Höllentrip. Manuela Martini

Höllentrip - Manuela Martini


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ein Ziehen im Bauch, zugleich bemerkte sie bei dem Jungen ein leichtes Zittern der Hände. Seine Gesichtsmuskulatur spannte sich, die Mundpartie zuckte, er blinzelte, begann auf dem Stuhl herumzurutschen. Angst hat dann Macht über den Menschen, wenn er ihr nicht ins Auge schaut. Der Junge musste es schaffen, das Grauen anzusehen, um sich aus dessen Fängen zu befreien. Seine Seele musste so laut schreien, dass er nicht mehr wegsehen sondern hinsehen müsste. Noch immer sagte Joanna nichts. In ihrem eigenen Körper spürte sie die Schmerzen des anderen Körpers. Es bedeutete für sie, dass sie in Kontakt zu dem anderen Menschen trat, dass ihre Energien miteinander schwangen. Auch der Junge musste so etwas gespürt haben. Immer wieder sah er zu ihr, zu den Farben, dem Pinsel - dann drehte er sich zum Fenster.

      Hab Geduld, sagte sie sich und wartete schweigend. Das Tropfen des Wasserhahns wirkte allmählich beruhigend. Vom Flur drang ein leichter Essensgeruch herein. Jemand rief nach Dr. Aylett, unten auf der Straße wurden Autotüren auf- und zugeschlagen. Ein Vogel krächzte und eben schallte die Sirene eines Krankenwagens herauf. Hinter dem Fenster dehnte sich ein blauer Himmel aus.

      Zwei Stunden später kam sie wieder und versuchte es erneut und auf einmal griff der Junge tatsächlich nach dem Pinsel. Joanna hielt den Atem an. Langsam tauchte er den Pinsel in die schwarze Farbe, begann darin zu rühren, setzte den Pinsel aufs Papier. Seine Hand verkrampfte sich. Die Spitze des Pinsels verharrte auf dem Papier, ein dicker Fleck breitete sich aus. Draußen auf dem Gang näherten sich Schritte, wurden langsamer. Stand jemand vor der Tür, war im Begriff hereinzukommen? Nein, jetzt nicht, hoffte Joanna, jetzt nicht! Der Fleck auf dem Papier wurde immer größer. Doch da entfernten sich die Schritte wieder und Joanna atmete auf.

      Der Junge zog den Pinsel übers Papier. Er malte einen langen Strich, unterbrach ihn, setzte im Abstand von etwa einem Zentimeter wieder an, malte einen weiteren Strich. Draußen auf dem Gang war nun nichts mehr zu hören. Der Junge sah sie nicht mehr an, war auf seine Zeichnung konzentriert: Eine dicke, von einer Lücke unterbrochene Linie. Wieder ließ er eine Lücke und malte dann zwei Punkte. Hier ging es nicht um Interpretationen sondern einzig und allein darum, ihn soweit zu bringen, dass er alles malte, was aus seinem Innern herauswollte. Deshalb fragte sie nur ohne mit einer Antwort zu rechnen:

      „Aus welchem Material sind die Striche?“

      „Aus Metall“, kam es so prompt, dass sie erschrak.

      „Dann ist es draußen?“, fragte sie, ohne sich die Aufregung und Überraschung anmerken zu lassen.

      „Draußen.“

      Joanna betrachtete wieder das Bild. „Und es ist Tag?“

      Keine Antwort. Stattdessen fegte er das Bild vom Tisch und griff nach einem neuen Blatt. Er zögerte, ließ seinen Blick über die Farben gleiten und tauchte den Pinsel dann tief und entschieden ins Rot. Heftig rührte er im Farbtopf herum, bis die Farbe schäumte, über den Rand des Topfes lief und den Pinselstiel heraufspritzte. Dann hielt er inne und malte einen langen Strich, den er zu einem länglichen Viereck ergänzte und es ausmalte. Einen Moment lang betrachtete er das rote Rechteck. Dann nahm er einen neuen Pinsel, tauchte ihn ins Weiß. Seine Bewegungen waren kontrollierter und ruhiger geworden. Zu dem roten Rechteck fügte er ein kleineres weißes hinzu. Dann wechselte er erneut die Farbe und malte am rechten Bildrand ein braunes Oval. Mit schrägem Kopf begutachtete er sein Werk. Malte dann auf das braune Oval eine schwarze Zwei. Und noch eine und noch eine. In Grün malte er etwas Längliches. Eine Schlange? Nein, es wurde eine Echse, ein Dinosaurier? Er warf den Pinsel auf den Tisch, dass Farbtröpfchen spritzten und starrte auf das Bild. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei, plötzlich schnappte er sich einen der Pinsel und hatte blitzschnell, bevor Joanna reagieren konnte, das Bild mit wilden Strichen übermalt. Joanna wollte ihn berühren, doch er stieß ihren Arm weg, stürzte zum Bett und zog die Bettdecke über sich.

