Klausurenkurs im Arbeitsrecht II. Matthias Jacobs
„Vertreter in der Erklärung“,[20] mit anderen Worten also gesetzlicher Vertreter ohne abstrakte, fest umrissene Vertretungsmacht. Ohne wirksamen Beschluss des Betriebsrats mangelt es ihm folglich an der Vertretungsmacht. Mangels Beschlusses konnte der Vorsitzende den Betriebsrat somit nicht wirksam gegenüber P vertreten, so dass auch im Außenverhältnis keine wirksame Anhörung vorliegt.
c) Sphärenabgrenzung
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Es drängt sich allerdings die Frage auf, ob die Analogie zu § 102 I 3 BetrVG nicht auf Fälle zu beschränken ist, in denen die Fehlerhaftigkeit aus dem Verantwortungsbereich des Arbeitgebers herrührt. Bei Beachtlichkeit jedweden Verfahrensfehlers könnte der Betriebsrat das Anhörungsverfahren andernfalls dazu missbrauchen, Kündigungen durch eine vorsätzlich herbeigeführte Fehlerhaftigkeit unwirksam zu machen, zumal der Arbeitgeber keine wirksamen rechtlichen Einflussmöglichkeiten auf die Beschlussfassung hat.[21] Ratio von § 102 I 3 BetrVG ist es aber lediglich, dem Betriebsrat die Möglichkeit zu geben, auf die Willensbildung des Arbeitgebers Einfluss zu nehmen; ob er diese Möglichkeit (ordnungsgemäß) wahrnimmt, liegt dann allein an ihm. Folglich können nur Verfahrensfehler, die dem Verantwortungsbereich des Arbeitgebers zuzuordnen sind, zur Unwirksamkeit der Kündigung führen.[22] Die mangelhafte Besetzung bei der Beschlussfassung führt als Fehler in der Sphäre des Betriebsrats somit grundsätzlich nicht zur Fehlerhaftigkeit der Anhörung und damit auch nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.
d) Ausnahme bei Kenntnis des Arbeitgebers
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Möglicherweise muss jedoch anderes gelten, wenn der Arbeitgeber weiß oder erkennen muss, dass der Betriebsrat die Angelegenheit nicht fehlerfrei behandelt hat. P muss sich nämlich die Kenntnis der Personalabteilung bezüglich der Fehlerhaftigkeit der Anhörung analog § 166 I BGB zurechnen lassen.
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Systematisch spricht für eine Ausnahme, dass der Arbeitgeber bei völligem Untätigbleiben des Betriebsrats gem. § 102 II BetrVG für die Abgabe[23] der Kündigung ebenfalls eine Frist von einer Woche abwarten muss, nach deren Ablauf die Zustimmung zur Kündigung als erteilt gilt.[24]
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Aus teleologischer[25] Sicht macht es jedoch einen Unterschied, ob der Betriebsrat gar keinen oder einen fehlerhaften Beschluss gefasst hat. Im Fall des fehlerhaften Beschlusses ist das Abwarten der Wochenfrist typischerweise ein überflüssiger Formalismus: Der Betriebsrat wird nicht mehr als das veranlassen, was bereits geschehen und aus seiner Sicht zur Anhörung ausreichend ist. Zudem rührt die Fehlerhaftigkeit auch bei Kenntnis des Arbeitgebers ungebrochen aus dem Verantwortungsbereich des Betriebsrats her, auf den der Arbeitgeber keinerlei Einfluss nehmen kann. Demnach ist es überzeugender, dass das Anhörungserfordernis trotz Kenntnis des Arbeitgebers vom Fehler in der Sphäre des Betriebsrats erfüllt ist.[26]
e) Zwischenergebnis
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Die mangels ausreichender Besetzung fehlerhafte Anhörung ist der Sphäre des Betriebsrats zuzurechnen und hat daher nicht analog § 102 I 3 BetrVG zur Folge, dass die Kündigung unwirksam ist.
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Hinweis zur Klausurtechnik:
Auch an diesem Punkt ist die gegenteilige Auffassung mit guter Argumentation vertretbar. In diesem Fall ist wiederum ohne Hilfsgutachten weiter zu prüfen.
