Allgemeines Verwaltungsrecht. Mike Wienbracke
Befindet sich der vorläufige Verwaltungsakt mithin am untersten Ende der Skala der zeitlichen Geltungsdauer eines Verwaltungsakts, so ist der Dauerverwaltungsakt an deren oberstem Punkt zu verorten. Er erschöpft sich nicht – wie der „Momentverwaltungsakt“[113] – in einem einmaligen Ge- oder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern begründet bzw. verändert ein auf Dauer, d.h. während eines bestimmten Zeitraums, berechnetes und in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis (Rn. 122; z.B. Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 S. 1 GewO). Bildlich kann der Dauerverwaltungsakt als Summierung einer Vielzahl von einzelnen Verwaltungsakten gedacht werden, die aus verwaltungsökonomischen Gründen in einem Verwaltungsakt zusammengefasst sind (z.B. Bescheid, in dem für eine gewisse Dauer vierteljährliche Ratenzahlungspflichten zur Tilgung eines Ausbildungsförderungs-Darlehens festgesetzt werden).
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Als Beispiel für den o.g. Teilakt (Rn. 64) wird klassischerweise die Bewertung einer einzelnen Klassenarbeit genannt, welche lediglich über den Leistungsstand des Schülers informiert und die Einzelnote im Zeugnis vorbereitet. Auch Letzterer wird regelmäßig der Regelungscharakter abgesprochen und im Grundsatz nur das in der Gesamtnote eines Abschlusszeugnisses zum Ausdruck kommende Gesamtergebnis als Verwaltungsakt qualifiziert.[114] Abweichendes gilt ausnahmsweise dann, wenn das jeweils einschlägige Fachrecht (Prüfungsordnung) dahingehend auszulegen ist, dass der Einzelnote Regelungsqualität i.S.v. § 35 S. 1 VwVfG zukommt[115] (z.B. ist eine Teilnote im Abiturzeugnis für sich betrachtet dann rechtserheblich, wenn von ihr die Zulassung zu einem „numerus clausus“-Studienfach abhängt).[116]
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Abzugrenzen vom nicht-regelnden Teilakt (Rn. 67) sind (verbindliche) Teilgenehmigungen und Vorbescheide als besondere Erscheinungsformen des Verwaltungsakts. Mit ihnen entscheidet die Behörde abschließend über einen in tatsächlicher Hinsicht (Teilbaugenehmigung gem. § 61 LBO BW, Art. 70 BayBO, § 76 BauO NRW 2018; z.B. Baugenehmigung für die ersten drei Geschosse eines zehnstöckig geplanten Hochhauses) bzw. in rechtlicher Hinsicht ([Bau-]Vorbescheid gem. § 57 LBO BW, Art. 71 BayBO, § 77 BauO NRW 2018; z.B. Entscheidung über die planungsrechtliche Zulässigkeit eines Bauvorhabens nach §§ 29 ff. BauGB,[117] siehe das Beispiel in Rn. 290) abtrennbaren Teil eines komplexen Gesamtvorhabens. Dadurch werden im Interesse der Effizienz des Verwaltungsverfahrens einzelne Entscheidungen abgeschichtet.
