INGRATUS - Das Unerwünschte in uns. Tabea Thomson
Lippen zu entlassen.
Lennard hingegen beschäftigte: »Was löste die Kolik aus.« Sophies wehklagen vereitelte ein Hinterfragen.
Beherzt, aber dennoch sehr behutsam, drehte er Sophie auf die Seite und die Sartor streifte ihr rasch die Haare beiseite. Im nächsten Moment ertastete Lennard zielgenau, an Sophies Nacken, einige neurologische Punkte. So wie er sie setzte, entspannte augenblicklich ihr blutjunger, zerbrochen wirkender Leib. Für Sekunden blieb sie zum Kraftschöpfen regungslos liegen, danach drehte sie sich langsam um.
»Lass es nicht wieder kommen«, bat sie mit flehender Stimme.
Wie gern hätte Lennard ihr das bestätigt, aber stattdessen konnte er ihr nur mitfühlend über die verheulten Wangen streichen.
Wenige Streicheleinheiten später zeigten ihre zusammengepressten Lippen, dass die Blockade aufbrach. Auf der Stelle verabreichte Lennard den mitgebrachten Amphispray, mit einer Schmerz betäubenden Mixtur. Jedem Tropfen begleitete sein mentales Gebet: »Lass es sie bitte diesmal annehmen.«
Als er den Amphispray entfernte geriet das mürbe mit Tränen überflutete Antlitz der Schwester in den Fokus. Knall auf Fall wurde all seine Zuversicht zerstört.
Sophies stummer Hilfeschrei galt hauptsächlich Lennards Medizin Experimenten. Denn er lag meilenweit neben dem Volltreffer. Sie wollte den trägen Verstand auf die Sprünge helfen, dazu setzte sie sich hin und hechelte wie eine Gebärende. Die vor Schweiß triefenden Hände umklammerten seinen linken Arm und die spitzen Fingernägel bohrten ungebremst in die zarte weiße Haut. Selbst die Hinweise brachten den Bruder keine zündende Idee. Sie hoffte dennoch sehnlichst auf ein gedankliches Wunder. Doch weit gefehlt, er litt stumm und blickte, wie er dachte – von ihr nicht bemerkt –, unentwegt zum virtuellen Biodaten Display. Aber es erfolgte keine Mixtur Annahme und über Sophies Leib rutschte ein leises Knistern.
»Wieso aktiviert sich ständig ihr körpereigenes Sicherheitssystem ...«, fragte er kummervoll.
Ein Blick in seine Kalab und er hätte binnen Sekunden die Erklärung. Leider kam er auch diesmal nicht auf die simple Idee. Hinzu kam noch: Er war wie immer vollends davon überzeugt, dass er für seine Schwester keinerlei Bedrohung darstellt. Und genau darin lag sein Irrtum. Lennards Medizin und Heil Experimente deutete Sophies Kalab nun mal als Angriff auf ihre Gesundheit. Folglich fuhr ihr Sicherheitssystem hoch. ...
~ ~
(Kalab; in diesem Teil des Skylup – des Gehirns –, ist das Wissen ihrer Shumerer Vorfahren abgelegt.)
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Für den Bruchteil eines Augenblicks zuckten drei Balken auf dem virtuellen Display.
Lennard verspürte einen Funken Hoffnung. Doch Sophies verkrampfte Finger in seinem Arm sagten, der Körper lehnt es komplett ab. Umgehend veranlasste er auf dem Terminal, das weitere Vorgehen. Und aus dem Stand, einem Sturzbach gleich, schoss das Betäubungsmittel über die Infusionseinheit in ihre Vene. Beim Einsetzen der Wirkung schaute sie ihren Bruder erbost an.
Seine Worte: »Schlaf Süße, Schlaf«, vernahm sie bereits wie durch eine Nebelwand. Lennards zaghaften Kuss auf der Stirn spürte sie nicht mehr, sie lag bereits in einen alles vergessen lassenden Beta-Phi Traum.
*
Wie er Sophie so daliegen sah, kam das ›warum bekam sie diese Kolik‹, ins Bewusstsein zurück. »Seit wann hatte sie erste Anzeichen?«, seine Stimme forderte eine rasche Aufklärung.
Anstatt sofort zu antworten, zupfte die Sartor nervös am Schürzenband. Erst ein ermahnender Blick von Lennard veranlasste sie zu berichten: »Als Sophies Besuch kam, ging es ihr gut. Damit ich nicht störe, habe ich die Belegzelle verlassen. Ich gestattete mir, in der nahen Messe eine Mahlzeit einzunehmen. Als ich zurückkam, ging es ihrer Schwester immer noch gut«, so wie die Sartor das sagte, hörte es sich nach einer Verteidigung an, »Magister ich hatte seit dem frühen Mittag nichts mehr an Nahrung«, ihre stimmliche Verbeugung verstärkte Lennards Empfindung.
»Ich mache ihnen deswegen keine Vorwürfe.« Seinen Worten zum Trotz sah er nunmehr die Sartor mit stechendem Blick an.
