Nela Vanadis. Nina Lührs

Nela Vanadis - Nina Lührs


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großes Stück Fleisch heraus. Das Signal für die anderen, es dem Anführer gleichzutun.

      Unfähig sich abzuwenden, beobachtete Nela den erschreckenden Anblick. Auch wenn die Toten in ihrem Leben böse Kreaturen gewesen waren, erschütterte es Nela dennoch, dass ihre Leichen einem Rudel Urhunde überlassen wurden. Warum kümmerte sich niemand um die Leichen, bewahrte sie vor diesem grausigen Ende? Die Vorstellung selbst nach dem Tod gefressen zu werden, rief in Nela eine uralte Beklemmung wach. Ein kalter Schauder fuhr ihren Rücken hinab.

      „Nela?“, drang nur leise Emmas Stimme zu ihr durch. „Du musst dir das nicht ansehen.“

      „Doch“, erwiderte Nela abweisend, ihren Blick fortwährend auf das grausame Fressen der Urhunde gerichtet. Zwei Urhunde rissen und zerrten an den Gliedmaßen des Dunkelalbs. Schließlich gaben die Sehnen und Muskeln nach, um sich von dem Torso zu lösen. Sie wollte sich abwenden, aber sie musste wissen und begreifen, wie grausam diese Welt war, in die sie unfreiwillig gelangte.

      „Das ist grausam“, flüsterte Nela entsetzt, als ein Urhund mit seinen messerscharfen Reißzähnen den Bauch eines Leichnams aufriss, sogleich quollen die Gedärme heraus. Ekel kroch Nelas Kehle hinauf, während der Urhund sich hungrig über die Eingeweide hermachte. Die leblosen Augen des Draugers starrten gen Felshimmel, nahmen nicht mehr wahr, was seinem Körper angetan wurde.

      „Es ist grausam“, Emma stockte, „Niemand füttert sie. Damit die Urhunde uns nicht jagen und fressen, sättigen sie sich an den Leichen. In dieser Zeit sind alle sicher vor einem Angriff.“

      Der kalte Schauder verwandelte sich in ein Zucken, eiskalte Wellen ließen ihren Körper zittrig beben. „Warum?“, hauchte Nela. „Warum werden sie nicht gefüttert?“

      „Um Angst und Schrecken zu verbreiten.“ Diesmal antwortete Balder. „Nur die Furcht vor den Urhunden hält die Bewohner in dieser Welt. Fügen sie sich, droht ihnen kaum Gefahr, widersetzen sie sich, ereilt sie ein grausiger Tod.“

      Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. „Das ist bestialisch“, entfuhr es Nela.

      Ein gellender Schrei echote, als zwei Urhunde sich über den schwerverletzten Drauger hermachten, dessen Verletzungen ungewöhnlich langsam heilten.

      „Wir müssen ihm helfen“, rief Nela entsetzt und wandte sich zur Tür.

      Sanft hielt Balder sie auf. „Nein! Wir können nichts für ihn tun. Die Urhunde würden uns angreifen und töten. Hier herrscht nicht nur das Gesetz des Stärkeren, hier herrscht Hel. Es mag dir grausam erscheinen, den Drauger den Urhunden zu überlassen, aber wenn wir leben wollen, haben wir keine andere Wahl, als uns den hiesigen Gesetzen zu fügen.“

      „Aber ...“, wollte Nela an seine Menschlichkeit appellieren.

      „Hel ist eine grausame Welt“, bedauerte Balder. „Ich werde nicht zulassen, dass Ihr Euer Leben für einen Mörder riskiert. Jarick würde es mir niemals verzeihen, wenn ich seine Schülerin sterben ließe. In der Wohnhöhle sind wir sicher. Die Urhunde kommen niemals in die Höhlen.“

      „Das sollte mich beruhigen, aber das tut es nicht“, erwiderte Nela zittrig. Die Drohung der Urhunde hallte immer leiser werdend durch die Unterwelt.

      „Euch wird nichts geschehen“, versicherte Balder.

      „Wie könnt Ihr Euch dessen so sicher sein?“, zweifelte die Alvarin.

      „Vor Jahren gab ich Emma mein Wort, sie zu beschützen. Ihr geht es gut und lebt an diesem gefährlichen Ort in Sicherheit“, versuchte Balder Nelas Zweifel zu nehmen.

      „Ihr kennt mich nicht. Warum solltet Ihr mich beschützen?“ Das Wort Schutz rief kein Gefühl der Sicherheit hervor. Zu grauenvoll spielte sich vor Nelas Augen das Fressen der Urhunde ab.

