Allgemeines Verwaltungsrecht. Mike Wienbracke
Aussetzung des angefochtenen Verwaltungsakts andererseits vorliegend das private Interesse von J überwiegt. Die insoweit insbesondere gebotene Berücksichtigung der Erfolgsaussicht der Klage ergibt, dass die angefochtene Allgemeinverfügung offensichtlich rechtswidrig ist. Die rechtliche Zulässigkeit der gewählten Form der Allgemeinverfügung setzt voraus, dass inhaltlich mit ihr keine abstrakt-generelle Regelung für eine unbestimmte Vielzahl von Gefahrenlagen und Personen getroffen worden ist. Denn in diesem Fall hätte das Verbot in der Rechtsform – und im dafür gebotenen Verfahren – der im Gefahrenabwehrrecht zur Bekämpfung abstrakter Gefahren ausdrücklich vorgesehenen Verordnung nach § 55 Nds. SOG erlassen werden müssen. Doch selbst wenn man hier davon ausginge, dass sich die Regelung an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Adressatenkreis richtet und sie deshalb die Merkmale eines Verwaltungsakts in der Form der personenbezogenen Allgemeinverfügung i.S.d. § 35 S. 2 Var. 1 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 NVwVfG erfüllt, begegnet sie durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Der hierdurch bewirkte Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG betrifft nämlich auch Personen, die – wie J – zwar durch den Konsum oder das Mitführen alkoholischer Getränke bzw. den Konsum von Getränken aus Flaschen oder Gläsern die Voraussetzungen der Verbotstatbestände erfüllen, die aber bislang nicht mit den zur Begründung der Allgemeinverfügung beschriebenen Verhaltensweisen aufgefallen sind. So lässt sich weder der Konsum von Alkohol oder das Mitführen alkoholischer Getränke noch der Konsum von Getränken aus Glasflaschen und Gläsern an sich anlässlich des Aufenthalts auf öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen i.S.d. § 2 Abs. 1 NStrG als Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung i.S.d. § 11 Nds. SOG bewerten. Denn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ist nur gegeben, wenn bei bestimmten Arten von Verhaltensweisen oder Zuständen nach allgemeiner Lebenserfahrung oder fachlichen Erkenntnissen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden für die polizeilichen Schutzgüter im Einzelfall, d.h. eine konkrete Gefahrenlage, einzutreten pflegt. Dies ist offenkundig bei dem üblichen, gesellschaftlich allgemein akzeptierten Alkoholkonsum (auch) in der Öffentlichkeit und erst recht hinsichtlich des bloßen Mitführens von alkoholischen Getränken nicht der Fall.
• | konkret-generelle Regelungen betreffen zwar einen bestimmten Sachverhalt (konkret), richten sich aber an eine unbestimmte Vielzahl von Personen (generell). Von daher ist fraglich, ob aufgrund der Konkretheit eine Einzelfallregelung (und damit ein Verwaltungsakt) oder aufgrund der Generalität eine Rechtsnorm anzunehmen ist (z.B. eine Rechtsverordnung). Eine Stellungnahme hierzu ist allerdings insoweit entbehrlich, als § 35 S. 2 VwVfG das Merkmal „Einzelfall“ erweitert. Danach liegt auch dann ein Verwaltungsakt – und zwar in Form der Allgemeinverfügung, für die Erleichterungen bei der Anhörung (§ 28 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG), der Begründung (§ 39 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG) und der Bekanntgabe (§ 41 Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 4 VwVfG) gelten – vor, wenn die übrigen Voraussetzungen des § 35 S. 1 VwVfG erfüllt sind und – die Regelung sich an einen nicht individuell, sondern lediglich nach allgemeinen Merkmalen, d.h. „gattungsmäßig“, bestimmten (z.B. Auflösung einer gegenwärtig stattfindenden Versammlung)[124] oder bestimmbaren (z.B. Verbot einer zukünftig geplanten Versammlung) Personenkreis richtet, sog. personenbezogene Allgemeinverfügung (§ 35 S. 2 Var. 1 VwVfG); |
Hinweis
„Die Abgrenzung zwischen einem ,normalen‘ Einzelverwaltungsakt bzw. mehreren gleichlautenden Einzelverwaltungsakten (Sammelverfügung [s.o.]) nach § 35 S. 1 VwVfG und personenbezogener Allgemeinverfügung nach § 35 S. 1 Var. 1 VwVfG kann schwierig sein.“[125] Ipsen schlägt insoweit vor darauf abzustellen, wer die Adressatenindividualisierung vornimmt: Ist dies die Behörde, so handele es sich um einen Fall von § 35 S. 1 VwVfG; ist dies der Bürger, so sei § 35 S. 2 Var. 1 VwVfG einschlägig.[126] Für die Bestimmbarkeit i.S.d. der letztgenannten Vorschrift reiche es daher aus, wenn der erfasste Personenkreis im Bekanntgabezeitpunkt noch nicht objektiv feststeht, sondern erst zu demjenigen Zeitpunkt, in dem die Wirkungen gegenüber den Betroffenen eintreten.[127]
Beispiel[128]
Nachdem es in der Nähe von Stuttgart vermehrt zu Typhuserkrankungen gekommen war, verstärkte sich der Verdacht, dass die Ursache hierfür auf den Verzehr von Endiviensalat zurückzuführen ist. Daraufhin verbot das Landesinnenministerium mit sofortiger Wirkung jeglichen Handel mit Endiviensalat durch Groß- und Einzelhändler in allen vom Typhus befallenen Landkreisen. Aufgrund dieses Verbots verdarben bei Großhändler G mehrere Tonnen Endiviensalat. Nach Aufhebung des Verbots begehrt G dessen Rechtswidrigkeit gerichtlich feststellen zu lassen. Welche Klageart ist insoweit statthaft?