Es wirbelte ihr die Gedanken durcheinander. Sie starrte zum Boden. »Als ich zurückkam«, stammelte sie mit kleinlauter Stimme, »lag Sophie entspannt auf dem Bett. Sie führte via Interface ein Gespräch mit der Mom. Nichts deutete auf eine beginnende Kolik hin. Erst Minuten später ging es ihrer Schwester nicht gut ...«
Unterdessen die Sartor sprach, setzte sich Lennard mit nachdenklicher Mimik ans Fußende von Sophies Biobett, dabei verrutschte die Bettdecke. Zeitgleich stöhnte sie matt. Lennard wiederum strich ihr beruhigend über die Hand. Schlagartig spürte er ihren nur betäubten Schmerz. In Gedanken fragte er sich: »Wieso bekommst du aus heiteren Himmel Koliken? Wenn ich dich wenigstens abtastend untersuchen könnte ...«, mitten im Selbstgespräch entdeckte er auf der blütenweißen Bettdecke ein langes, nachtblaues leicht lockiges Haar. Es lag wie bestellt da. Er zupfte es ab, dabei schielte er flüchtig zur Sartor. In Gedanken schlussfolgerte Lennard: »Von der Sartor kann es nicht sein. Ihr kurzes Haar ist fast weiß und Luckas ist blond.«
Am Ende seiner Überlegung hielt er der Sartor das Haar unter die Nase und dabei warf er ihr einen misstrauischen Blick zu. Bevor sie was zu ihrer Entlastung sagen konnte, quetschte Lennard sie stimmgewaltig aus: »Wer besuchte noch meine Schwester?«
In eine schüchterne Unschuldsmiene gehüllt antwortete die Sartor mit blecherner Stimme: »Sire, als ich sie verließ, weilte nur er bei ihr.«
Ohne weiter darauf einzugehen, verwies er die Sartor mit einer wegweisenden Geste des Raumes. Schleunigst tat sie, was er verlangte. Ihr unterwürfiges Verhalten verdoppelte nahezu sein argwöhnisches Gefühl. Grimmig zur Tür sehend zischte er: »Da stimmt was nicht. Ohne Anweisung des behandelnden Heilers verlässt niemals eine Sartor die zu Pflegende.«
Kopfschüttelnd dreht er sich wieder zur schlafenden Schwester, die Finger veranlassten derweil, dass der lahmende Scanner ansprang.
Ruckelnd tastete der Strahl über Sophies matten Leib.
Zähneknirschend verfluchte Lennard die unbrauchbare Technik. Seine erzürnte Mimik zeigte, was im Inneren ablief. Er glaubte nicht daran, dass er mit den zu erwartenden Scandaten etwas anfangen kann. Doch allen bösen Vorahnungen zum Trotz wartete er auf das Ergebnis. Bis es soweit war, dachte er über die letzten drei Jahre nach. Was nicht heißen soll; dass sein Eheweib Cara und er nicht zufrieden sind. Allerdings wächst von Woche zu Woche das Gefühl, hier scheint irgendetwas nicht so zu sein, wie es ist. So hört er auf den Korridoren ab und an fremde Stimmen. Ebenso sah er dort Personen, die, wenn sie um eine Ecke bogen, verschwunden waren. Des Weiteren hörte er auf dem Deck, wo sein Quartier ist, Respekt einflößende Kampfgeräusche von Pogna cor Klingen. – Und dann die Heiler-Technik!, Schrott ist dazu noch zu gelinde ausgedrückt. … Nicht zu vergessen sein Freund Sorel Gwen. Sein Verhalten ist mehr als bedenklich. Kurzum Lennard ist der Meinung: Es ist Zeit darüber Aufzeichnungen anzulegen, vielleicht sind sie ihm einmal nützlich.
Weil der Scanner ohnehin noch einige Minuten braucht, beschloss er: Ich beginne jetzt sofort damit.
Hierzu nahm er das handflächengroße PAD aus seiner Dienstjacken Brusttasche.
Währenddessen sein Datenspeicher holografische Papierblätter erzeugte, rückte er einen Stuhl beim Wandtisch zurecht. Als seine robust gebaute Statur lässig an der kühlen Wand lehnte, tauchte er in seine Erinnerungen ab. Gleichwohl er wusste, dass er wieder in etliche Gedächtnislücken purzeln wird, begann er zu diktieren: »... Einleitend noch einige Sätze vorweg. Mein Studium zum Weiberheiler endete im Jahr zweiundzwanzig einundfünfzig mit dem Abschluss zum Macister.
Wo ich in den Jahren bis Mitte neunundfünfzig überall gearbeitet habe, fällt mir im Moment nicht ein. – Egal. Jedenfalls habe ich seit Anfang des achten Erden Monat desselben Jahres als Heiler-Ausbilder gearbeitet.
Mein Einsatzort war an einer Sternen Kinder Universität auf dem Planeten Polaris in der Stadt Zkyl. Mein Betätigungsfeld umfasste ausschließlich den praktischen Ausbildungsteil