      „Ihr gehört zur Sebjo meines Sohnes, folglich seid Ihr auch eine Lidam meiner Sebjo.“

      Dunkel erinnerte Nela sich an Balders Worte, nachdem sie in dieser Wohnhöhle erwacht war. Dennoch brachte sie nur ein „Wieso?“, heraus, unfähig sich an die komplizierten Sebjozugehörigkeiten der Lysanen zu erinnern.

      „Auch wenn mein Sohn sich von meiner Sebjo schon vor langer Zeit gelöst hat, bleibt er mein Sohn. Sobald er es nicht mehr vermag, sich um seine Lidam zu kümmern, fällt sie unter meinen Schutz“, erklärte Balder. Immer noch irritiert über Nelas Unwissen fügte er hinzu, „Ihr solltet mittlerweile mehr über unsere Gebräuche und Gesetze wissen, da Ihr die Schülerin meines Sohnes seid. Beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, dass Jarick Euch unwissend als seine Schülerin annahm. Zu schnell könntet Ihr Euch unwissentlich in Gefahr begeben.“

      Ein boshaftes Lachen ertönte in der Wohnhöhle: ihr Entführer. Nelas Augen hefteten sich an den Gefesselten, der auf dem Boden an eine Wand gelehnt saß.

      „Was gibt es zu lachen?“, fragte Balder eisig, doch er schwieg, gab keinen Laut mehr von sich.

      „Ich wuchs als Unwissende in Midgard auf. Erst vor wenigen Monaten wurde ich eine Eingeweihte und erst seit einigen Wochen bin ich Jaricks Schülerin“, gab Nela ihm eine Erklärung, die jeder kannte. Keineswegs wollte Nela in der Gegenwart ihres Entführers mehr über sich preisgeben.

      „Ich wusste, dass dein Vater es dir eines Tages erzählen würde, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass du gleich Alvarin wirst“, entfuhr es Emma ungläubig.

      „Er hat es mir nicht erzählt.“ Tränen brannten in Nelas Augen. Emma wusste nicht, was in Midgard an diesem warmen Sommertag geschehen war.

      „Insa? Ich hätte nicht gedacht, dass ...“

      „Nein“, unterbrach Nela ihre Schulfreundin und wandte sich ihr zu.

      „Wer dann?“

      „Mein Schicksalswächter“, brachte Nela nur heraus, wieder huschte ihr Blick zu ihrem Entführer. Balder bemerkte es, sodann griff er grob nach seinem Arm, zerrte ihn auf seine Beine. „Emma, öffne die Falltür zum Keller.“ Sofort reagierte die Elfe. Schnell zog sie an dem Ring, der die im Boden eingelassene dicke Steintür öffnete. Balder stieß ihren Entführer schroff die Treppe hinunter. Schließlich kam er zurück, verriegelte die Falltür. „Jetzt können wir ungestört reden.“

      „Dann gab es bestimmt viel Ärger. Deine Eltern wollten unbedingt, dass du nichts erfährst. Ist dein Schicksalswächter einfach zu dir gekommen und hat dir die Wahrheit erzählt?“, zweifelte Emma. Neugierde schwang in ihrer Stimme mit. Ungeduldig schaute sie Nela an, die tief durchatmete, bevor sie eine Antwort gab. „Nein. Er hat mich gerettet und mir dann von der eingeweihten Welt erzählt.“

      „Was ist passiert? Wie bist du in Gefahr geraten?“ Emma war ganz aufgeregt, und Sorge schwang in ihrer Stimme mit. Die Fürsorge einer engen Freundin.

      „Während unseres alljährlichen Familienfestes stürmten abtrünnige Birger die Feier und ermordeten meine Familie.“ Immer noch spürte sie den Schmerz und die Trauer.

      „Oh mein Gott“, entfuhr es Emma entsetzt. „Ich fasse es nicht, dass die Birger es wagten, inmitten der unwissenden Welt unseren Streit zu tragen.“

      „Das erklärt aber noch nicht, warum Jarick Euch so schnell als seine Schülerin annahm“, wollte Balder den Grund wissen.

      „Jarick und mein Schicksalswächter Tristan Paladin wollten eigentlich nur ein Tvenning-Bündnis bilden. Ich war damit beschäftigt, die Regeln des Ordens zu lernen und mich auf meine Aufgabe als Großpriorin vorzubereiten, als Odin und Freya verfügten, dass ich dem Bündnis beitreten muss. Ich wollte gar nicht Alvarin werden. Ich wollte erst einmal lernen, was es bedeutet, eine Walküre zu sein.“

      „Odin! Das sieht ihm ähnlich, dass er sich über die Gesetze erhoben hat. Ein Lysane entscheidet, wer seine Schülerin wird“, regte Balder sich über seinen Vater auf.

      „Ich weiß, aber er überzeugte Jarick ...“

      „Er zwang ihn, passt es wohl besser“, erkannte Balder die Vorgehensweise seines Vaters.

      Nela nickte.


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