Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen. Tobias Fischer

Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen - Tobias Fischer


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befand. »Wir alle sind in Gefahr. Ich melde mich bei dir«, sagte Tom ein wenig geistesabwesend.

      Gemeinsam verließen sie Wimilles Wohnung. Anschließend brachte Tom Vanessa noch zur nächsten Underground-Station. Er wartete, bis sie eingestiegen war, ehe er seinen eigenen Plänen folgte. Jetzt galt es, Wimille aufzuspüren. Theoretisch konnte Veyrons seltsamer Bruder überall hingefahren sein, doch Tom hatte eine bestimmte Ahnung, wo Wimille hinwollte. Und falls er nicht dort war, so wäre ein Besuch an jenem Ort vielleicht so oder so notwendig.

      Mit dem nächsten Bus fuhr Tom nach Uxbridge. Drei Jahre lang hatte er jenen Ortsteil Londons schon nicht mehr aufgesucht, aber früher hatte er diese Straßen sein Zuhause genannt – bis seine Eltern damals ums Leben gekommen waren; ermordet von übermächtigen Kräften. Dort angekommen zog es ihn zuerst nach Norden, wo das frühere Haus seiner Eltern stand. Seine Stieftante hatte es kurz nach dem Unglück verkauft, um damit irgendwelche Schulden abzubezahlen. Als Vormund Toms durfte sie das auch ohne seine Einwilligung machen. Darüber konnte er sich heute noch ärgern. Vermutlich würden seine ganze Wut und die lange zurückgehaltene Trauer erneut hochkommen, wenn er vor seinem ehemaligen Zuhause stünde. Darum entschied er sich schließlich, das nicht zu tun. Wahrscheinlich würde er Wimille dort sowieso nicht finden. Veyron und Wimille waren in ihrer Jugend Nachbarn von Susan Evans gewesen, und beide hatten eine enge Beziehung zu ihr gehabt, die erst durch Susans Heirat mit Joseph Packard einen Riss bekommen hatte. Von Veyron wusste Tom, dass Wimille Susan besonders verehrt hatte.

      Es gab hier noch einen anderen Ort, an dem Toms Eltern präsent waren. Also nahm er den nächsten Bus nach Süden, zum Hillingdon & Uxbridge Friedhof. Fünf Minuten später durchschritt er bereits das große Torgebäude, einen großen, dunkelgrauen Bau, der dem finstersten Mittelalter entsprungen zu sein schien. Inzwischen war es bereits Nacht, die Sterne standen am dunklen Firmament. Den Weg zum Grab seiner Eltern kannte er in- und auswendig – selbst nach drei Jahren wusste er ihn noch ganz genau. Auf den leeren Wegen des Friedhofs traf Tom nicht eine Menschenseele.

      Inmitten einer grünen Rasenfläche stand eine schwarze, steinerne Stele, viele Meter vom nächsten Grab entfernt. Im oberen Teil war ein kleines, goldenes Kreuz eingraviert, und darunter stand:

       Joseph Lloyd Packard 1976-01-12 – 2011-02-18

       &

       Susan Eleanor Packard, geborene Evans, 1977-09-14 – 2011-02-18

      Tom seufzte, als er die Inschrift las. Eine tiefe Scham befiel ihn. Seit er damals zu Tante Priscilla nach Ealing hatte ziehen müssen, war er nicht mehr hierhergekommen. Kein einziges Mal, aus Angst, dass ihn der Schmerz über den Verlust seiner Eltern übermannen würde. Tatsächlich begann er zu zittern, und während ihn mehr und mehr fror, erschwerte ihm ein Kloß im Hals das Schlucken. Die Stille hier, die Einsamkeit der Säule auf dem Rasen, all das machte ihm deutlich, wie allein er war. Außer Tante Priscilla wusste Tom von keinem Verwandten seiner Eltern. Sein Vater war ein Einzelkind gewesen, seine Mutter die Adoptivtochter der Evans’. Beide Großelternpaare waren schon vor rund zehn Jahren gestorben. Dennoch wirkte die schwarze Stele wie neu, sauber geputzt, und das Gras war gemäht. Am Fuß des Grabsteins lag eine einzelne, blutrote Rose.

      »Ich komme jeden Sonntag hierher und bringe Susan ihre Rose«, hörte er die halblaute Stimme Wimille Swifts hinter sich. Langsam drehte sich Tom um und entdeckte Veyrons Bruder im Schatten eines Baumes.

      Als er ins Mondlicht trat, sah Tom, dass Wimilles Augen verquollen waren, als hätte er heftig weinen müssen. Vorsichtig und mit einem zaghaften Lächeln kam er näher und stellte sich neben Tom.

      »Ich weiß, Sonntag ist erst morgen. Aber vielleicht habe ich morgen keine Zeit mehr dafür, nicht wahr?«, meinte Wimille und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Ich habe deine Mutter geliebt, weißt du? Anders als Veyron, der hat in Susan stets nur die Schwester gesehen, die wir nie hatten. Jemanden, der ihn verstanden hat und ihn mochte. Das hat er mit einer kindischen Anhänglichkeit erwidert. Ich aber sah in ihr die Frau meiner Träume. Sie konnte mich zum Lachen bringen, wie es sonst niemand schaffte. Es war pure Glückseligkeit, auch nur in ihrer Nähe zu sein. Ich hab ihr Liebesbriefe geschrieben, Dutzende. Selbst als sie mir sagte, dass es zwischen uns nichts anderes geben könnte als Freundschaft, war sie sehr nett und verständnisvoll.« Mit einem um Vergebung flehenden Blick schaute er Tom an.

