IRONCUTTER - Die Geheimnisse der Toten. David Achord
bekannt vor?« Er war gerade dabei, von seinem Bier zu trinken, doch dann stutzte er und sah mich misstrauisch an. »Sollte er denn?« Das war die Art, wie Onkel Mike reagierte, wenn er einer Sache absichtlich auswich. Er beantwortete dann grundsätzlich jede Frage mit einer Gegenfrage.
»Ja, sollte er. Kriege ich eine Antwort?«
Er sah an mir vorbei, nahm einen tiefen Schluck von seinem Bier und stellte es ab. »War ein langer Tag für mich. Ich denke, ich haue mich mal hin.« Dann stand er auf und verschwand wortlos in dem ungenutzten Schlafzimmer. Ich hörte, wie er leise die Tür hinter sich schloss. Anna wartete, bis er uns nicht mehr hören konnte, bevor sie fragte: »Irgendetwas kriege ich hier gerade nicht mit, oder?«
Ich nickte langsam. »Ja, aber das ist im Moment nicht so wichtig. Konzentrieren wir uns lieber auf Lesters Tod. Oh, und bevor ich es vergesse, sollte ich zuallererst ein paar grundlegende Regeln erwähnen.«
»Okay«, sagte sie bereitwillig.
»Der Tod eines Menschen, unabhängig von den Umständen, ist ein sehr sensibles Thema. Wir, und damit meine ich Sie, werden deshalb mit niemandem über diesen Fall sprechen. Nicht mit Ihren Stripper-Freundinnen und nicht mit Ihren Biker-Freunden. Mit niemandem. Haben Sie das verstanden?«
Sie nickte.
»Dann geben Sie mir Ihr Wort darauf.«
Sie sah mich an und zog die Schultern nach hinten, oder vielleicht reckte sie auch nur ihre Brüste nach vorn. »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich kein Scheißwort darüber verlieren werde«, sagte sie mit einem fetten Grinsen.
Ich knurrte. »Ich denke, es wäre mir lieber, wenn Sie wie ein anständiger Privatermittler reden könnten, und nicht wie der Abschaum, mit dem Sie auf Arbeit täglich zu tun haben.«
Jetzt sah sie mich komisch an und reckte sich noch einmal. »Okay, wie wäre es damit: Ich verspreche Ihnen, dass ich keinerlei vertrauliche Informationen preisgeben werde.«
»Das ist schon viel besser.« Ich nickte. »Ich hoffe, ich kann mich auch darauf verlassen.«
»Natürlich können Sie das«, entgegnete sie gekränkt.
»Okay. Ich hatte allerdings noch gar keine Gelegenheit, das alles zu lesen, und außerdem muss ich Ronald anrufen.«
»Wer ist Ronald?«
»Ein Freund von mir. Er kann verdammt gut mit Computern umgehen.« Ich tippte auf eine Taste und sprach Ronalds Namen in mein Telefon.
Nachdem es ein paar Mal bei ihm geklingelt hatte, nahm er ab. »Ich bin gerade mitten in einem Krieg!«, rief er aufgeregt. »Ich kann jetzt nicht reden.« Dann legte er einfach auf.
Anna hatte das kurze Gespräch mit angehört und runzelte die Stirn. »Ihr Freund steckt mitten in einem Krieg?«
Ich seufzte und versuchte, es ihr zu erklären: »Ronald lebt in seiner ganz eigenen Welt. Er begibt sich nur selten unter Leute. Er wohnt noch in dem Haus, in dem er aufgewachsen ist, seine Eltern leben aber mittlerweile nicht mehr. Sie wurden von einem Geisterfahrer mit seinem Truck auf der Interstate getötet. Er wohnt dennoch immer noch unten im Keller und hat bisher noch nicht einmal die Kleidungsstücke seiner Eltern weggeräumt. Er isst ausschließlich Suppe, Cracker und Brot, und trinkt nur Wasser oder Gemüsesäfte. Mit dem Krieg, den er erwähnt hat, meint er garantiert eines von diesen Computerspielen, die er die ganze Zeit über spielt. Eines davon heißt Eve oder so ähnlich.«
»Ah, dann ist er also ein Metagamer«, meinte sie.
