Katharina - Der letzte Winter mit Wölfen und Bären im Buchenland. Anna-Maria Wessely
um ihre Verwandten in Czernowitz. Ostern waren sie noch hier und jetzt soll alles anders sein? »Unvorstellbar! « denkt Katharina. Es gelingt ihnen nicht Kontakt ihren Verwandten aufzunehmen.
Sie versuchen wieder Tritt zu fassen. Katharina geht in die Webstube. Für Katharinas Geschwister hat sich im Alttag nichts verändert. Nur die Erwachsenen, vor allem die Deutschen unter ihnen, sind sehr unruhig und schnappen jede Neuigkeit auf.
Plötzlich sprechen die Menschen von Hitler und Deutschland. Angeblich will Hitler den Deutschen Bewohnern helfen. Aber wie? Für Katharinas Geschwister ist die rumänische Schule selbstverständlich. Auch, dass sie in der Woche zu Hause von einem deutschen Hauslehrer unterrichtet werden.
Die Menschen kommen untereinander gut aus. Auch mit der rumänischen Bevölkerung leben sie gut zusammen. Inzwischen hat sich Nazideutschland und Rumänien angenähert. Die rumänischen Nationalisten sind jetzt mit der Rumänisierung der Deutschen zurückhaltender.
Das lange Tal liegt schon im Schatten, als Katharina Feierabend hat. Als sie zu Hause eintrifft sitzen sie auf der Bank vor dem Haus und erwarten sie.
Sie hat den Eindruck, dass Willi und Dora jetzt etwas entspannter sind. Der Schein kann aber trügen. Ein Telegramm von ihrem Onkel hat ihre Entscheidung, hier zu bleiben, bekräftigt.
»Zu Hause ist der Teufel los. Viele Rumänen sind in die Südbukowina geflüchtet. Auch die Juden sind verunsichert. Die sowjetischen Besatzer zeigen ihr wahres Gesicht « , sprudelt es aus Willi heraus.
Die beiden wissen, dass es bei hier nur eine Übergangslösung sein kann. In einem Telegramm haben sie ihren Onkel gebeten weiter nach dem Rechten zu sehen. Das Geschäft bleibt geschlossen, die Angestellten bleiben zu Hause Die sowjetischen Soldaten sind in ihrem Haus jetzt die Hausherren.
Auch Katharinas Hoffnung schwindet, wollte sie doch im Textilgeschäft der beiden arbeiten. Katharina wusste, dass sich das Leben in der Stadt nach dem Krieg unter rumänischer Herrschaft nicht sehr verändert hatte. Die Stadt hatte ihre Eigenständigkeit und Dynamik behalten. Die Deutsche Sprache und Kultur bestimmten, wie in alten Zeiten, das Leben. Nun war mit einem Schlag alles vorbei.
Katharina kann sich immer noch nicht vorstellen, wie es jetzt in Czernowitz zugeht. Denn in der Stadt haben die Häuser, anders als im Dorf, Wasserleitungen, elektrisches Licht und Zentralheizungen. Schon lange gibt eine elektrische Straßenbahn. Eine Stadt mit österreichischem Flair, ein kleines Wien. Denn Wien war den Menschen dort immer noch näher als Bukarest.
»Was wird wohl aus den vielen Kirchen und Schulen und der großen Universität?«, überlegt Katarina. Sie hatte sich schon auf ein Leben in dieser Stadt gefreut. Jetzt ist sie ganz verzweifelt, weil ihr Traum geplatzt ist.
Hier im Dorf hat nur das Sägewerk Strom, weil es ein Stromaggregat hat. Katharinas Eltern haben zwar einen eigenen Brunnen und ein Klo auf dem Hof, sie gehen aber auch mit den Hühnern schlafen.
Den großen Garten, die Berge und den Bach hinter dem Garten und die Geschwister und Verwandten wollte Katharina, wie Willi und Dora, im Urlaub erleben. Katharina kann das alles nicht begreifen, sie weiß nur, dass sie hier nicht leben möchte.
Immer wenn Katharinas Mutter mit Willi und Dora das Gespräch beginnt, werden sie traurig und erzählen, wie schön alles war. Sie haben nichts vermisst. Der Urlaub in den Bergen war ihnen heilig. Hier in der Natur haben sie sich wohl gefühlt und Kraft getankt.
Dora erzählt: »Das Geschäft hat mir mein Onkel übertragen, weil er keine Kinder hat«. Bei dieser Gelegenheit erwähnt sie, dass er Jude ist und fügt hinzu: »Das bin ich auch«.
In der Bukowina fühlen sich die Juden wie Deutsche. Sie haben sich mit der deutschen Kultur identifiziert und begreifen nicht, was jetzt in Deutschland geschieht.
