Love – Konsequent scheitern (Band 2). Ellen M. Zitzmann
Liebe und das Leben.“ Offen sprach er dann über seine Liebesbrüche. Und dass er nach der letzten Schlappe eine innere Schutzwand aufgebaut hätte. Er sei zwar kein typischer Casanova, aber mal die, mal jene, das wäre aktuell die einzige Option, auf die er sich einlassen würde. Eine feste Beziehung würde er nicht vermissen. Dagegen das Gefühl von Vertrautheit und Innigkeit, das schöne Gefühl von Gemeinsamkeit, abends auf dem Sofa und morgens beim Aufwachen. Das, ähm, das würde er ehrlich vermissen. Und ließ seinen Blick über seine Zuhörerinnen schweifen.
„Ein bisschen wirkst du jetzt auf mich wie ein erschöpfter Mann mit Eheschaden“, analysierte Giulia scharf und behauptete felsenfest, dass sich alle Sehnsüchte und emotionalen Bedürfnisse im tristen Alltag ändern würden, und man keinen Anspruch auf Schadenersatz hätte, sollten sie unerfüllt bleiben.
„Und doch trachten wir alle danach, mit unseren Sehnsüchten genau diesem Alltag zu entkommen“, vertiefte Clarissa ihren Gedanken.
„Kommt, lasst uns den Rest des Nachmittags allein verbringen“, schlug Manuel vor und fügte hinzu, dass er das alles erstmal verdauen müsse.
„Gute Idee. Mir fehlt sowieso komplett die Konzentration“, entgegnete Mara und meinte schelmisch, dass sie es sich hätte nicht vorstellen können, auf dem Kurztrip in ein Selbstfindungsseminar mit den Freunden zu geraten. Dann kündigte sie an, einen Spaziergang in der Umgebung zu machen.
Da Giulia mit dem Kochen dran war, fragte sie, wer ihr beim Schnippeln des Gemüses und Reinigen der Muscheln helfen würde. Und verabredete sich mit Manuel und Clarissa um 18 Uhr in der Küche. Mara war bereits verschwunden. Clarissa holte zwei kleine Äpfel aus der Küche. „Für Lino“, rief sie Giulia zu und schlenderte pfeifend zum Nachbargelände. Manuel schnappte sich eine Fachzeitschrift für Brückenbau und setzte sich in den Korbsessel in eine Ecke auf der Terrasse, wo er ungestört war. Giulia ging ins Schlafzimmer, um ihren Koffer zu packen. Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie fast drei Stunden für sich hatte. Sie warf den Koffer auf eine Betthälfte und fing an, Kleidungsstücke, Schuhe und Geschenke hineinzupacken. Den zur Hälfte gepackten Koffer ließ sie offen auf dem Bett liegen und beschloss, sich auf die freie Betthälfte zu legen, um sich in aller Ruhe die morgige Abreise und die Vorbereitungen für das heutige Abendessen durch den Kopf gehen zu lassen. Auf dem Speiseplan stand: Miesmuscheln auf französische Art mit einer Soße aus Muscadet, Schalotten, Karotten, Stangensellerie, Knoblauch, Kräutern, Crème fraîche.
Darüber musste sie wohl eingeschlafen sein. Denn als sie wieder auf die Uhr sah, war es kurz vor sechs. Mit einem Satz stand sie neben dem Bett, sauste ins Bad und bespritzte sich das Gesicht mit frischem Wasser. Danach flitzte sie in die Küche, wo Manuel gerade den Sack mit den frischen Miesmuscheln neben die Spüle stellte. Er wirkte sehr entspannt, lachte und sagte, dass ihm bereits der Magen knurren würde.
„Die Schalentiere müssen aber erst gewaschen und geputzt werden“, meinte Clarissa, die zur Tür hereinkam und berichtete, dass Lino sofort den Hügel zu ihr heruntergelaufen sei, als er sie gesichtet hätte. Die Äpfel hätte er im Nu verputzt.
Während sie sich eine Schürze umband, auf der schwarze und grüne Oliven aufgedruckt waren, und sich ein sauberes Geschirrtuch über die Schulter warf, hob Manuel den schweren Sack vom Boden und kippte den Inhalt, der einen starken Geruch nach Meer und Algen verströmte, in das Waschbecken.
Mara kam am Küchenfenster vorbei und rief herein, dass sie noch schnell Linda anrufen werde, da sie wissen wolle, wie die gestrige Vernissage verlaufen sei.
Beim Säubern und Putzen der Muscheln kam Clarissa ins Nachdenken. Sie begann: „Inzwischen gelingt es mir besser, jede Begegnung und jedes Gespräch als ein Geschenk zu betrachten. Erst im Laufe der Zeit wurde mir bewusst, wie wichtig gute Gespräche sind.“ Sie klopfte mehrmals eine Muschel auf eine andere, warf die weg, die sie sich nicht mehr schließen ließen und erzählte aus ihrem Leben munter weiter: „Nach meiner Scheidung ging mir das Leben nicht leicht von der Hand. Kind, Studium, Arbeit – das war zu viel. Ähm, ich glaube, dass in der Liebe viele zueinanderpassen. An wen man schließlich und für wie lange sein Herz verliert, bleibt doch oft dem Zufall überlassen.“
„Oder den Hormonen“, ergänzte Manuel pointiert mit spitzbübischem Lächeln.
