Höllentrip. Manuela Martini

Höllentrip - Manuela Martini


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9

      Das Earl’s in Chinchilla gehörte zu den besseren Restaurants, die Empfehlung des Australischen Automobilclubs an der Tür fehlte deshalb nicht. Die rottapezierten Wände des Raums, in dem etwa zwanzig weißgedeckte aber unbesetzte Tische standen, schmückten Rinder- und Schafhörner, Schwarz-weiß-Fotografien von Stockmen, die Tiere jagten, Schafscherer beim Scheren, Pferde. Die Aircondition kühlte den Raum, Tageslicht drang nur durch dunkel getönte Scheiben herein. Die Bedienung, in einer langen Bistroschürze, begrüßte sie höflich und fragte, ob sie essen wollten.

      „Wir möchten zu Ihrem Chef“, antwortete Shane und zückte seinen Ausweis.

      „Moment bitte.“ Sie verschwand durch die Tür neben einer Bar.

      Tamara blätterte interessiert in der Speisekarte.

      „Das hier übersteigt unseren Spesensatz, Tamara“, brummte er und blickte zur Tür, durch die ein großer, filigran wirkender Mann trat, dessen Vorfahren wahrscheinlich aus Indien gekommen sein mussten. Sein Haar hatte er zurückgekämmt, was seine Stirn noch höher erscheinen ließ, seine dunklen Augen blickten wach und seine Lippen waren gut durchblutet und geschwungen.

      Kultiviert, fiel Shane bei seinem Anblick sofort ein.

      „Guten Tag“, lächelnd nickte er Tamara zu und reichte Shane eine angenehm kühle, trockene Hand, „Mein Name ist Alan Hall, was kann ich für Sie tun?“

      „Detective Sergeant Tamara Thompson und Shane O’Connor von der Homicide Squad in Brisbane.“ Shane klappte seinen Ausweis auf und zu und bemerkte, wie ein Schatten über das gleichmäßig geschnittene Gesicht seines Gegenübers glitt.

      „Ich dachte schon, Sie wären von der Gesundheitsbehörde“, Alan Hall lächelte ein wenig, und wies zu einem der weißgedeckten Tische. „Bitte, nehmen Sie doch Platz.“

      Mit seinen schwarzen, glänzenden Schuhen, seinem dezent gestreiften und makellos gebügeltem Button-Down Hemd, der eleganten Krawatte, den perfekt sitzenden anthrazitfarbenen Hosen schien er hier in diesem Ort irgendwie fehl am Platz.

      „Kennen Sie diese Frau?“ Tamara, die Hall gegenüber saß, legte die Fotografie aus Romaines Zimmer auf den Tisch.

      Alan Halls Augen verdunkelten sich.

      „Sie haben gesagt, Sie seien von der Mordkommision...“, er schluckte. „Romaine Stavarakis.“ Er strich sich mit der Hand über die sorgfältig rasierten Wangen, schüttelte den Kopf, wollte wieder lächeln, doch es blieb in seinem Gesicht hängen. „Aber, wieso sollte sie ...?“

      „Wann haben Sie Mrs. Stavarakis zum letzten Mal gesehen?“, fragte Shane.

      „Mister Hall?“

      Er zuckte zusammen.

      „Wer hat sie gefunden?“

      Shane fiel auf, dass Alan Hall nicht zuerst nach der Todesursache fragte. Aber in solchen Situationen waren Reaktionen von Menschen oft unvorhersehbar.

      „Eine Fotografin“, antwortete Tamara an Shanes Stelle.

      Hall sah sie mit gerunzelter Stirn an.

      „Ich verstehe nicht...“

      „Was verstehen Sie nicht, Mr. Hall?“, fragte Shane.

      Hall blickte durch ihn hindurch.

      „Wie - ist sie gestorben?“

      „Wahrscheinlich durch eine Kopfverletzung. Die näheren Umstände sind noch nicht geklärt.“

      Alan Hall räusperte sich, während seine Augen zwischen Shane und Tamara hin- und her irrten.

      „Eine Kopfverletzung sagen Sie? Wie ist es passiert? War es ein Unfall?“

      Hall schüttelte langsam den Kopf. Eine Strähne seines zurückgekämmten dunklen Haares hatte sich gelöst und hing ihm in die hohe Stirn.