Die Juden sind meistens vermögender und gebildeter als die Durchschnittsbevölkerung, obwohl es auch viele arme Juden gibt. Die gute Wirtschaft unter den Habsburgern zog viele Juden aus Galizien an. Es zog sie besonders nach Czernowitz. Sie stellen die meisten Arbeitsplätze. Im Herzogtum fanden sie Anerkennung. Leben und leben lassen galt noch bis heute.
Die Meldungen aus dem fernen Deutschland versetzen sie in Angst und Schrecken. Jetzt hoffen sie, dass sie unter der sowjetischen Besatzung sicherer sind. Willi und Dora sehen das anders.
Über das Geschehen im Norden wird inzwischen auch im Dorf gesprochen. Da die Menschen hier nicht verstehen was geschieht, verdrängen sie es. Sie hoffen, dass der Kelch an ihnen vorüber geht?
Katharinas Meinung, dass etwas geschehen wird, bekommt immer mehr Gewicht, obwohl sie sich nicht vorstellen kann, dass es schlimm kommen wird. Auch die Deutschen in der Südbukowina sind betroffen.
Die Zeiten sind sehr unruhig. Die Flüchtlingsströme aus der besetzten Nordbukowina müssen im Süden der Bukowina bewältigt werden. Auch die deutsche Bevölkerung ist beunruhigt, weil immer wieder neue Spekulationen auftauchen.
Überall treffen sich Deutsche Familien. Sie diskutieren, obwohl sie zu keinem Ergebnis kommen. Da sie von den Ereignissen überrollt werden, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Es bleibt eine aufgewühlte Bevölkerung. Die einen glauben an Hitler, die anderen haben Angst. Die letzten fünfzig Jahre haben viel Unruhe in diese stille Region gebracht.
Auch Katharina verdrängt diese Probleme. Bei ihr wird der Gedanke an Viorel wieder wach. Sie denkt: »Was bedeutet diese Entwicklung für junge Menschen? Wie wird Viorel und wie werden seine Eltern auf die neue Situation reagieren? « .
Fragen über Fragen drängen sich ihr auf. Katharina nimmt sich vor morgen mit Viorel darüber zu sprechen. Auch das Treffen mit ihrem rumänischen Freund bringt keine neuen Erkenntnisse.
Die Menschen scheinen alles zu verdrängen und gehen ihrer Arbeit nach. Nur in Katharinas Familie ist die Situation durch Willi und Dora deutlich. Hier erleben sie die Wirklichkeit. Hier spüren sie, dass etwas geschehen wird.
Inzwischen sind neue Sommergäste bei ihren Eltern eingetroffen. Es ist ein älteres Ehepaar aus Bukarest, das gern den kühleren Sommer bei ihnen verbringt. Katharina vermutet, dass den beiden auch die ländliche und naturbelassene Kost gut schmeckt.
Sie bringen Neuigkeiten mit, obwohl Katharina und ihre Familie den Eindruck haben, dass sie nicht über alles sprechen möchten. Nach und nach stellt sich heraus, dass größere politische Umwälzungen zu erwarten sind.
Es heißt, dass Rumänien und Nazideutschland näher zusammenrücken wollen. Die rumänische Regierung scheint sich der deutschen Übermacht gebeugt zu haben, weil sie sich dadurch Vorteile verspricht.
Die Juden versuchen sich auf ihre Art zu wehren. In Vatra Dorna hat ein jüdischer Buchhändler einen deutschen Lehrling eingestellt. Als dieser eines Tages einem Kunden eine falsche Zeitung aushändigt, bekommt er eine Ohrfeige. Daraufhin hat sein Chef dem Kunden offenbart, dass er einen Deutschen geschlagen hat.
Niemand kann sagen, ob das gut oder schlecht ist. Willi und Dora machen sich wegen des Näherrückens der judenfeindlichen Deutschen große Sorgen.
Es ist nicht auszudenken, was passieren kann, wenn man hier mit den Juden so umgeht, wie im fernen Deutschland.
Schon jetzt spürt man so etwas wie Antisemitismus. Daran können auch die andersdenkenden Deutschen in der Bukowina nichts ändern. Katharina fällt dazu nur ein: »Wer weiß, ob alles stimmt was erzählt wird? « .
Die nächsten Tage verlaufen unruhig. Katharina und ihre Mutter versuchen Willi und Dora Mut zuzusprechen. Katharina nimmt Dora in den Arm und sagt ihr: »Ich bin traurig, dass mein Traum bei euch zu arbeiten geplatzt ist«.
Ihre Treffen mit Viorel sind so schön wie früher. Katharinas Vater und sein Bruder kommen abends müde von der schweren Arbeit nach Hause. Ihr Bruder Otto ist müde von der anstrengenden Arbeit im Sägewerk.
Plötzlich überbringt ihnen eine nach Vatra Dorna geflüchtete rumänische Familie einen Brief von Irmgard und Familie aus Czernowitz. Vieles was darin steht, bestätigt das was sie wissen.