Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
legte.[14] Er konzentrierte sich auf eine Branche und untersuchte Korruptions-, Produktsicherheits- und Kartellrechtsdelikte, aber auch „Schwindeleien“,[15] die unter Mitwirkung der Leitungsebene zur Gewinnmaximierung erfolgten. Trotz der Ausrichtung der Studie auf die personale Leitungsebene, trägt sie zwei Beobachtungen hinsichtlich struktureller Besonderheiten von corporate crime bei, nämlich zum einen die Begehung der Delikte in einem „Klima“ der Unehrlichkeit oder Toleranz von unlauteren Methoden und zum anderen die systematische „Verschleierung“ angelegter Strukturen durch doppelte Aktenführung und Einsatz externer Agenten.[16]
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Schließlich sollen diese US-amerikanischen Befunde durch die zeitlich vorangehenden Befunde Sutherlands ergänzt werden, die bislang vor allem im Zusammenhang mit wirtschaftskriminologischer Begriffsbildung thematisiert wurden. Seine Definition der white collar-Kriminalität prägte – oder revolutionierte – die (Wirtschafts-)Kriminologie auf verschiedenen Ebenen, auf die im Rahmen der Begriffsbildung noch näher einzugehen sein wird. Sutherlands Arbeiten bieten jedoch auch als kriminologische Hellfeldstudie einen empirischen Anknüpfungspunkt: Die kriminologische Erforschung der Erscheinung „Wirtschaftskriminalität“[17] hatte, abgesehen von wenigen Ausnahmen,[18] kaum stattgefunden, als Sutherland 1949 eine empirische Untersuchung der 70 größten Industrie- und Handelsgesellschaften der USA begann und Verletzungen des Wettbewerbs- und Urheberrechts, unfaire Arbeitspraktiken, „ausgedehnte Betrügereien“ und ähnliche Straftaten feststellte.[19] Intuitiv – und für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung – legte Sutherland in seiner Untersuchung der Wirtschaftskriminalität den Fokus auf Unternehmen als den Hauptakteuren der Wirtschaft. Seine Kriterien, Ergebnisse und Beschreibungen blieben zwar meist abstrakt; dies jedoch deshalb, weil er eine allgemein gültige Erklärung von Kriminalität – und nicht speziell von Wirtschaftskriminalität – anstrebte.[20] Gleichwohl wurde mehr als nur ein Bezug zum Unternehmen hergestellt; es stand im Mittelpunkt seiner Untersuchung.
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Er stellte heraus, dass trotz einer Vielzahl festgestellter Verstöße gegen Wettbewerbs-, Patent- oder Arbeitsgesetze eine strafgerichtliche Verurteilung nur selten erfolgte.[21] Diesen Umstand führte er in erster Linie auf gesellschaftliche Ursachen zurück und unternahm daher im Folgenden den bekannten Vergleich der Verbrechen der „white collar-Klasse“, welche nach seiner Auffassung aus „respektablen oder wenigstens respektierten Geschäftsleuten bestand“ mit denen der „unteren Klasse“, die aus Personen mit niedrigerem sozialökonomischen Status bestand.[22] Zweck dieses Vergleichs war in erster Linie aufzuzeigen, dass die üblichen Konzepte, welche Kriminalität auf soziopathische oder psychopathische Bedingungen zurückführen, die mit Armut zusammen auftreten, unstimmig sind, weil sie wesentliche Bereiche kriminellen Verhaltens von Personen, die nicht der „Unterschicht“ angehören, unberücksichtigt lassen.