Handbuch Medizinrecht. Thomas Vollmöller
Länder in Europa wie etwa Tschechien oder Italien haben eine entsprechende Impfpflicht zum Schutz vor Masern, aber deshalb keineswegs eine bessere Durchimpfungsrate als Deutschland. Während die organisierte Ärzteschaft einer Impfpflicht wohl eher positiv gegenübersteht, sehen es einige Gesundheitspolitiker eher zurückhaltend, so etwa die bayrische Gesundheitsministerin Melanie Hummel „Überzeugung ist besser als Zwang“. Ähnlich zurückhaltend äußert sich der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme vom 27.6.2019.
15
Das Grundgesetz können Impfgegner wohl nicht für ihre Position in Anspruch nehmen. Das gilt sowohl für Art. 2 Abs. 2, Art. 4 und Art. 6 Abs. 2 GG. Hinsichtlich Art. 2 Abs. 2 GG ist zunächst der Parlamentsvorbehalt gewahrt. Der Schutz der Bevölkerung vor aggressiv ansteckenden und gefährlichen Infektionskrankheiten, der nur mit einer Steigerung der Impfquote zur Herbeiführung der sog. „Herdenimmunität“ erfolgreich gewährleistet werden kann, hat auch verfassungsrechtlich einen hohen Stellenwert.[21] Die Impfung ist geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Das Risikopotential der Masern-Impfung ist nachweislich verschwindend gering.[22] Das Grundrecht auf elterliche Sorge schützt nicht nur die Entscheidungshoheit der Personensorgeberechtigten, i.d.R. der Eltern, sondern verpflichtet sie auch, gesundheitliche Gefahren von ihren Schutzbefohlenen abzuwenden.[23] Vor dem Hintergrund des unbestreitbaren individuellen Nutzens der Impfung für den Impfling, gerade im Kleinkindalter, lässt die Verweigerung von Eltern, ihren Kindern diesen Schutz zuzubilligen und sich dabei auch noch auf Art. 6 Abs. 2 GG zu berufen, als rechtsmissbräuchlich einordnen.[24] Art. 4 GG wäre durch die Einführung einer Impfpflicht ebenfalls nicht verletzt. Dieses Grundrecht steht zwar nicht unter einem Gesetzesvorbehalt, ist jedoch keineswegs schrankenlos. So kann sich wohl niemand auf Art. 4 GG berufen, wenn seine Handlungen offensichtlich dem deutschen ordre publique widersprechen wie etwa das Schächten von Tieren oder die Diskriminierung von Frauen oder die Vielweiberei[25]. Dies gilt im Hinblick auf die Impfdiskussion erst recht, wenn sie insoweit mit längst widerlegten Argumenten, Verschwörungstheorien und Leugnung epidemiologischer Erkenntnisse geführt wird.
16
Grundrechtsrelevante Fragen tauchen auch im Rahmen der Kostenerstattungspflicht für Arzneimittel außerhalb ihrer Zulassung auf. Mit Urteil vom 19.3.2002 hatte das BSG[26] entschieden, dass im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich nur dann Kosten für Arzneimittel getragen werden können, wenn sie im Rahmen der Indikationen, für die die Zulassung erteilt worden ist, verabreicht werden. Das BSG hält einen zulassungsüberschreitenden Einsatz von Fertigarzneimitteln nur dann für gerechtfertigt, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ gegeben sind:
– | Das Fertigarzneimittel soll zur Behandlung einer schwerwiegenden Krankheit eingesetzt werden. Dabei versteht das BSG unter einer schwerwiegenden Krankheit solche Krankheiten, die entweder lebensbedrohlich sind oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigen. |
– | Es darf keine vertretbare andere Behandlungsalternative verfügbar sein. |
– | In einschlägigen Fachkreisen muss ein Konsens über den voraussichtlichen Nutzen des zulassungsüberschreitenden Einsatzes des Arzneimittels bestehen. |
17
Trotz der scheinbaren Klarheit dieser drei Voraussetzungen hat die Entscheidung des BSG zahlreiche Folgefragen aufgeworfen (z.B. bei Tumorbehandlung von Kindern), die in der Praxis immer noch einer befriedigenden Lösung harren.[27] Eine gewisse Öffnung folgt aus einer Entscheidung des BSG.[28] Danach kann eine Kostentragungspflicht im Rahmen der GKV angenommen werden, wenn das Arzneimittel im Ausland zugelassen ist und für einen seltenen Einzelfall, also nicht für eine abstrakte Indikationsgruppe, über die erlaubte Apothekeneinfuhr (§ 73 Abs. 3 AMG a.F.) importiert wird.
