Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?. Charlotte Schmitt-Leonardy
Siehe hierzu AKUS Kriminalitätsbarometer Berlin-Brandenburg, S. 14 ff., 23 ff., 25 f.
„Die Hilflosigkeit des Staates im Hinblick auf die Wirtschaftskriminalität“ wird auch in dieser – wie in fast jeder – Studie betont; AKUS Kriminalitätsbarometer Berlin-Brandenburg, S. 25.
Insbesondere in den 2005 und 2007 herausgegebenen Kriminalitätsbarometern.
bb) KPMG – Wirtschaftskriminalität in Deutschland
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Auf nicht-staatliche empirische Erkenntnisse zurückzugreifen heißt, sich im Hinblick auf Neutralität und Objektivität dem Vorwurf auszusetzen, die Studie könne tendenziell von den Interessen der Auftraggeber bestimmt sein. Und dennoch heißt die Entscheidung für diese Ergebnisse auch, ein Gesamtbild der kriminologischen Situation abbilden zu wollen. Die Studie von KPMG stellt eine große Feldstudie zum Thema Wirtschaftskriminalität dar, die ihre Erkenntnisse auf 300 branchenübergreifend – telefonisch – befragte Unternehmensmitarbeiteraussagen stützt.[1] Eines der Hauptergebnisse der Studie aus dem Jahr 2006 war der nachgewiesene und signifikante Zusammenhang zwischen der Größe des Umsatzvolumens und der Häufigkeit wirtschaftskrimineller Handlungen im Unternehmen. Dies könnte dem Umstand geschuldet sein, dass effektivere Überwachungs- und Kontrollmechanismen in großen Unternehmen zu einer höheren Aufdeckungsrate führen und daher eine höhere Zahl von wirtschaftskriminellen Handlungen hervorbringen.[2] 2010 stellen die Autoren fest, dass die Adressierung des Themas in den Unternehmen angekommen ist und die Unternehmen in den letzten drei Jahren massiv in ihre Kontroll- und Aufklärungssysteme investiert haben.[3] Dennoch seien insbesondere diese Systeme aufmerksam weiter zu beobachten, da sie sich nicht automatisch an ein neues Umfeld anpassten und insofern in falscher Sicherheit wiegen könnten.[4]
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Das Problem „Wirtschaftskriminalität“ wird von 80% der Unternehmen als „ernstes Problem“ bewertet und auf gesamtgesellschaftliche Trends, Einkommensgefälle, Internationalisierung der Märkte und das dortige Aufeinandertreffen unterschiedlicher Werteverständnisse zurückgeführt. Damit ist die Sensibilisierung der Unternehmen im Vergleich zu den letzten drei Jahren deutlich gestiegen.[5] 67% der befragten Unternehmen verfügen nach eigener Ansicht über „gute“ oder „sehr gute“ Kenntnisse bezüglich wirtschaftskrimineller Handlungsmuster, allerdings ist dieses Fachwissen deutlich häufiger bei betroffenen Unternehmen feststellbar, was auf einen reaktiven Umgang mit diesem Kriminalitätsphänomen hindeutet.[6] Zudem ist trotz der Eigenwahrnehmung, über Fachwissen im Umgang mit Wirtschaftskriminalität zu verfügen, ein signifikantes Defizit in der Funktionstrennung erkennbar, das die Autoren beispielsweise an fehlender konsequenter Durchführung des Vier-Augen-Prinzips – entscheidend zur Vermeidung von Wirtschaftskriminalität – festmachen.[7] Obwohl eine solche Kontrollstruktur von 69% der Befragten tatsächlich als Risiko[8] wahrgenommen wird, werden Schulungen und Personalauswahl vernachlässigt[9] und noch seltener auf Compliance über die Grenzen des Unternehmens hinaus, in der Lieferkette, geachtet.[10] Auch die bereits festgestellte Tendenz, eine Betroffenheit im Bereich Diebstahl, Unterschlagung, Betrug und Untreue zuzugeben, hingegen Fälschung von Finanzinformationen sowie Formen des sogenannten Corporate Misconducts, wie Bestechung und Kartellrechtsverstöße, kaum auftauchen, könnte ein Hinweis auf eine selektive Wahrnehmung oder die mangelnde Bereitschaft sein, diesbezügliche Einblicke zu gewähren. Die unter der Skala „Erfahrungen mit Wirtschaftskriminalität“ zusammengefassten Items sind also für die vorliegende Untersuchung zur Unternehmenskriminalität nur bedingt brauchbar, denn sie vermischen die Aspekte „Unternehmen als Opfer“ und „Unternehmen als Täter“.