[23] Trotz dieses sozialkritischen und (individual)täterorientierten Ansatzes darf m. E. nicht übersehen werden, dass er zwei – für die Erklärung von Unternehmenskriminalität bedeutsame – Aspekte benannte: zum einen beobachtete er, dass die Rechtsverstöße und „ausgedehnten Betrügereien“ über den gesamten, vierzig Jahre währenden, von ihm beobachteten Zeitraum stattfanden, also Mechanismen zum Tragen kamen, die unabhängig von Personenwechseln waren. Zum zweiten platzierte er das Individuum und seine persönliche Motivation zur Straftatbegehung erstmals in Bezug zu seiner Stellung und Funktion innerhalb eines Unternehmens. Sutherland veranschaulichte diese Beobachtung, indem er A. B. Stickney, einen Eisenbahnpräsidenten, zitiert, der im Hause J. P. Morgans im Jahre 1890 zu sechzehn anderen Eisenbahnpräsidenten gesagt haben soll: „Ich habe äußersten Respekt vor Ihnen, meine Herren, als Individuen, aber als Eisenbahnpräsidenten würde ich Ihnen nicht meine Uhr anvertrauen, ohne Sie dabei aus den Augen zu lassen.“[24]
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Eingedenk dieser speziellen Erkenntnisse zur Unternehmenskriminalität soll im Folgenden auf die empirischen Erkenntnisse zur „nächsthöheren Ebene“ – der Wirtschaftskriminalität – zurückgegriffen werden, um aktuelle Befunde einbeziehen zu können. Zudem ist es plausibel, Rückschlüsse von der „Obermenge Wirtschaftskriminalität“ auf die „Teilmenge Unternehmenskriminalität“ ziehen zu können. Wie eingangs ausgeführt ist nicht aus dem Blick zu verlieren, dass bei diesem Ansatz das Problem der selektiven Beobachtung angelegt ist, weil der befragte Beobachter gleichzeitig seinen Rollenerwartungen und Interaktionsverpflichtungen innerhalb des Unternehmens ausgesetzt ist.[25]
Anmerkungen
Lehmann und Mitarbeiter des Lehrstuhls Kriminologie der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR, Forschungsbericht, Erfordernisse und Möglichkeiten einer wirksamen Vorbeugung von schweren Angriffen gegen das sozialistische Eigentum im Zusammenhang mit Berufstätigkeit oder Funktionsausübung in der Wirtschaft, 1989, unveröffentlicht; hier zitiert aus Arnold in: Deutsche Wiedervereinigung, S. 3 (27 ff.).
Vgl. hierzu ausführlich ab Rn. 104 ff.
§ 171 StGB-DDR, Falschmeldung und Vorteilserschleichung: „Wer als Staatsfunktionär, als Leiter oder leitender Mitarbeiter eines Wirtschaftsorgans oder Betriebes im Rahmen seiner Verantwortung wider besseren Wissens in Berichten, Meldungen oder Anträgen an Staats- oder Wirtschaftsorgane unrichtige oder unvollständige Angaben macht, um 1. Straftaten oder erhebliche Mängel zu verdecken; 2. Genehmigungen oder Bestätigungen für wirtschaftlich bedeutende Vorhaben zu erlangen; 3. zum Nachteil der Volkswirtschaft erhebliche ungerechtfertigte wirtschaftliche Vorteile für Betriebe oder Dienstbereiche zu erwirken, wird mit öffentlichem Tadel, Geldstrafe, Verurteilung auf Bewährung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.“
Vgl. S. 142 des Forschungsberichts; siehe Arnold in: Deutsche Wiedervereinigung, S. 3 (27).
Siehe hierzu Arnold in: Deutsche Wiedervereinigung, S. 3 (28).
Arnold in: Deutsche Wiedervereinigung, S. 3 (29).
Arnold in: Deutsche Wiedervereinigung, S. 3 (29).
Die auch – mit einem geringeren Stellenwert ausgezeichneten – objektiven Kriterien „räumliche und zeitliche Unmöglichkeit der Anforderungssituation zu entsprechen“ oder die komplizierte Ausgangssituation wegen des Mangels an technischen Mitteln und Fachkräften ist für die vorliegende Arbeit weniger von Interesse, weil sie mit der Ausgangssituation in der DDR zusammenhängt.
Insgesamt wurden 1553 Untersuchungsverfahren, welche Verstöße im Hinblick auf Informationspflichten, Arbeitsschutzvorschriften, Wettbewerbsrecht, Steuergesetze, Umweltstandards und Korruptionsvorschriften untersucht. Vgl. Clinard/Yeager Corporate Crime, S. 110 ff.
52% der gegenüber insgesamt 300 Unternehmen eröffneten Verfahren konzentrierten