Seegeschichte-Sammelband: Die Abenteuer berühmter Seehelden, Epische Seeschlachten & Erzählungen. Heinrich Smidt
Ihr könnt mir erlauben, eine Viertelstunde vom Bord zu gehen.«
»Vom Bord? In dieser dunklen Nacht? Hast du den Verstand verloren?«
»Habe ihn vollständig beisammen, Herr. Aber es ist Gefahr im Verzuge. Laßt mich gehen.«
»Du bleibst.«
»Jenseits des Schlengels liegt unsere Jolle und kann jeden Augenblick in Stücke gehen, wenn die Welle sie gegen einen der scharfkantigen Balken wirft. Mich wundert, daß sie noch zusammenhält.«
»Der Donner fährt dem Niklas auf den Kopf, der die Jolle dahinlegte,« fuhr Hans Kramer auf. »Das Ding ist mir lieb, denn ich habe beim Bau selbst eine Hand mit angelegt. Aber ein Menschenleben ist mir noch lieber. Du bleibst.«
Jan Blaufink zog sich schweigend zurück. Er näherte sich dem Fallreep, kletterte die Sturmleiter herunter und faßte festen Fuß auf den Schlengels. Mit klopfendem Herzen betrat er das unter seinen Füßen schwankende Balkennetz, welches die Flut bald hob, bald senkte, bald es gegen die Duc d'Alben schleuderte, daß es laut krachte und in tausend Stücke zu zerbrechen drohte.
Endlich erreichte er die mehrere Schritte entfernt liegende Jolle und bestieg dieselbe. Er löste das Fangtau und suchte mit dem Bootshaken sich aus den vielen anderen Jollen, welche vor und neben derselben lagen, herauszuschieben. Es gelang ihm, auf die freie Fahrstraße zu kommen, und er wollte nun längs der »Vrouw Margarethe« anlegen. Aber dazu gebrach ihm die Kraft. Das Ruder war zu schwach, um der Gewalt des andringenden Stromes zu widerstehen. Statt sein Schiff zu erreichen, entfernte er sich immer weiter von demselben. Nach mehreren vergeblichen Versuchen stellte er die Arbeit ein und sagte vor sich hin:
»Mag es denn sein. Ich suche mir einen sicheren Platz und bleibe dort liegen. Mag der Alte brummen, wenn ich mit Tagesanbruch an Bord komme; was tuts? Die Jolle ist geborgen.«
Er ließ sich von der Flut tragen und lenkte das Fahrzeug nur dann mit dem Ruder, wenn er befürchten mußte, gegen etwas anzustreifen. Der Baum, der den innern Hafen von dem äußern trennt, war geöffnet und die daselbst aufgepflanzten Laternen brannten hell. Das Auge hatte sich nach und nach an die Dunkelheit gewöhnt und er vermochte, die einzelnen Gegenstände zu unterscheiden.
»Nun bin ich durch den Baum geschlüpft und der Visitator hat nichts gemerkt,« kicherte er in sich hinein. »Glaube, daß ich gut tue, nach dem Jakob Maifisch seiner Ecke zu steuern. Da liegt es am sichersten.«
Einige rasche Schläge mit dem Ruder brachten die Jolle in die angegebene Richtung. Aber die Ecke des Jakob Maifisch zeigte sich nicht und plötzlich rannte die Jolle mit solcher Kraft an einen Gegenstand an, daß Jan Blaufink fast über Bord gestürzt wäre.
»Hallo Ahoi! Wen haben wir hier!« rief er überrascht und nur mühsam das Gleichgewicht bewahrend. »Halt und stopp!«
Er griff nach dem Bootshaken und faßte damit ein etwas, das wie eine dunkle Säule in den Himmel hineinragte.
»Wen haben wir hier?«
Ein anderes Boot steuerte dicht an ihm vorbei. Der Schiffer, welcher darin saß und die Worte hörte, rief ihm zu:
»Bist du mondblind, daß du den Baum nicht siehst, den du mit beiden Händen festhältst?«
»Wahrhaftig. Es ist der Baum, unter welchem Jakob Maifisch seine Pfeife raucht, wenn er nichts zu tun hat.«
»So tue ich,« sagte der Mann in dem andern Boote. »Aber jetzt gibt es viel zu tun und du kannst auch Hand mit anlegen, statt hier müßig zu lungern. Frisch heran und siehe zu, wo es Menschen zu retten gibt, die im Wasser umherpatschen und nicht schwimmen können.«
»Hurra für Jan Blaufink!« rief er aus, indem er an mehreren Booten vorüberflog, »Da bin ich mitten auf den Vorsitzen. Holla Ahoi! Gebt Antwort! Wer kann mich brauchen? Hier herum ist auch das Haus des Elias Brammer. Dahin will ich zuerst.«
Die bezeichnete Stelle wurde glücklich gefunden. Die Gewalt des Wassers hatte die kaum eingeklinkte Haustüre eingedrückt und die Flut strömte unaufgehalten aus und ein.