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Schließlich wird, im Unterschied zu den früheren Ausgaben dieser Studie, besonders auf die „Bedrohung“ des Mittelstands hingewiesen. Hier spielten insbesondere flexible Strukturen, innerhalb derer Spielräume auf Vertrauensbasis entstünden, eine Rolle. Die dort eröffneten Möglichkeiten, einzelfallbezogen zu entscheiden, seien gleichzeitig eine Gelegenheit für Wirtschaftskriminalität. Trotz einer Wahrnehmung dieser Risiken – insbesondere der Bedrohung durch Betrug, Untreue, Korruption (57%), Verletzung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (20%) sowie Verletzung von Schutz- und Urheberrechten (16%) – seien jedoch Präventions- und Schutzkonzepte, beispielsweise für vertrauliche Informationen, nicht etabliert. Im Bereich des Mittelstands spiele zudem der Zufall bei Aufdeckung einer Straftat eine erheblich größere Rolle als bei Großunternehmen.[11] Zusammenfassend und als Unterschied zum Kriminalitätsbarometer Berlin-Brandenburg lässt sich festhalten, dass die „Bedrohung“ durch unternehmensinterne Täter in den Vordergrund gestellt[12] und auch registriert wird, dass obere Hierarchieebenen involviert sein können. Die Umgehung von Kontrollen setzt nämlich meist eine gehobene Stellung und gutes Fachwissen voraus.[13] Zwar wird das Unternehmen auch hier ausschließlich als Geschädigter dargestellt, jedoch finden sich sowohl im Setting der Studie als auch in der Eigenwahrnehmung der befragten Unternehmen Delikte wie Betrug, Korruption, Untreue und Kartellrechtsverstöße und weniger Bagatellkriminalität abgebildet als im Kriminalitätsbarometer Berlin-Brandenburg.
Anmerkungen
Hierbei handelt es sich vorwiegend um Mitarbeiter aus der Geschäftsführung oder um Leiter der Controllingabteilung; siehe hierzu KPMG Wirtschaftskriminalität in Deutschland 2010, S. 28.
„Waren von den großen Unternehmen in den letzten drei Jahren nach eigenen Angaben 55% betroffen, sind es bei den mittleren 31% und bei den kleineren Unternehmen 19%. Offenbar führen die besseren Kontrollmechanismen in größeren Unternehmen in aller Regel zu höheren Aufdeckungsraten.“ So KPMG im Studienbericht auf http://www.innovations-report.de/html/berichte/studien/bericht-67266.html.
KPMG Wirtschaftskriminalität in Deutschland 2010, S. 4.
KPMG Wirtschaftskriminalität in Deutschland 2010, S. 5
Vgl. KPMG Wirtschaftskriminalität in Deutschland 2010, S. 6. In Großunternehmen sind es sogar 90%.
KPMG Wirtschaftskriminalität in Deutschland 2010, S. 7
KPMG Wirtschaftskriminalität in Deutschland 2010, S. 17. Ein Grund für die Notwendigkeit läge darin, dass die Täter überwiegend aus dem eigenen Unternehmen kommen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass ein großer Anteil der wirtschaftskriminell handelnden Personen im eigenen oder in einem anderen Unternehmen nicht auffällig geworden waren. Diese Unauffälligkeit in Bezug auf die Täter setzt sich auch im Zusammenhang mit der Entdeckung der Straftaten fort: in 55% war es Zufall, dass Aufmerksamkeit