Hinweis
Im Gegensatz zu den unselbständigen Vorbereitungshandlungen (Rn. 64) und Teilakten (Rn. 67), die als vorgelagerte Realakte jeweils keine Bindungswirkung für die im nachfolgenden Verwaltungsakt getroffene Regelung entfalten, haben die verbindlichen Teilgenehmigungen und Vorbescheide konstitutive Bedeutung für die Rechtsstellung des jeweiligen Betroffenen (siehe das Beispiel in Rn. 290).[118]
f) Einzelfall
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Gem. § 35 S. 1 VwVfG ist weiteres Begriffsmerkmal des Verwaltungsakts, dass die hoheitliche Maßnahme der Behörde auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts zur Regelung eines „Einzelfalls“ ergeht. Mit diesem Merkmal wird der Verwaltungsakt abgegrenzt von untergesetzlichen Rechtsnormen (Gesetze im materiellen Sinn), die in Gestalt von Rechtsverordnungen (Rn. 12) und Satzungen (Rn. 13) der Verwaltung ebenfalls als Handlungsformen zur Verfügung stehen. Entsprechend der zahlenmäßigen (Un-)Bestimmtheit der von einer Regelung erfassten Sachverhalte (abstrakt oder konkret) und Adressaten (individuell oder generell) ist diese entweder – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 35 S. 1 VwVfG – als Verwaltungsakt oder als Rechtsnorm zu qualifizieren.[119] Denklogisch kann insoweit zwischen folgenden Kombinationsmöglichkeiten differenziert werden:
• | konkret-individuelle Regelungen betreffen einen nach „Ort, Zeit und sonstigen Umständen bestimmten Sachverhalt“[120] (konkret) und richten sich an eine bestimmte Person (individuell). Sie stellen den Prototyp einer Einzelfallregelung i.S.v. § 35 S. 1 VwVfG dar (z.B. Hauseigentümer H wird verpflichtet, sein Haus abzureißen). Erlässt die Behörde gegenüber einem – zumindest zahlenmäßig – feststehenden Kreis von Personen eine Vielzahl inhaltlich gleichlautender, rechtlich jeweils selbstständiger Bescheide „in einem Bündel“, so spricht man von einer Sammelverfügung (z.B. Verfügung an alle Hauseigentümer der Stadt S, ihre Dächer jeweils vom Schnee zu befreien). Demgegenüber handelt es sich bei der Allgemeinverfügung um einen einzigen Verwaltungsakt (s.u.); |
• | abstrakt-individuelle Regelungen richten sich an eine bestimmte Person (individuell) und geben dieser für jeden – zahlenmäßig unbestimmten – Fall des Eintretens eines nach allgemeinen Merkmalen beschriebenen Sachverhalts (abstrakt) eine bestimmte Handlungspflicht auf (z.B. an den Unternehmer U gerichtete Anordnung, bei jeder Glatteisbildung die Straße vor seinem Betriebsgrundstück zu streuen).[121] Auch hierbei handelt es sich um die Regelung eines Einzelfalls i.S.v. § 35 S. 1 VwVfG – sei es, dass aufgrund der konkreten Handlungspflicht in Wirklichkeit schon gar keine abstrakte Regelung vorliegt oder weil jedenfalls aufgrund des individuellen Adressaten von einer Einzelfallregelung auszugehen ist; |
• | abstrakt-generelle Regelungen betreffen eine unbestimmte Vielzahl von Fällen (abstrakt) und richten sich an eine unbestimmte Vielzahl von Personen (generell). Definitionsgemäß handelt es sich bei derartigen Regelungen (z.B. ordnungsbehördliche Verordnung nach §§ 25 ff. OBG NRW) um Rechtsnormen (Gesetze im materiellen Sinn; Rechtsverordnung, Satzung; Rn. 12 f.). Keinesfalls regeln sie einen Einzelfall i.S.v. § 35 S. 1 VwVfG;[122] |
Beispiel[123]
Da es in den vergangenen Jahren im Bereich des „Bermuda-Dreiecks“ mit zunehmender Tendenz zu Ruhestörungen, Vandalismus, Verunreinigungen, Verstößen gegen das Jugendschutzgesetz und Körperverletzungen gekommen ist, erließ die zuständige niedersächsische Behörde eine „Allgemeinverfügung“, die für ein Teilgebiet der Innenstadt von S und zeitlich beschränkt auf Freitag- und Samstagnacht den Konsum von Alkohol, das Mitführen von alkoholhaltigen Getränken und den Konsum von Getränken aus Glasflaschen und Gläsern verbietet. Die sofortige Vollziehung wurde gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO angeordnet. Da die Verursacher nicht namentlich bekannt sind und von Wochenende zu Wochenende wechseln, richtet sich die Allgemeinverfügung „an alle“. Gegen diese Allgemeinverfügung wendet sich Jurastudent J klageweise vor dem Verwaltungsgericht, wo er zugleich einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Er macht geltend, dass das „Bermuda-Dreieck“ auch für ihn ein beliebter Treffpunkt mit seinem Freundeskreis sei, um gemeinsam an Abenden am Wochenende Alkohol und andere Getränke aus Flaschen und Gläsern zu konsumieren, von diesem Personenkreis aber keine Gefahr der Begehung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten ausgehe. Ist der Antrag begründet?
Ja. Das Gericht stellt die aufschiebende Wirkung der Klage des J gem. § 80