»Da kann ich den Elias Brammer einmal im Boot besuchen!« rief er, indem er der Jolle die nötige Richtung gab und sich niederduckend, schwamm er in das Haus hinein, gegen den Ladentisch anprallend.
»Holla Ahoi!« schrie er, so laut er konnte. »Ist denn niemand hier?«
Ein leises Wimmern erklang als Antwort von dem breiten Sims über der Haustür. Er hörte es nicht. Es war Lenes banger Angstruf.
»Seid ihr hier im Hause alle tot, oder seid ihr davongelaufen?« rief er und horchte.
Ihm wurde selbst bange in dieser Finsternis, wo niemand antwortete und nur das gegen die Fässer und Tonnen anprallende Wasser dumpf brauste.
»Holla! Noch einmal! Ich bin es! Jan Blaufink! Hört Ihr den Jan Blaufink nicht?«
Er horchte schärfer, und nun vernahm er den klagenden, ächzenden Ton. Die zurückrollende Welle trug ihn in die Nähe des Simses. Ein Blitz zerriß die Wolken und leuchtete schwach durch die Scheiben des Türfensters. Er sah, daß sich da oben etwas bewegte.
»Wer ist da auf dem Sims?« rief er und horchte scharf hin.
»Ich bin es! Ich! Lene!« klang es von oben herunter. »Hilf mir!«
»Herr Jesus, die Lene!« rief er aus und das Blut stieg ihm so sehr zu Kopf, daß er einen Augenblick lang nichts sah und hörte. Aber bald kehrte die Besonnenheit zurück und er rief ihr zu:
»Halte dich fest, Lene! Einen Augenblick noch. Zu dir hinauf kann ich nicht, sonst treibt mir die Jolle unter den Füßen fort. Aber ich will versuchen, sie irgendwo zu befestigen, damit sie still liegt.«
Nach vielen vergeblichen Bemühungen gelang es ihm, eine eiserne Klammer zu entdecken, die in die Wand hineingetrieben war. Er zog die Fangleine durch dieselbe und rief fröhlich:
»Nun bin ich dicht unter dir, Lene. Aber lange darf es nicht dauern, sonst wirft das Wasser die Jolle gegen die Mauer und kentert sie. Frisch, Lene, springe herunter. Ich sehe dich deutlich vor mir und fange dich mit meinen Armen auf.«
Das zitternde Mädchen zögerte.
»Schnell, Lene! Besinne dich nicht, sonst ist es zu spät dazu.«!
Eine neue Welle rollte heran und hob die Jolle hoch in die Höhe.
»Jetzt! Jetzt!« rief er. »Du sollst und mußt springen, Lene!«
»Jan! Jan! Halte mich!« rief sie mit vor Angst erstickter Stimme.
»Hurra! Da habe ich sie!« jauchzte er auf und legte sie platt auf den Boden des Fahrzeuges nieder. »Nun liege du recht still. Naß ist das Bett zwar, aber sicher. In einer halben Stunde bist du im Trocknen.«
Er nahm eine günstige Gelegenheit wahr, um aus dem Hause und in das Freie zu gelangen. Nach einiger Anstrengung gelang es, und tüchtig mit dem Bootshaken nachschiebend, war er im Fahrwasser der Straße.
Die Kanonen auf dem Johannes-Bollwerk schwiegen seit kurzem. Auch der Regen hatte nachgelassen und der Wind riß die Wolken auseinander. Es war nicht mehr das Chaos wie vorhin.
Jan erreichte den Baum, welcher den Ruheplatz des Jakob Maifisch bezeichnete. Der wackere Jollenführer hatte nach schwerer Arbeit für einen Moment beigelegt. Der aufdämmernde Tag gestattete ihm, die Gegenstände zu erkennen, die ihm nahe kamen, und er rief:
»He! Holla! Ist das nicht Hans Kramer seine Jolle, die da herankommt?«
»Sie ist es. Und ich, der Jan Blaufink, bin ihr Steuermann.«
»Stückgut an Bord, mutmaße ich.«
»Ein Kolli nur, aber ein lebendiges. Sei geduldig, Lene. Wir sind gleich in Sicherheit. Jakob Maifisch, wollt Ihr mir eine Hand leihen?«
»Zwei, mein Junge. Uebrigens ist das Wasser im Fallen. Es sackt allmählich um einen halben Fuß. Was soll es geben?«
»Ich