Ich starrte sie verwirrt an. »Was zur Hölle ist ein Metagamer?«
»Das Internet ist voll von diesen Spielen, den sogenannten Massive-Multiplayer-Online-Role-Playing-Games. Die sind sehr beliebt, können einen aber auch schnell abhängig machen.«
Ah, das erklärte natürlich einiges. »Ich schätze, damit haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen, denn er ist definitiv süchtig danach.« Ich deutete auf die Akte. »Also, Sie haben mehr davon gelesen als ich. Sagen Sie mir, was Sie darüber denken.«
Anna sah noch einmal auf den Papierkram und die Fotografien hinunter und rümpfte dann die Nase. »Die Berichte sagen eigentlich kaum etwas aus. Im Prinzip ist es nur eine Ansammlung von: Ich wurde zum Tatort gerufen, fand eine Leiche, und dann übernahm der Detective alles Weitere. Und der Bericht des Detectives sagt dann im Grunde nur: Ich wurde zum Tatort gerufen, fand eine Leiche, eine Waffe lag daneben, also hat er sich selbst umgebracht.«
Ich kicherte amüsiert. »Ja, das dachte ich mir schon. Sehen wir uns doch noch einmal die Fotos an.« Ich ging sie nacheinander durch und erklärte ihr, was man darauf sehen konnte, insbesondere bei den Nahaufnahmen der Schusswunde. Anschließend berichtete ich ihr, was Rhoda mir erzählt hatte.
Sie sah mich mit großen Augen an und nahm einen Schluck von ihrem Bier. »Dann war es also doch Mord?«, fragte sie gespannt.
»Sieht ganz danach aus. Nun, wenn ich der Inspektor der Mordkommission wäre, der auf den Fall angesetzt wurde, würde ich herausfinden wollen, wer ihn umgebracht hat und warum.«
»Und wie finden wir es heraus?«
Sie stürzte sich gerade Hals über Kopf in den Fall. Ich war mir nicht ganz sicher, ob das so eine gute Idee war, und fragte mich unwillkürlich, ob ich sie nur deshalb nicht zurückhielt, weil ich hoffte, auf diese Art schneller an ihre Unterwäsche zu kommen. Vielleicht sollte ich besser versuchen, mich nicht wie ein Perverser aufzuführen.
»Wenn wir die Mordkommission wären, würden wir damit anfangen, herauszufinden, was für ein Mann Lester wirklich war, wie sein Leben aussah und wem er lange genug ans Bein gepinkelt hatte, damit dieser ihn umbringen ließ oder selber umgebracht hat. Der Fachbegriff dafür lautet Viktimologie. Opferwissenschaft.«
Sie starrte mich noch immer fasziniert an. »Sie sagten, dass ihn jemand unter Umständen umbringen ließ. Meinen Sie damit einen Auftragsmord?«
»Das ist durchaus möglich. Wenn er ermordet wurde, hat sich allerdings jemand eine Menge Mühe damit gegeben, es wie einen Selbstmord aussehen zu lassen. Die meisten Mörder kümmert das nämlich nicht. Die nehmen sich nicht extra die Zeit, ihre Tat zu verschleiern.« Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, öffnete meinen Laptop und wartete darauf, dass er hochfuhr.
»Okay, ich sage Ihnen, was ich denke: Wenn ich dem Detective und dem Sheriff beweisen kann, dass es ein Mord war, werden sie den Fall wieder aufrollen müssen. Soweit es mich angeht, ist die Sache damit für mich erledigt.«
»Wirklich?«, fragte sie.
»Ja.« Ich überlegte, ob ich noch hinzufügen sollte, dass ich vielleicht weiter ermitteln würde, wenn Rhoda mich bezahlen könnte. Da meine einzige Bezahlung vorerst aber nur in der Rückgabe eines Autos bestand, das man mir vor unzähligen Jahren weggenommen hatte, sah ich keinen Grund dafür, warum ich meine Verpflichtungen ihr gegenüber weiter ausdehnen sollte.
»Ich muss das hier erst erledigt haben, bevor ich mit dem Fall Ihrer Schwester beginnen kann. Das verstehen Sie doch, oder?«
Annas Blick durchbohrte mich eine Weile, doch dann nickte sie.
»Okay, gut.«
Nachdem mein Laptop mich darüber informierte, dass er einsatzbereit war und mich dieses Mal nicht wieder aussperren würde, öffnete ich ein neues Word-Dokument. Es handelte sich dabei um ein Template, welches ich mir für Notizen angelegt hatte. Anna nahm meine leere Flasche und trug sie in die Küche. Wenig später kam sie mit einem frischen Bier für mich zurück.
»Danke«, sagte ich mit einem anerkennenden Kopfnicken. »Ich werde mich jetzt erst einmal durch eine Menge Text arbeiten müssen, also fühlen Sie sich ganz wie zu Hause. Ich habe übrigens Satellitenfernsehen.« Sie nickte, machte es sich auf der Couch gemütlich und griff nach der Fernbedienung. Ich begann damit, die Akte zu lesen, und nach nur zehn Minuten hatte ich bereits einige Seiten an Notizen zusammen.
Die folgende Stunde verbrachte ich damit, die verschiedenen Berichte durchzusehen und mir Stichpunkte zu machen.