Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
je nach Forschungsansatz im Vordergrund stehen.
42
Empirische Daten werden vorwiegend im Zusammenhang mit dem Unternehmen als Opfer erhoben.[3] In der kriminalpolitischen Diskussion hingegen wird ein gegenteiliger Eindruck vermittelt: dass nämlich Unternehmen „an sich“ als kriminogenes Phänomen anzusehen sind, da ein Großteil der Wirtschaftskriminalität „unter dem Mantel einer handelsrechtlichen Gesellschaft“ begangen würde.[4] Beide Hypothesen lenken den Blick auf wichtige Aspekte: die Abhängigkeit des Unternehmens von seinen Mitarbeitern und den Einfluss des Unternehmens auf die Mitarbeiter; beide Aspekte sind also anhand von Beobachtungen zu prüfen.[5]
43
Dies setzt zunächst eine Auseinandersetzung mit den empirischen Grundlagen voraus. Das darin gesammelte Erfahrungswissen soll in einem nächsten Schritt mit theoretischen Positionen, insbesondere in wirtschaftskriminologischen Theorien, der Systemtheorie und neueren Ansätzen der Managementforschung, abgeglichen werden und nach kohärenten Schlüssen gesucht werden. Der Ertrag aus dieser Untersuchung soll keine Wahrheit[6] darstellen, denn bei der kriminologischen Herangehensweise gilt, dass die Beobachtung der Sozialwelt nicht von einem externen objektiven Standpunkt erfolgt. Die kriminologische Perspektive ist durch die Anknüpfung an das normative Programm des Strafrechts,[7] um abweichendes Verhalten beschreiben zu können, stets auch eine, die innerhalb der beobachteten Welt angesiedelt ist. Es geht im folgenden Kapitel also „nur“ um die begriffliche Frage, die doch von so zentraler Bedeutung ist, da es letztlich die Begriffe sind, die uns erlauben, die Welt aus einer bestimmten Perspektive wahrzunehmen.[8]
44
Die besondere Schwierigkeit einer konsistenten Grenzziehung liegt nicht nur in den divergierenden erkenntnisleitenden Hypothesen, sondern auch in der hier wieder aktuell werdenden, „alten“ kriminologischen Frage der Unterscheidung zwischen delicta mala mere prohibita und delicta mala per se.[9] Der graue Bereich wirtschaftlicher Grenzmoral, in dem es „Unehrenhaftigkeiten“[10] und Unsicherheiten darüber gibt, „was für den einen noch legale Geschäftstüchtigkeit“ ist und „für den anderen bereits Betrug“,[11] bleibt schwer greifbar. Die begriffliche Fixierung von Konformität und abweichendem Verhalten enthält zwangsläufig einen relativen Aspekt.[12] Wie eingangs erwähnt: Unternehmenskriminalität ist ein Phänomen, das in besonderer Weise mit allgemeineren Elementen der Sozialstruktur verknüpft ist.[13] Zieht man Unternehmenskriminalität gar als Feld der Kriminalität der Mächtigen in Erwägung, stellt sich auch Sutherlands sozialkritische Frage nach der Einbeziehung strafloser, aber strafwürdiger Sachverhalte neu.[14] Dahinter steht letztlich der Gedanke, dass bestimmte Sachverhalte nicht pönalisiert werden, weil „die Mächtigen“ Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess nehmen.[15] Die Einbeziehung von „noch nicht Strafbarem“ – wie sie der kriminalsoziologischen Herangehensweise[16] eigen ist – kann also dazu beitragen die Zwischenschritte von illegitim über illegal zu pönalisiert transparent zu machen.[17] Dies ist auch deshalb wichtig, als Wells zu Recht bemerkt, dass auch eine neutralisierende Sprache dazu führt, dass etwas als „Unfall“, „Panne“ und nicht als Verbrechen bzw. „real crime“ bezeichnet wird; mit entsprechenden Konsequenzen für die strafrechtliche Haftung.[18]
Anmerkungen
Im früheren deutschen Schrifttum findet sich häufig der Begriff „Verbandskriminalität“, der nach Busch die kriminelle Handlung eines als Verbandsvertreter Handelnden bezeichnet, in der Absicht die Interessen des Verbandes zu wahren und dies unter Ausnutzung der Verbandsmacht. Siehe hierzu Busch Grundfragen, S. 206 und ausführlich Müller Die Stellung der juristischen Person im Ordnungswidrigkeitenrecht, S. 4 ff. Im Kern sich anschließend, jedoch etwas differenzierter, versteht Schmitt unter Verbandskriminalität „die Summe der Individualdelikte, die von Tätern im Verbandsbereich unter Ausnutzung der Verbandsmacht im Interesse des Verbands begangen werden, sofern diese Delikte nicht aus dem Rahmen der Verbandstätigkeit fallen“; Schmitt Strafrechtliche Maßnahmen gegen Verbände, S. 137.