18
Infolge der Entscheidung des BSG hatte das BMG (damals noch BMGS) eine Expertengruppe „Off-Label-Use“ eingerichtet. Die Expertengruppe soll Feststellungen darüber treffen, ob die – nicht in einem Zulassungsverfahren getestete – Anwendung eines Arzneimittels „medizinisch sinnvoll“ erscheint. Dadurch sollen Rechtssicherheit und Rechtsklarheit gefördert werden. Der Gesetzgeber hat diese Überlegungen aufgegriffen und in dem seit dem 1.1.2004 geltenden neuen § 35c Abs. 1 SGB V umgesetzt. Danach beruft das Bundesministerium für Gesundheit Expertengruppen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, die Bewertungen zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis über die Anwendung von zugelassenen Arzneimitteln für Indikationen und Indikationsbereiche, für die sie nach dem Arzneimittelgesetz nicht zugelassen sind, abgeben sollen. Diese Bewertungen sollen dann dem gemeinsamen Bundesausschuss als Empfehlung zur Beschlussfassung gemäß § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 SGB V zugeleitet werden. Eine entsprechende Bewertung soll im Übrigen nur mit Zustimmung des pharmazeutischen Unternehmens erstellt werden. Diese Einschränkung erfolgte offensichtlich im Hinblick auf die Befugnis des Herstellers, das Ausmaß der Verkehrsfähigkeit des von ihm zu verantwortenden Produkts zu bestimmen. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich, dass der Gesetzgeber eine derartige Zustimmung bzw. Billigung der Ausweitung der Verkehrsfähigkeit offenbar auch als Haftungsvoraussetzung im Rahmen der Gefährdungshaftung nach § 84 AMG betrachtet. Der § 25 Abs. 7a AMG, eingeführt durch das 12. Änderungsgesetz, sieht mittlerweile vor, dass die beim BfArM gebildete Kommission für Arzneimittel für Kinder und Jugendliche zu Arzneimitteln, die nicht für die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen zugelassen sind, den anerkannten Stand der Wissenschaft dafür feststellen kann, unter welchen Voraussetzungen diese Arzneimittel bei Kindern oder Jugendlichen angewendet werden können (§ 25 Abs. 7a S. 7 AMG).
19
Nach einer Entscheidung des BVerfG vom 6.12.2005[29], durch die eine die Leistungspflicht der GKV für eine nicht anerkannte Arzneimitteltherapie ablehnende Entscheidung des BSG aufgehoben wurde, bekam die Diskussion neuen Auftrieb. Danach sind innerhalb der GKV auch Kosten für nicht anerkannte Methoden oder Off-Label-Anwendungen zu erstatten, wenn
– | eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vorliegt, |
– | bzgl. dieser Krankheit eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, |
– | bzgl. der beim Versicherten ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode eine „auf Indizien gestützte“, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. |
20
Die grundsätzliche Bindung an den Leistungskatalog der GKV und die Kompetenz des G-BA zur Konkretisierung und Prüfung neuer Behandlungsmethoden hat das BVerfG nicht angetastet[30]. Dementsprechend hat das BSG in aktuellen Entscheidungen[31] seine Rechtsprechung unter Beachtung der vom BVerfG aufgestellten Grundsätze fortentwickelt, ohne dass jedoch damit die Off-Label-Problematik deutlich „liberalisiert“ worden wäre. Praktische Hilfe bietet eine Anlage VI zu den Arzneimittel-Richtlinien zu anerkannten Off-Label-Use Indikationen solcher Arzneimittel (Teil A), nachdem der Aufnahme ein positives Votum der Expertengruppe und eine Anerkennung dieses Off-Label-Use durch den pharmazeutischen Unternehmer als bestimmungsgemäßen Gebrauch vorausgegangen ist. Die abschließende Beschlussfassung hierfür erfolgt durch den G-BA. Den durch die Rechtsprechung des BSG entwickelten Grundsätzen entspricht im Wesentlichen der durch das GKV-VStG neu eingefügte § 2 Abs. 1a SGB V. Mit zwei Beschlüssen hat das BVerfG seinen „Nikolaus-Beschluss“ konkretisiert.[32] Danach gilt diese Ausnahmeregelung nur bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen, nicht aber bei wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankungen.
21