"Und ihr wollt das Land besitzen?" (Ez 33,25). Alban Rüttenauer


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der Vision 8 - 11 den Abschnitt 11,1-21 heraus.60 Um die darin enthaltenen Redensarten berücksichtigen zu können, ist hier darum vom Endtext auszugehen. Höchstens könnte gefragt werden, welche Rolle gerade diese Redensarten bei der Entwicklung des Grundbestandes bis hin zum vorliegenden Text gespielt haben. Nays Art der Interpretation stellt in allem das entgegengesetzte Extrem zu jener anderen dar, nach welcher die Kapitel 8 - 11 im wesentlichen reale historische Ereignisse in Jerusalem berichten, die nur durch den Rahmen zur Vision erklärt werden, um sie in ein Buch zu integrieren, das sonst im Exil spielt.61 Bei aller Gegensätzlichkeit haben diese Positionen das Eine miteinander gemeinsam, daß sie noch unbedingt für 11,1-13 nach einem konkreten historischen Hintergrund suchen, nur daß ihn der eine im Exil, der andere in Jerusalem vermutet.

      Wenn man nicht auf einen chronologisch konsequenten Ablauf besonderen Wert legt, läßt sich in Ez 8 - 11 eine mehrstufig in konzentrischer Gliederung aufgebaute Vision wahrnehmen. Diese Stufen bilden verschiedene Ebenen in der Vision, die nicht zwingend in ein zeitliches Nacheinander gebracht werden müssen. In der Mitte ist die Doppeleinheit der Abschnitte 9,1-10,7 (Zerstörung der Stadt) und 10,8-22 (Auszug der Herrlichkeit Gottes aus dem Tempel) angesiedelt. Darum ranken sich die Kapitel 8 und 11 mit der Beschreibung der gegenwärtigen Situation des Volkes und den Rahmenversen 8,1 und 11,25, welche die Ausgangs- und Schlußsituation im Exil liefern. Das Wiedererwachen Ezechiels im Exil wird durch die an die Exulanten gerichtete Heilszusage der VV. 14-21 vorbereitet.

      Fraglich ist die Einordnung von Kapitel 8. Gehört es mehr zu den Visionen in 9 und 10 oder mehr zu den geschichtlichen Schilderungen in 11? Auf der synchronen Ebene läßt sich durch eine konzentrische Struktur beiden Bezügen Rechnung tragen (siehe Kapitelende).

      In den drei wichtigsten Vorkommen der Ältesten in 8,1; 14,1 und 20,1 wird die sitzende Haltung der Ältesten betont; eine solche wird in 33,31 auch einer breiteren Zuhörerschaft Ezechiels zugeschrieben. Für die genauere Bedeutung dieses Sitzens bieten sich zwei Arten von Parallelen an, die zunächst unabhängig von einander betrachtet werden wollen. Die eine Art Parallele zeigt die Ältesten bei ihren offiziellen Versammlungen, bei denen gerichtliche Beschlüsse gefaßt oder politische Entscheidungen getroffen werden. In Rut 4,2 wird die Aufforderung sich niederzusetzen für jene Versammlung ausgesprochen, in der der Löser für Noomi ermittelt werden soll. In 1 Kön 21,12 handelt es sich um die Versammlung, in der die tödliche Intrige gegen Nabot ausgeführt wird. In Jer 26,10 soll die Versammlung ein Todesurteil gegen Jeremia fällen, wobei jedoch nicht die Ältesten, sondern, wie in Ez 11,1, die

- die „Anführer“, genannt werden. Das Sitzen scheint also eine allgemeine Haltung bei jeder Art von Versammlung mit offiziellem Charakter gewesen zu sein.62 Die Gewichtigkeit der Sitzhaltung, welche die Ältesten in 8,1; 14,1 u. 20,1 einnehmen, könnte allerdings auch einer bewußten Karikatur dienen63 und die Zurschaustellung der eigenen Wichtigkeit entlarven wollen. Zum Vergleich ist die andere Art von Parallele interessant, die ein ähnliches Hinsitzen auch von den Prophetenschülern erzählt. Als wichtigste Belegstelle gilt 2 Kön 4,38, die eine solche Haltung von den Schülern des Propheten Elischa berichtet.

      Das Besondere bei Ezechiel ist, so kann man sagen, daß bei ihm die Ältesten sich wie Prophetenschüler verhalten. Auch diese eigenartige Verbindung ist nicht ohne Parallele. Ps 107,32 nennt als Aufgabe der Ältestenversammlung statt jedes politischen Beschlusses das Gotteslob. 2 Kön 6,32 zeigt, daß vor Elischa nicht nur Prophetenschüler, sondern auch Älteste, ganz ähnlich wie bei Ezechiel, sitzen konnten.