Statthafte Klageart ist insoweit die Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO. Denn bei dem Verkaufsverbot handelt es sich um einen Verwaltungsakt in Gestalt der Allgemeinverfügung. Es traf keine abstrakten Anweisungen, sondern regelte einen Einzelfall des öffentlichen Rechts. Gegenstand des Verkaufsverbots war ein einzelnes reales Vorkommnis, die konkrete Seuchengefahr (a.A.: Vielzahl gedachter Verkaufsfälle[129]), in deren Regelung es sich erschöpfte und nicht ein „gedachter Fall“, wie er für eine Rechtsnorm charakteristisch und erforderlich ist. Dieser Einordnung steht auch nicht entgegen, dass der Kreis der Adressaten des Verkaufsverbots im Zeitpunkt seines Erlasses nicht genau bestimmbar war, da nicht alle Landkreise von der Epidemie ergriffen waren. Zwar konnte der einzelne Händler deshalb unter Umständen nicht wissen, ob er unter das Verbot fiel. Doch handelt es sich hierbei nur um partielle und ausscheidbare Unbestimmtheiten, welche die Allgemeinverfügung insoweit ggf. fehlerhaft erscheinen lassen, sie jedoch nicht begrifflich ausschließen.
– die öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache betroffen ist, sog. sachbezogene Allgemeinverfügung bzw. dinglicher Verwaltungsakt (Rn. 57; § 35 S. 2 Var. 2 VwVfG; z.B. Widmung[130] oder [Um-]Benennung einer Straße) oder |
Beispiel[131]
Rechtsanwalt R ist Anwohner der „Heinrich-Heine-Straße“ in der Gemeinde G. Nach Eingliederung von G in die Stadt S wurde die in G befindliche „Heinrich-Heine-Straße“ von der hierfür zuständigen Bezirksvertretung per Beschluss in „Oscar-Wilde-Straße“ umbenannt, da es ebenfalls in S bereits eine „Heinrich-Heine-Straße“ gibt. R ist hiermit nicht einverstanden, entstehen ihm infolge der Straßenumbenennung doch erhebliche Kosten (Anschaffung neuer Briefbögen und -umschläge, Mitteilung der Anschriftenänderung gegenüber seinen Mandanten etc.). Mittels welcher Klageart kann sich R gegen die im Amtsblatt von S veröffentlichte Straßenumbenennung zur Wehr setzen?
Die statthafte Klageart bemisst sich nach dem klägerischen Begehren (§ 88 VwGO), welches sich vorliegend gegen den Beschluss des Gemeinderats von S richtet. Die darin enthaltene Änderung der Straßenbenennung setzt sich zusammen aus der Beseitigung der bisherigen Straßenbenennung sowie der Neubenennung. Da durch die Benennung einer gemeindlichen Straße eine für die Verkehrs- und Erschließungsfunktion wesentliche und deshalb (ordnungs-)rechtlich bedeutsame Eigenschaft der Straße festgelegt wird, handelt es sich bei der Straßenbenennung um eine sachbezogene Allgemeinverfügung i.S.v. § 35 S. 2 Var. 2 L-VwVfG, die im Wege der Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO anzugreifen ist. Entsprechendes gilt für die hier in Streit stehende Umbenennung der Straße.
– die Benutzung einer Sache durch die Allgemeinheit betroffen ist, sog. benutzungsregelnde Allgemeinverfügung (§ 35 S. 2 Var. 3 VwVfG, z.B. Verkehrsverbote und -gebote i.S.v. § 41 Abs. 1 StVO, Regelung über die Benutzung einer kommunalen Anstalt wie Bibliothek, Museum oder Schwimmbad; siehe Übungsfall Nr. 1). |
Anders als in den Fällen des § 35 S. 2 Var. 2 VwVfG geht es in denjenigen des § 35 S. 2 Var. 3 VwVfG nicht um die grundsätzliche Definition des rechtlichen Zustands einer Sache, sondern um die nähere