      Tom schenkte ihm ein Lächeln. »Ich weiß«, sagte er. »Veyron hat es mir erzählt – okay, er hat es eigentlich mehr oder weniger nur angedeutet. ›Da musst du einen anderen Swift fragen‹, hat er gesagt, als es darum ging, ob er in meine Mutter verliebt war. Aber ich kann eins und eins zusammenzählen, wissen Sie.«

      Wimille lächelte dankbar und berührte Tom an der Schulter. Doch schon im nächsten Moment wandte er sich ab und gab einen gequälten Laut von sich. »Ich war ein Idiot, Tom! Und unerträglich eifersüchtig auf deinen Vater! Darum bin ich aus Uxbridge weggezogen. Veyron hat sich dadurch zu einem großen Fehler hinreißen lassen, weißt du? Er hat gemeint, er müsste mich verteidigen, und sich bemüht, allerhand vermeintlich schlimme Sachen über deinen Vater herauszufinden, und hat Susan gewarnt. Er wollte verhindern, dass deine Eltern zusammenbleiben. Veyron hat mich stets schützen wollen, selbst als kleiner Junge schon. Aber immer, wenn er versucht, die Menschen zu behüten, die er liebt, dann geht etwas schief. Joey war natürlich nach dieser Sache nicht gerade gut auf Veyron zu sprechen, aber Susan hielt seinen Versuch, sie und Joey auseinanderzubringen, für einen Scherz. Sie hat es als Einzige nie ernst genommen. Ja, sie rang Veyron sogar das Versprechen ab, auf ihre Kinder genauso aufzupassen wie auf sie, sollte ihr jemals etwas zustoßen. Ihre Entscheidung aber, Joey zu heiraten, war unverrückbar. Veyron musste das schließlich genauso akzeptieren wie ich.

      Ich glaube, diese Tatsache hat ihn tiefer verletzt, als er zugeben wollte. Susan war mit dir schwanger, als auch er aus Uxbridge fortging. Wir hatten nie wieder Kontakt zu deinen Eltern.«

      Tom wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Viele der Dinge, die ihm Wimille erzählte, hatte er selbst erst letztes Jahr unter ganz besonderen Umständen erfahren. Endlich erkannte er auch ein paar Zusammenhänge. Veyron war, was dieses Thema betraf, in den vergangenen drei Jahren stets sehr verschwiegen gewesen.

      »Kurz vor Susans und Joeys Tod kam Veyron zu mir, ganz aufgeregt. Wir müssten augenblicklich jede Anstrengung unternehmen, Susan zu beschützen. Joey und sie würden bedroht, von einer so dunklen Macht, wie man sie sich kaum vorstellen könne. Ich habe also die Zaltianna Trading Company gehackt und die Spuren, die dein Vater bei seinen Recherchen hinterlassen hat, umgeleitet. Veyron und ich, wir haben ausgeknobelt, auf wen der Verdacht fallen sollte – bei einer Partie Schach. Ich habe natürlich in drei Zügen gewonnen – wie immer. Heute bin ich mir allerdings nicht mehr sicher, ob er mich nicht einfach nur gewinnen ließ. Es ging doch überraschend schnell, wie ich fand«, fuhr Wimille fort.

      Tom musste schlucken. Er wusste inzwischen, dass seine Eltern vom Schattenkönig ermordet worden waren, dem obersten Häscher des Dunklen Meisters. Veyron und Wimille hatten darum gespielt, wer sich für Susan und Joey opfern sollte, und Veyron hatte Wimille gewinnen lassen, um seinen Bruder zu retten. Und ich habe Veyron meine Unterstützung verweigert, als er sie brauchte, dachte er schuldbewusst.

      Wimille stieß ein finsteres Lachen aus und holte Tom damit in die Realität zurück. »Doch den Schattenkönig konnten wir nicht täuschen! Er hat Joey von Anfang an in die Falle laufen lassen. Veyron und ich, wir kamen zu spät. Wir haben versagt. Darum bist du heute eine Waise, darum gehört das Haus, das rechtmäßig dein sein sollte, jetzt einem Robert T. Moorhead, und deine Tante sitzt in Venezuela wegen Veruntreuung und Betrugs im Gefängnis. Und ich …« Wimilles Stimme eben noch zitternd vor Wut, versagte, und er brach in Tränen aus, während er auf die Knie sank. »Vergib mir, Tom, bitte vergib mir! Ich habe alles versucht. Alles nur erdenklich Mögliche habe ich versucht, aber ich konnte Susan nicht retten. Ich war zu langsam«, jammerte er.

      Tom legte seine Hand auf Wimilles Schulter, bückte sich zu ihm hinunter, um ihn zu trösten. Noch bevor er auch nur ein Wort sprechen konnte, riss sich Wimille jedoch schon wieder los, sprang auf und stieß einen wütenden Schrei aus.

      »Das ist alles Veyrons Schuld! Warum


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