Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen. Tobias Fischer
geschrieben und diese patentieren lassen. Noch heute benutzen die meisten modernen Programme meine Algorithmen. Ich lebe von den Lizenzeinnahmen, keine große Sache. Nicht jeder erbt so vortrefflich wie mein Bruder«, sagte Wimille mit einer Gleichgültigkeit in der Stimme, die Tom verdächtig bekannt vorkam. Unweigerlich musste er schmunzeln.
»Veyron hat geerbt?«, fragte er interessiert.
Wimille brauchte einen Moment, bevor er antwortete. Neue Zahlencodes flogen über einen der Bildschirme und beanspruchten seine volle Aufmerksamkeit. »Ja, das Haus unserer Großeltern. Da wollte ich nicht hinziehen und hab ihm mein Erbteil überlassen, weil ich keine frei stehenden Gebäude mag. Ich hasse es, wenn man mich von allen Seiten begaffen kann. Schlimm genug, dass Häuser überhaupt Fenster haben. Ich hab alle Stockwerke angemietet, damit hier niemand sonst einzieht. Nur das Pub unten bin ich noch nicht losgeworden«, sagte er schließlich.
»Sind Sie ein Hacker? Sind Sie dafür nicht ein bisschen zu alt?«, wollte Vanessa wissen. Tom strafte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. Verlegen biss sie sich auf die Lippe.
»Falls dreiundvierzig für Sie alt ist, kann ich Ihnen nicht helfen, Miss …«, gab Wimille mit Swift’scher Gelassenheit zurück. Er starrte auf den Bildschirm und verzog kurz das Gesicht. »Miss Sutton, aha. Sie kommunizieren sehr viel mit einer gewissen Miss Lilly Rodgers, wie ich sehe. Sehr unklug von der jungen Dame, ausgerechnet Ihnen zu vertrauen. Sie sind recht geschwätzig«, stellte Wimille abfällig fest. Er drückte eine Taste auf einer anderen Tatstatur. Auf zwei Bildschirmen erschien die Benutzeroberfläche von Vanessas Telefon zusammen mit den Gesprächsprotokollen aller ihrer Kontakte – und wiederum deren Gesprächsprotokolle mit all ihren Kontakten.
Tom schaute zu Vanessa, die abwechselnd glutrot und leichenblass wurde. Veyron war manchmal schon unerträglich direkt, aber Wimille zeigte überhaupt keine Hemmungen, seine Abneigung gegenüber Vanessa kundzutun. Er mochte Wimille jetzt schon.
Vanessa versuchte natürlich sofort, das Thema zu wechseln. »Wie viele Handys haben Sie da eben geknackt? Das sind ja Dutzende von Chats, die sich da öffnen«, rief sie voller Staunen aus.
»Momentan sind es einhundertvierzig, aber es werden mit jeder Sekunde mehr«, meinte Wimille beiläufig. »Mein Programm macht das ganz von allein, ich muss es nur überwachen. Das ist wirklich nicht so schwer, wenn man einmal in die Datenbanken der CIA und des MI-6 eingebrochen ist – was diese bis heute noch nicht bemerkt haben. Also, was wollt ihr zwei wissen?«
»Wir suchen Ernie Fraud. Ich hab den dringenden Verdacht, dass er sich in eine riesengroße Dummheit stürzt. Wir müssen wissen, wo er sich in diesem Moment aufhält«, sagte Tom.
Wimille war sofort am Eintippen. »Sein Telefon hat die letzten Geodaten aus dem Hafen von Felixstowe gesendet. Das war heute Morgen, so sagt mir sein Mobilfunk-Provider. Offenbar hat er anschließend den Akku aus seinem Telefon genommen oder es zerstört. Es gab nach seiner letzten Nachricht an die junge Dame keine weiteren Datenübertragungen. Hilft euch das?«
Tom versuchte, aus diesen Informationen schlau zu werden. Was wusste er über Felixstowe? Nun, es war der größte Containerhafen Großbritanniens. Die Wahrscheinlichkeit lag also hoch, dass Ernie versuchen würde, mit einem Schiff außer Landes zu kommen. Vielleicht wollte er sich ja wirklich einer Terrororganisation anschließen? »Ankert ein Schiff in Felixstowe, auf dessen Fahrtroute der Nahe Osten liegt?«, fragte er Wimille, und zu Vanessa gewandt sagte er: »Vielleicht will er erst in ein Ausbildungscamp.«
»Wir müssen ihn aufhalten. Lass uns sofort aufbrechen«, sagte sie und wollte schon gehen, doch Tom schüttelte den Kopf.
»Felixstowe ist riesig. Ohne weitere Informationen werden wir das Schiff nie finden, das Ernie nehmen will«, meinte er.
Vanessas Wangenknochen traten hervor, so fest biss sie ihre Kiefer zusammen. Nur mühsam brachte sie ihren Tatendrang unter Kontrolle.