      Noch eine Weile saß sie auf dem Bettrand und versuchte ihn zu beruhigen. Doch er rührte sich nicht mehr. Er hatte seine auftauchende Erinnerung wieder gelöscht. Sie konnte es kaum fassen: Er hatte mit ihr gesprochen.

      Kapitel 11

      „Fest steht“, begann Shane zusammenzufassen während er im Büro unruhig auf und ab lief, „Romaine arbeitete als Kellnerin im Earl’s, bis einschließlich Freitag, als diese Hochzeit stattfand.“

      Tamara nickte.

      „Was sie am Samstag tat, wissen wir noch nicht“, fuhr er fort, „auch nicht, wann oder ob sie überhaupt mit diesem George, dessen vollständigen Namen wir nicht kennen, zusammengetroffen ist.“

      „Und wir wissen auch nicht, wann und wo sie ermordet wurde, und wo ihr Auto ist“, ergänzte Tamara. „Ed behauptet, sie am Samstag zum letzten Mal gesehen zu haben – vorausgesetzt, er sagt die Wahrheit.“

      Shane massierte sich die verspannten Nackenmuskeln und ging in Gedanken alle Fakten noch einmal durch:

      Die Medien waren verständigt, die Kollegen bereit, um Aussagen von Zuschauern und Spielern des Polocrosse-Turniers entgegenzunehmen, die Fahndung nach Romaine Stavarakis’ Auto, einem weißen Toyota Corolla Kombi mit dem Kennzeichen 677 KTE, lief.

      Über Sidney Emmerson, dem Bekannten Eds, bei dem dieser behauptete, das Wochenende in Brisbane verbracht zu haben, fanden sich keine Vorstrafen im Computer. Seit einem Jahr lebte er von der Sozialhilfe, davor hatte er als Hilfsarbeiter auf dem Bau gearbeitet. Den Kollegen in Brisbane hatte Sidney Emmerson Eds Alibi bestätigt. Ed Fraser sei von Samstagabend bis letzten Montag früh bei ihm in Brisbane gewesen. Die Spurensicherung hatte die Reifenabdrücke, die in der Nähe der Leiche gefunden worden waren, identifiziert. Es handelte sich um einen herkömmlichen Reifen von Continental. Da Ed Frasers Ford Explorer besonders breite Reifen hatte, schied er aus. Alan Halls Patrol hatte ebenfalls breitere Reifen. Doch die Reifenspuren mussten auch gar nichts mit der Toten zu tun haben.

      Shane ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen, ein - wie so oft in den abgelegenen Orten, in denen er ermitteln musste - altes, wackliges Modell, das man schnell aus irgendeiner Abstellkammer geholt hatte.

      „Warum macht Alan Hall den Mund nicht auf?“, begann er, „verschweigt er uns etwas?“

      „Vielleicht war er so schockiert?“ Tamara hob die Schultern. „Es war ja immerhin seine Mitarbeiterin und ...“

      „Gefällt er dir etwa?“

      „Quatsch!“, sagte sie viel zu schnell.

      Natürlich gefiel er ihr, war ja kaum zu übersehen.

      Rasch machte sich Tamara am Drucker zu schaffen.

      „Sie könnte sich ruhig etwas konkreter ausdrücken!“ Sie reichte ihm einen Ausdruck.

      Es handelte sich um Eliza Lees Obduktionsbericht. Shane überhörte ihren Unterton, verdrängte seine Gedanken an Elizas neue Affäre und las den Bericht.

      Nach Berücksichtigung der Temperaturen sowie der Bodenbeschaffenheit und der Lage des Fundortes schätzte sie den Todeszeitpunkt auf den Samstag oder Sonntag vergangener Woche. Der Ablageort der Leiche war nicht identisch mit dem Ort des Todes. Neben Verletzungen an den Fersen, die vom Schleifen auf rauem Boden herzurühren schienen, konnte sie auch post mortem zugefügte Blutergüsse an Beinen und Armen feststellen. Weiterhin hatte Eliza Prellungen im Gesicht und an den Armen Romaines entdeckt – die womöglich von einem Kampf vor ihrem Tod stammen könnten. Als Todesursache beschrieb sie das Eindringen eines spitzen, runden, sich verdickenden und gekrümmten Gegenstandes in das Schläfenbein. Der Durchmesser der Verletzung betrug zwölf Zentimeter.

      „Sagt dir ihre Beschreibung der Mordwaffe etwas?“, fragte Tamara.

      „Nein.“ Im Moment konnte er sich nicht vorstellen, was Romaine Stavarakis’ Schläfe durchstoßen und ihren Tod herbeigeführt hatte.

      Sie schwiegen beide. Shane blickte zur Straße hinaus. Das Licht hatte einen wärmeren Ton angenommen, die Schatten verloren ihre Härte. Auf der anderen Seite der Straße stieg jemand in einen geparkten Wagen. Schräg gegenüber blickte eine Frau ins Schaufenster des News Agent Shops und ging dann die Straße hinunter. In


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