Vgl. diesbezüglich auch die Beobachtungen von Schroth Unternehmen als Normadressaten, S. 6. Im Zusammenhang mit der Kriminalität von Führungskräften vgl. Schünemann Unternehmenskriminalität und Strafrecht, S. 5 und Schünemann wistra 1982, 41 (41 ff.) Zum Begriff im Allgemeinen Kaiser Kriminologie, S. 772 ff. und Tiedemann in: Multinationale Unternehmen und Strafrecht, S. 1 (3), sowie unter der Bezeichnung Corporate Crime: Clinard Corporate ethics and crime, S. 12 m. w. N.
Vgl. beispielsweise die empirischen Erkenntnisse ab Rn. 66.
So beispielsweise der Entschließungsantrag des Landes Hessen (BR-Drucks. 690/98 unter I), das sich auf eine Untersuchung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht aus dem Jahr 1984 beruft. Dies ist jedoch ein Fehlzitat, vgl. Liebl Erfassung von Wirtschaftsstraftaten, S. 135. Hierauf macht König in: Verbandsstrafe, S. 39 (46) aufmerksam und weist auf die zurückhaltendere Formulierung der „im Zusammenhang mit dem Unternehmen begangenen Straftaten“ in der Untersuchung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht aus dem Jahr 1984 hin. Dies entspricht auch dem Begriffsverständnis Schünemanns: er stellt auf strafwürdige Sachverhalte, die im Zusammenhang mit der Unternehmenstätigkeit auftreten; vgl. nur Schünemann Unternehmenskriminalität und Strafrecht, S. 5 ff. m. w. N. Er legt einen gänzlich anderen, nämlich nicht-individuellen, Schwerpunkt in seiner Definition von Unternehmenskriminalität, die nicht durch die Ausnutzung der Verbandsmacht seitens des Täters, sondern umgekehrt durch die Beeinflussung des Täters seitens der Verbandsmacht charakterisiert ist. Schünemann bezeichnet „das abweichende Verhalten im Dienste eines Unternehmens“ als Unternehmenskriminalität (vgl. S. 14, 106).
Vgl. zu dieser wissenschaftstheoretischen Herangehensweise Carrier Wissenschaftstheorie zur Einführung, S. 58 ff.
„Jeder, der behauptet, die Wahrheit zu kennen, teilt nur mit, dass er sein Denkschema nicht reflektiert hat.“ Luhmann Short Cuts, S. 134.
Die offizielle Zuschreibung von Kriminalität erfolgt generell-abstrakt durch das Strafrecht. Vgl. Kunz Kriminologie, S. 3 f., der ausführt „Was macht kriminelles Verhalten aus, wenn nicht seine Ausweisung als Rechtsbruch?“ (S. 4) Vgl. auch Hess KrimJ 1976, 1 (12). Das Abstellen auf den Bruch allgemeiner oder international anerkannter Rechtsgrundsätze entspricht ebenfalls einer Orientierung am positiven Recht, da es sich hierbei auch um verbindliche Normen handelt. Vgl. insofern die Differenzierung von Reese Großverbrechen und kriminologische Konzepte, S. 92 m. w. N.
Neuhäuser Unternehmen als moralische Akteure, S. 23.
Zu diesen Begriffen und dem Ringen um einen natürlichen bzw. materiellen Verbrechensbegriff vgl. Garofalo Criminologia, 1885/1968, S. 4 ff. Die Frage danach, was Kriminalität im Kern – und jenseits