      „Also Mister Hall“, nahm Tamara das Gespräch wieder auf, „Romaine ist ungefähr seit einer Woche tot. Haben Sie sie denn nicht vermisst? Sie hat doch hier gearbeitet?“

      Er brauchte eine Weile, bis er antwortete.

      „Ja, ja ... das hat sie ... Romaine hat seit einem halben Jahr als Kellnerin hier gearbeitet. Letzten Freitagabend hat sie Dienst gehabt. Hier war eine Hochzeit, ging bis zum frühen Morgen. Wir hatten ausnahmsweise am Samstag und am letzten Sonntag geschlossen, wir haben nur jeden zweiten Sonntag geöffnet, heute zum Beispiel.“ Alan Hall schluckte. „Wissen Sie, ich bin ziemlich schockiert...“ Er strich die Strähne zurück.

      „Das ist verständlich, Mister Hall.“ Tamaras Stimme klang mitfühlend. „Sie können uns helfen, ihren Tod aufzuklären.“

      „Mister Hall“, schaltete sich Shane, ungeduldig geworden, ein, „wenn ich Sie richtig verstanden habe, bleibt Ihre Angestellte Mrs. Stavarakis eine Woche lang unentschuldigt ihrer Arbeit fern und Sie fragen sich nicht mal, was passiert sein könnte?“ Er war lauter geworden, denn er sah keinen Anlass, Hall mit Samthandschuhen anzufassen. Vielleicht wollte er auch einfach seinen eigenen Unmut an diesem Mann auslassen. „Ist das nicht ein merkwürdiges Verhalten?“

      Alan Hall lockerte den Knoten seiner Krawatte.

      „Ich glaube“, redete Shane weiter, „Ihnen scheint nicht klar zu sein, dass Sie sich mit Ihrem Verhalten und Schweigen belasten?“

      Halls Blick ging irgendwohin.

      „Wo waren Sie am vergangenen Wochenende?“, fragte Shane weiter.

      Hall betrachtete seine feingliedrigen, gepflegten Hände.

      „Mister Hall?“

      Doch er reagierte nicht.

      „Mister Hall?“, fragte Tamara und neigte sich zu ihm, da blickte er auf. „Wo waren Sie am vergangenen Wochenende?“

      Hall starrte sie an.

      „Ich? Wo?“ Er sah auf seine Hände und dann wieder zu ihr und sagte: „Hier. Hier, zu Hause.“

      Shane schrieb die Nummer der Polizeistation auf seine Visitenkarte und legte sie auf den Tisch.

      „Das werden wir natürlich überprüfen, Mister Hall.“

      Kleine weiße Wolken hatten sich an den blauen Himmel geklebt und eine leichte Brise begann sich von Osten her zu regen.

      „Ich möchte wissen, warum dieses Arschloch nicht zur Polizei gegangen ist.“ Shane war wütend und frustriert.

      „Er wird wohl seine Gründe haben.“ Tamara öffnete ihre Handtasche und zog ihren Lippenstift hervor.

      Kapitel 10

      Eine Wasserspülung lief. Gedämpft drangen durch die geschlossene Tür die Geräusche des Krankenhausbetriebs, der am Sonntag, etwas ruhiger verlief als gewöhnlich. Joanna O’Reilly hätte heute frei gehabt, aber es hielt sie nichts zu Hause. Marc traf sich mit Freunden zum Rugby-Spielen. Er würde erst am späten Nachmittag heimkommen, und wahrscheinlich nur noch zum Fernsehen in der Lage. Sie hatte das alles so satt.

      Jetzt saß sie bei dem Jungen, hatte Farben, Pinsel und Papier vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet. Noch immer wusste sie nichts Näheres über ihn als dass er mitten auf dem Highway gestanden hatte und beinahe von einem Viehtransporter überfahren worden wäre. Immer wieder musste sie sich ermahnen, ihn nicht zu bedrängen. Der Junge hatte Teile seines Gedächtnisses gelöscht. Er brauchte Zeit – und Vertrauen.

      „Ich fahre gerne Auto“, sagte sie auf einmal. Die Augen des Jungen blickten sie für einen Moment wirklich an. Er erinnerte sie an die Kindergesichter auf alten Fotos, die die Ankunft osteuropäischer Emigranten in Australien zeigten. Kinderaugen, die schon zu viel gesehen hatten.

      Sie zwang sich zur Entspannung, lehnte sich zurück, streckte die Beine aus. Nicht sie, der Junge entschied, wann er aus seinem inneren Gefängnis


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