Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen. Tobias Fischer

Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen - Tobias Fischer


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richtig. Anders als Vanessa hatte sie sich bereits einen Reim auf das Ganze gemacht – und sie fürchtete sich zu Recht. Mit dem Schwarzen Manifest war nicht zu spaßen.

      »Vielleicht ist es besser, du bleibst auch hier, Vanessa«, meinte Tom, doch sie schüttelte energisch den Kopf.

      »Ich werde auf keinen Fall zurückbleiben, wenn ich Ernie irgendwie helfen kann. Ich liebe ihn, ich werde mitkommen, egal, was passiert«, sagte sie.

      Tom musste lächeln. So sind die Verliebten, dachte er. Vanessa würde sich nicht aufhalten lassen. Schließlich erklärte er sich einverstanden. Zu dritt warteten sie auf den Bus, und als Vanessa eingestiegen war, wandte sich Tom noch einmal an Lilly. »Die Sache ist todernst! Wenn ich dir eine entsprechende Nachricht schicke, wirst du die Polizei anrufen. Unter dieser Nummer hier«, sagte er und drückte ihr einen kleinen Zettel in die Hand. »Die gehört Detective Chief Inspektor Gregson vom CID. Er ist ein enger Vertrauter von Veyron. Du musst ihm alles erzählen. Ich melde mich.«

      Lilly nickte ernst. »Kommt nur heil wieder zurück«, verabschiedete sie sich und bemühte sich um ein Lächeln, das ihr ordentlich misslang.

      Tom erwiderte ihre Abschiedswünsche so fröhlich, wie er konnte, und stieg dann ein. Ich muss verrückt geworden sein, dachte er, als er sich neben Vanessa auf den freien Platz setzte. Ohne Veyrons Wissen oder Unterstützung legte er sich mit den Kräften an, die hinter dem Schwarzen Manifest standen. Wie weit er wohl kommen würde?

      Vom Underground-Bahnhof Harrow & Wealdstone ging es mit der Overground-Linie, die ironischerweise dennoch unterirdisch verlief, zum Bahnhof London Euston. Unterwegs wagte Tom Vanessa schließlich zu verraten, zu wem er wollte. Er erzählte ihr von Veyrons Bruder Wimille, der in Camden wohnte. Viel wusste er ja selbst nicht von jenem geheimnisvollen Mann, nur dass er der Einzige war, der ihnen jetzt noch helfen konnte. Vanessa nahm es mit Gleichmut auf; ihr war nur wichtig, dass sie Ernie möglichst schnell fänden. Von Euston nahmen sie die Northern-Linie nach Camden Town und mussten dann zu Fuß bis 213 Gloucester Crescent marschieren, in dessen ersten Stock Wimille Swift wohnte. Das alte, aus dem späten 19. Jahrhundert stammende Gebäude grenzte nahtlos an eine Reihe gleichartiger Bauten der halbmondförmigen Straße. Im Erdgeschoss gab es ein Pub, die Fenster des zweiten und dritten Stocks waren dagegen finster und staubig, diese Etagen waren offenbar unbewohnt. Als Tom mit Vanessa die Treppe zur Haustür hochgestiegen war, konnte er am Klingelschild nur einen einzigen Namen finden. Swift. Ein plötzliches Zögern befiel Tom, ließ seinen Daumen einen Moment über dem bronzenen Klingelknopf schweben. Gerade kam ihm in den Sinn, dass es vielleicht einen guten Grund gab, warum ihm Veyron nie viel über seinen Bruder erzählt hatte.

      Vanessa hielt es nicht mehr aus. Mit ihrer Hand presste sie nun Toms Daumen auf die Klingel, und ein infernalisch lautes, schrilles Geräusch hallte durch die ganze Straße. Vanessa entfuhr ein Schrei, und sie hielt sich die Ohren zu. Bevor Tom vor Schreck die Augen zukniff, sah er noch einige Passanten zusammenzucken. Wimille hatte die Klingelanlage mit einem Lautsprecher verstärkt, vielleicht, um lästige Hausierer zu verscheuchen. Er wollte offenkundig allein gelassen werden. Der Effekt war überzeugend genug, Tom hatte jedoch ein ernsteres Anliegen, als ein irgendein Abo zu verkaufen. Er klingelte wieder, worauf dieses entsetzlich schrille Geräusch erneut durch die Straße heulte.

      »Hör auf damit, Junge!«, fuhr ihn einen Moment später eine helle Stimme durch die Sprechanlage an. »Sieh zu, dass du verschwindest, und nimm deine dumme Freundin mit!«

      Tom war zu verdutzt, um sofort zu reagieren. Mit Veyron Swift auszukommen, war bisweilen schon nicht leicht, doch sein Bruder erwies sich als geradezu feindselig. »Mr. Wimille Swift?«, fragte er vorsichtig.

      Ein wütendes Schnauben kam zur Antwort. »Ich buchstabiere es für dich: H. A. U. A. B. Hau ab! Verschwinde! SOFORT!«, donnerte es aus der Sprechanlage.

      »Sir, ich bin Tom Packard, und …«

      »Ich ruf die Polizei, wenn …«, brüllte die Stimme hysterisch und brach dann plötzlich ab.