„Wohl wahr“, bestätigte Giulia und bat Clarissa darum fortzufahren.
„Den Sprüchen ‚Wir sind wie füreinander geschaffen‘ oder ‚Jeder Topf findet seinen Deckel’ kann ich ehrlich nichts abgewinnen. Es sind nichtssagende Kalendersprüche, mit denen man seine Mitmenschen traktieren und überholte Kräfte, traumhafte Einbildungen und Illusionen der Beharrung mobilisieren kann. Ich für meinen Teil bevorzuge Zufälle. Erst vor Kurzem las ich irgendwo, dass Menschen, die ihre Erfolge mehr dem Zufall als den eigenen Kompetenzen und dem Leistungsvermögen überlassen, eine größere Dankbarkeit dem Leben gegenüber entwickeln, und, ähm, und auch mehr für soziale Zwecke spenden würden.“
„Binsenweisheiten sollten tatsächlich kritisch beäugt werden. Ihnen zu folgen, heißt doch, sich der Dynamik der Ereignisse zu verschließen, alles auf sich zukommen lassen und keine Initiative entwickeln. Anstatt darauf zu vertrauen, folgen wir blind der zersetzenden Wirkung von Zeit und Tradition. Ziemlich reaktionär“, bekräftigte Giulia knapp Clarissas Meinung und konzentrierte sich dann wieder stark dem Berg Muscheln vor ihr.
„Schon wieder etwas Nachdenkenswertes“, scherzte Manuel, drehte sich um und fing an, den Tisch zu decken. Morgen, in aller Herrgottsfrüh, würden sie sich zum Flughafen aufmachen, um, jeder für sich, in eine andere Richtung nach Hause zu fliegen, dachte er wehmütig, während er am Lavendelstrauß auf dem Fensterbrett herumzupfte und sich an den Tisch setzte. Seit zwei Jahren war Manuel in einem bekannten Architekturbüro in Kopenhagen beschäftigt. Dänische Kollegen wurden auf seine Arbeiten aufmerksam. Gerade arbeitete er an mehreren Brückenprojekten, die zu den architektonischen Meisterwerken Kopenhagens zählen. Die Brücken in Kopenhagen sind nicht nur dazu da, um von A nach B zu kommen, sondern es sind Orte der Begegnung, der Einkehr und Entspannung. Orte des vielfältigen Lebens, der sozialen Kommunikation. Vorhin auf der Terrasse zerbrach er sich den Kopf darüber, wie sich der Aufbau einer Circle Bridge noch spektakulärer gestalten lässt, damit sich der Blick in den kreisförmigen Plattformen automatisch auf den Himmel richtet.
Während Clarissa und Giulia fleißig Karotten und Tomaten schnippelten, sich über dieses und jenes unterhielten, schneite Mara zur Tür herein. Der Spaziergang hätte ihr sehr gutgetan. Ihr Kopf wäre jetzt viel klarer. Sie setzte sich neben Manuel, der seine Mails checkte. Er scrollte Dutzende Nachrichten von seinen Kollegen durch, bevor er die Mail von seinem Sohn öffnete. Nach einer Weile sagte er, dass ihn Tobias morgen am Flughafen abholen würde. Er sei ganz spontan nach Kopenhagen gereist.
„Was für ein schöner Zufall“, griff Giulia das Thema von vorhin wieder auf und führte aus: „Als mir ein offener Umgang mit Zufällen gelang, lernte ich mein Temperament und meine Einbildungskraft zu beherrschen, ohne meine Leidenschaft und Zuwendung für den Augenblick zu verlieren.“
„Das ist mir zu kompliziert. Was meinst du genau?“, fragte Clarissa ungläubig.
„Ähm, hört sich vielleicht gestelzt an. Also ein Beispiel: Es ist nicht lange her, als sich ein aparter Amerikaner in den Fünfzigern in einem Konzert neben mich setzte. Schon vor Konzertbeginn fing er an, mit mir zu plaudern, was für Amerikaner so ziemlich das Normalste auf der Welt ist. Er erzählte von seiner Scheidung, seinen Reisen als Privatier, seinem schwerkranken Vater. Und es dauerte nicht lange, bis er mir auf seinem Smartphone seine digitale Fotogalerie präsentierte: Das luxuriöse Wohnhaus in Florida, den gepflegten Garten, das riesige Wohnzimmer mit Designer-Möbeln, die süßen Enkel. Nach dem Konzert, als ich mich verabschieden wollte, sagte er, dass sein Vater in dem Moment gestorben sei, als die Musiker die Fünfte von Tschaikowski gespielt hätten. Ich war wie vor den Kopf gestoßen, blieb jedoch höflich, bekundete mein Beileid, obwohl ich mit dem familiären Trauerfall ja nun wirklich nichts zu tun hatte. Schließlich haben wir uns in der Menge aus den Augen verloren. Trotzdem, dass ich die Situation ziemlich merkwürdig fand, feierte ich an diesem Abend einen persönlichen Triumpf – den Triumpf über meine Interpretationen und mein manchmal zu großes Mitleid für andere.“ Giulia