»Das ist wirklich nicht weiter schwer«, sagte nun Wimille mit einem amüsierten Kichern. »Vergleiche ich den Ort der letzten aufgezeichneten Datenübertragung mit den Schiffen in Felixstowe, so hat Mr. Fraud seine letzte Nachricht an Miss Sutton von einem Schiff gesendet, einem Containerfrachter.«
»Können Sie herausfinden, wie das Schiff heißt und ob es schon ausgelaufen ist?«, fragte Tom, worauf Wimille meinte, das nichts leichter als das wäre.
Während Veyrons Bruder mit irrsinniger Geschwindigkeit Befehle in die Tasten hämmerte, zog Vanessa Tom etwas zur Seite. »Wie macht er das? Wieso kann er sich innerhalb von Augenblicken in alle Systeme der Welt hacken?«, wollte sie wissen.
»Wimille besitzt die Gabe, Programme zu lesen wie andere Leute Bücher. Und wie ein genialer Lektor findet er jeden noch so kleinen Fehler in den Codes und jede Sicherheitslücke. Er ist überhaupt ein technisches Genie. Veyron hat mir mal erzählt, dass Wimille ihm seine sämtlichen Smartphones zusammenbastelt und programmiert. Er nimmt einfach dein Telefon in die Hand, zerlegt es und erkennt sofort jeden Makel in der Konstruktion. Aber mehr weiß ich auch nicht«, versuchte Tom, das Phänomen Wimille zu erklären. Veyron sparte ja stets mit Informationen und gab immer nur das Notwendigste preis.
»Es ist die Zaltic Asp«, rief Wimille einen Moment später triumphierend. »Ein Super-Containerschiff, das achtzehntausend ISO-Container laden kann, 18000 TEU, wie man es in der Logistikbranche ausdrückt. Das Schiff liegt noch am Pier, planmäßiges Auslaufen ist für morgen Abend vorgesehen. Betreiber ist …« Plötzlich stand er auf und verließ seinen Hackerraum. Ohne weitere Erklärung schlüpfte er in eine Jacke und verließ die Wohnung.
Tom hörte kurz darauf das Surren der Haustür. Vanessa und er eilten zum nächsten Fenster und sahen Wimille unten auf der Straße zu den nahen Garagen eilten und in einer davon verschwinden. Kurz darauf schoss ein himmelblauer VW-Käfer heraus, der blubbernd die Straße entlangjagte, bis er außer Sicht war.
»Also, du hast schon wirklich zwei seltsame Vögel als Onkel. Kannst du mir sagen, was das eben sollte?«, fragte Vanessa.
Tom schüttelte nur den Kopf und kehrte in das Zimmer zurück. Etwas hatte Wimille aufgeschreckt, ihn regelrecht verstört; Tom musste wissen, was. Die Antwort entdeckte er gleich darauf auf einem der Bildschirme, wo ein Diagramm der Zaltic Asp abgebildet war. In blutroten Lettern stand darunter: Zaltianna Trading Company.
Mit einem Seufzen ließ sich Tom in Wimilles Sessel sinken. Auch das noch!
»Was bedeutet das?«, fragte Vanessa neugierig. Tom lächelte unglücklich. Natürlich! Ihr sagte der Name dieser Firma gar nichts, er jedoch hatte in den letzten Jahren diesen Namen oftmals gehört, und er verfluchte ihn.
»Die Zaltianna Trading Company, kurz ZTC, ist eines der größten Logistikunternehmen der Welt. Die unterhalten eine Flotte von Schiffen und Flugzeugen und transportieren so ziemlich alles. Krumme Geschäfte stehen bei denen auf der Tagesordnung. Ich kann dir nur so viel sagen, Vanessa: Wenn sich Ernie auf einem Schiff der ZTC befindet, dann ist er in Lebensgefahr! Ich weiß es, ich hab es am eigenen Leib erfahren«, erklärte er finster. Selbstverständlich sagte er ihr nicht, dass sein Vater ein Geheimnis der ZTC aufgedeckt hatte – nur um kurz darauf ermordet zu werden, zusammen mit Toms Mutter. Er konnte ihr auch nicht davon erzählen, dass sich im Besitz der ZTC ein Durchgang nach Elderwelt befand. Dort unterstützte sie die Anhänger des Dunklen Meisters mit Technologie und anderer Ausrüstung. Die ZTC finanzierte beispielsweise die Piraten Elderwelts. Und jetzt befand sich Ernie Fraud in deren Klauen – entweder freiwillig oder dazu gezwungen.
»Tom, du machst mir Angst«, riss ihn Vanessas Stimme aus seinen finsteren Überlegungen. Tom sprang aus dem Sessel und fasste sie mit beiden Händen an den Schultern.
»Du hast Angst? Gut, denn das solltest du auch! Diese Leute sind Mörder, Vanessa. Ich weiß noch nicht, wie wir Ernie retten können, aber ich werde mir was einfallen lassen. Jetzt muss ich erst einmal Wimille finden. Wir brauchen noch mehr Informationen und einen guten Plan. Fahr zurück nach Harrow, ich melde mich morgen bei dir«, sagte er. Draußen sah er bereits die Sonne untergehen, und ihm wurde bewusst, wie spät es inzwischen war. Ein perfekter Vollmond stand am Himmel. Heute Nacht hätte der verrückte Henry Fowler sein letztes