      Einen Moment lang hörte Tom nur ein gleichmäßiges Atmen durch die Sprechanlage. Verwundert drehte er sich zu Vanessa um, die ihn aus großen, entsetzt aufgerissenen Augen anstarrte.

      »Lass uns verschwinden. Der Typ ist ein Irrer«, jammerte sie halblaut.

      Tom schüttelte den Kopf – auch wenn sie vermutlich recht hatte.

      Im nächsten Moment summte der Öffner. Vorsichtig schob Tom die Tür ein wenig auf, ehe er es wagte, sie ganz aufschwingen zu lassen und in den Flur zu treten. Vanessa folgte ihm eingeschüchtert. Hinter ihnen schloss sich die Tür wieder von allein, ein Klacken kündete von einer elektronischen Verriegelung. Die Lichter im Treppenhaus sprangen flackernd an und leuchteten ihnen den Weg nach oben. Langsam, beinahe ehrfürchtig, nahm Tom die Stufen.

      Im ersten Stock öffnete sich eine weitere Tür mit elektronischem Schloss, und sie traten in eine finstere, spartanisch eingerichtete Wohnung. An einem dunklen Tisch saß eine schlanke, ausgemergelte Gestalt, kleiner als Veyron und weit weniger sportlich. Wimille Swift wirkte gut und gerne zehn Jahre älter als sein Bruder. Seine dunklen Locken waren von Silber durchzogen und wichen an der Stirn schon deutlich zurück, wo sie ausgeprägte Geheimratsecken hinterließen. Zumindest die scharfe Adlernase hatte Wimille mit Veyron gemein. Tom fand, dass sie bei Wimille sogar noch markanter wirkte –, und natürlich besaßen beide den gleichen durchdringenden Blick aus eisblauen Augen.

      Wimilles dünne Lippen verzogen sich zu einem schüchternen Lächeln, als Tom näher trat. Unsicher und nervös spielte der Mann mit seinen Fingern und rieb zugleich mit den Schuhen aneinander. »Tatsächlich, es stimmt«, sagte er mit schüchterner Freude. »Dieselben Augen wie Susan, auch die Wangenpartie ist ihrer ähnlich. Veyron hat nicht gelogen, seine Beschreibung war wie üblich sogar überaus exakt. Vergib mir, Tom, ich hatte es bezweifelt.« Überaus agil sprang Wimille auf und kam um den Tisch herum, um Tom zu begrüßen.

      Auch Vanessa trat langsam näher, doch Wimille schenkte ihr nur ein kommentarloses Nicken.

      »Ja, du bist wahrhaftig Susan Evans’ Sohn, mein Junge. Schön, dass wir uns endlich kennenlernen und …«, fuhr Wimille fort, doch plötzlich stockte er, holte tief Luft und wandte sich ab.

      Tom bemerkte, wie Veyrons Bruder kurz die Fäuste ballte, ehe er sie wieder entspannte. »Mr. Swift, ich komme, weil ich Ihre Hilfe benötige. Wir haben ein kleines Problem, und ich hörte von Veyron, dass Sie gewissermaßen ein Genie sind, und …«, begann er zu erklären.

      Wimille fuhr zu ihm herum, die schmalen Lippen zusammengepresst, ehe er wieder zu lächeln begann. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, meine Junge. Selbstverständlich stehen dir meine Dienste zur Verfügung. Geht es um die junge Dame da? Soll ich sie hinauswerfen?«

      »Was?«, entfuhr es Tom schockiert. »Nein, das ist nur Vanessa«, sagte er. Im gleichen Augenblick spürte er ihren Ellbogen in seiner Seite. »Autsch! Sie ist meine Klientin. Ihr Freund ist verschwunden, und wir versuchen, ihn aufzuspüren. Wir haben aber keine Adresse, sondern nur eine Nachricht von ihm. Ich dachte, sie wären vielleicht in der Lage, das Handy ihres Freundes zu orten.«

      Wimille warf Vanessa einen forschenden Blick zu. Plötzlich wirbelte er auf den Absätzen herum und eilte ins nächste Zimmer. Zögernd folgten ihm Tom und Vanessa. Sie fanden ihn in einem kleinen, fensterlosen Raum, dessen Wände mit Bildschirmen gepflastert waren. Auf einem runden Tisch waren mehrere Tastaturen aufgestellt. Zahlencodes rasten die Bildschirme rauf und runter, und Vanessa pfiff entgeistert durch die Zähne, als sie das alles sah.

      »Was machen Sie beruflich? Arbeiten Sie beim Geheimdienst?«, fragte sie.

      Tom sah ihre Augen vor Staunen regelrecht leuchten. Wimille schien sie gar nicht zu bemerken, sondern setzte sich an den Tisch und streckte ihr seine Hand entgegen. Vanessa sah Tom verunsichert an, doch er nickte ihr aufmunternd zu und gab ihr zu verstehen, dass sie Wimille ihr Smartphone geben solle. Eifrig zog Vanessa es aus der Tasche und gab es dem Bruder Veyrons. Wimille entfernte sofort den Deckel, und mit einer Geschwindigkeit, die Tom kaum verfolgen konnte, entnahm er den Akku und sämtliche Chips, steckte diese in kleine Fächer seiner Tastaturen und tippte anschließend


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