      Wenn die Ältesten bei Ezechiel in die Rolle von Prophetenschülern schlüpfen, zeigt dies, wie ernst seine Botschaft von ihnen genommen wurde, auch wenn es an der Bereitschaft fehlen mochte, sich ihr entsprechend zu verhalten. Vielleicht entsprach es auch einer Wunschvorstellung des Autors. Denn daß Älteste in erster Linie in ihrer religiösen Verantwortung vor dem Volk gesehen werden, ist eigenartig genug. Sollen sie auf dem Weg zu einer neuen Funktion gezeigt werden, die sie aber noch nicht ganz gefunden haben?64 Die hinter der allgemeinen Befragung stehende konkrete Anfrage wird jedenfalls nicht genannt und scheint auch nicht wichtig.65

      Zum Abschluß verdeutliche ein Gliederungsschema der Kapitel 8 - 11 ihre Beschreibbarkeit im Sinne einer konzentrischen Struktur.

       Gliederung der Kapitel 8 - 11

A. V. 8,1: Aufenthalt des Propheten im Exil: die Ältesten sitzen vor ihm.
B. VV. 8,2-4: Entrückung des Propheten nach Jerusalem.
C. VV. 8,5-18: Bestimmte Fehlverhalten des Volkes.
a) VV. 8,5-13: Greuel am Tempel mit Israel-Nennung (V. 12).
b) VV. 8,14-18: Greuel am Tempel mit Juda-Nennung (V. 17).
D. Kapitel 9 u. 10: Gottes Gerichtshandeln in Vision.
a) VV. 9,1-10,7: Zerstörung Jerusalems.
b) VV. 10,8-22: Auszug der Herrlichkeit Gottes aus dem Tempel.
C’. Bestimmte Fehlverhalten des Volkes.
a) VV. 11,1-12: Ränkeschmiede am Tor.
b) VV. 11,13-21: Einseitige Besitzansprüche der Verbliebenen und Heilsverheißung an die Verbannten.
B’. VV. 11,22-24: Rückkehr des Propheten aus der Entrückung.
A’: V. 11,25: Aufwachen des Propheten im Exil: Bericht an die Exulanten.

       1. b) Kontext von 8,12 in Kap. 8

      Die den Ältesten des Hauses Israel in den Mund gelegte Redensart findet sich innerhalb einer Komposition, die die Verse 8,5-18 umfaßt und in einer gestaffelten Steigerung verschiedene als Greuel beschriebene Bräuche und damit den religiösen Abfall am und im Jerusalemer Tempel veranschaulicht.

      In vier Stufen baut sich die Steigerung auf: VV. 5-6.7-13.14-15.16-18. Das Ende jedes Abschnitts wird durch die jeweils als Überleitung wiederkehrende Redewendung

      

- „du wirst noch größere Greuel schauen“ (VV. 6.13.15) - als solches gekennzeichnet. Das Prinzip der Steigerung scheint weniger in den vorgeführten Handlungen zu liegen als vielmehr in der zunehmenden Nähe zum Allerheiligsten, bzw. dem vor ihm befindlichen Altar im Tempel. Was in V. 6 als Beweggrund für das Treiben der am Tempel wirkenden Personen zu lesen ist, könnte als Überschrift über der ganzen Komposition der VV. 8,5-18 stehen:

      - „um sich von meinem Heiligtum zu entfernen.“66 Eigentlich eine paradoxe Aussage, wo doch eine immer enger werdende räumliche Nähe zu diesem Heiligtum beschrieben wird. Es handelt sich um eine geistige Abkehr von diesem Heiligtum,67 sich vollziehend in einem geradezu umgekehrt proportionalen Verhältnis zur räumlichen Nähe zu ihm. Innerhalb des letzten Teils der Steigerung, in 8,16, heißt es dann von den ungefähr 25 (so nach MT; 2 Mss LXX hingegen 20; vgl. BHS) Personen am Eingang des Tempels, sie standen

      - „ein jeder mit seinem (wörtl: ihrem) Rücken zum Tempel JHWHs“.

      Damit wird recht sinnenfällig zum Ausdruck gebracht, wie die persönliche Einstellung von der Bedeutung des Tempels, an dem sich die betreffenden Personen befinden, abgewandt ist, um sich statt dessen der natürlichen Sonnenverehrung zu widmen.

      Es ist schwierig, der Hervorhebung der Köperhaltung - Rücken


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