IV. Allgemeiner Kündigungsschutz / soziale Rechtfertigung
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Möglicherweise ist die Kündigung des A sozial nicht gerechtfertigt und damit gem. § 1 I KSchG rechtsunwirksam.
1. Anwendbarkeit
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A ist seit 1999, mithin mehr als 6 Monate als Arbeitnehmer im Hamburger Betrieb der P beschäftigt, dem 56 und somit mehr als 10 Arbeitnehmer angehören, so dass der allgemeine Kündigungsschutz aus § 1 KSchG gem. §§ 1 I, 23 I 2, 3 KSchG zeitlich, persönlich und betrieblich zur Anwendung gelangt.
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Hinweis zur Klausurtechnik:
Falsch wäre es zu formulieren, dass gem. §§ 1 I, 23 I KSchG „das Kündigungsschutzgesetz“ Anwendung findet, da insbesondere die Wirksamkeitsfiktion nach §§ 4, 7 KSchG auch im Kleinbetrieb und vor Ablauf der Wartezeit von 6 Monaten gilt.
Welche der 56 Arbeitnehmer sog. Altarbeitnehmer i.S.d. § 23 I 2, 3 Hs. 2 KSchG sind, kann dahinstehen, da bei 56 Beschäftigten (mit Blick auf § 23 I 4 KSchG also mindestens 28 Arbeitnehmer) beide Ausnahmen des § 23 I 2 u. 3 Hs. 1 KSchG nicht einschlägig sind.
2. An sich geeigneter Kündigungsgrund
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Zur sozialen Rechtfertigung der Kündigung muss gem. § 1 II 1 KSchG zunächst ein Kündigungsgrund vorliegen. In Betracht kommt allein ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund.[27] Ein verhaltensbedingter Grund erfordert, dass der Arbeitnehmer durch das ihm vorgeworfene Verhalten eine Haupt- oder Nebenpflicht steuerbar, d.h. vorwerfbar und damit schuldhaft, erheblich verletzt.[28]
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Die private Internetnutzung stellt somit einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund „an sich“ dar, wenn der Arbeitnehmer entweder seine Arbeitsleistung nicht erbringt (Verletzung der Hauptleistungspflicht) oder durch sie eine vertragliche Nebenpflicht verletzt.[29] Auf seine Arbeitsleistung haben die Downloads des A keinerlei negative Auswirkungen, so dass eine Verletzung der arbeitsvertraglichen Hauptleistungspflicht ausscheidet. Eine Nebenpflichtverletzung dadurch, dass A mit den Downloads besondere Kosten verursacht hätte, ist – abgesehen von denkbaren, aber nicht bezifferten Imageschäden bei Kunden – ebenfalls nicht ersichtlich. Allerdings hat A erhebliche Mengen von Daten auf betriebliche Systeme heruntergeladen und diese damit in ihrer Funktionsfähigkeit gefährdet. Damit hat er seine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Rechtsgüter und Interessen seines Arbeitgebers verletzt (vgl. § 241 II BGB). Ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund „an sich“ liegt mithin vor.[30]
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Wiederholung und Vertiefung:
Das BAG differenziert zwischen drei Konstellationen, in denen bei privater Internetnutzung „an sich“ ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund gegeben ist.[31] Das gilt unabhängig von der Frage, ob der Arbeitgeber die private Internetnutzung ausdrücklich und konsequent untersagt oder (teilweise) gestattet hat (s. dazu noch ausführlich Rn. 96).
(1) | Nichterbringung der arbeitsvertraglich geschuldeten Leistung, weil der Arbeitnehmer während der Arbeitszeit im Internet surft oder den Computer nutzt (Hauptpflichtverletzung). |
(2) | Herunterladen erheblicher Mengen von Daten auf betriebliche Datensysteme, insbesondere wenn damit die Gefahr möglicher Vireninfizierungen oder anderer Störungen des Betriebssystems verbunden sein kann (Nebenpflichtverletzung). |
(3) |
Entstehen besonderer Kosten für den Arbeitgeber, wenn der Arbeitnehmer die Betriebsmittel unberechtigterweise in Anspruch genommen hat (Nebenpflichtverletzung).
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