sein, so betont Balthasar immer wieder, ist hier zum letzten Mal Mysterium, bevor es zum eindeutigen Begriff formalisiert wird.127 Sein Anliegen ist es, diese Geheimnishaftigkeit wieder neu bewusst zu machen, um dergestalt einen Ansatzpunkt zur Überwindung der Formalisierung des Seinsbegriffs zu einer Kategorie menschlichen Denkens und somit auch des theologischen Bewältigungsdenkens zu gewinnen. In diesem Sinne also greift er die Realdistinktionslehre auf, um sie ausgehend vom Einzelmenschen über vier Stufen vertiefend zu entfalten.128 „Dabei sieht Balthasar die Differenz nicht nur zwischen … Seienden und Sein, Wesenheiten und Sein sondern zutiefst als die Differenz zwischen allgemeinem Sein und Gott.“129
Ansatzpunkt ist die Erfahrung der Kontingenz des eigenen Daseins, der jeder Mensch in der Begegnung mit anderen Seienden unweigerlich