Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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Kin­de das Herz noch schwe­rer zu ma­chen, mon­sieur Frédéric?«

      »O, bes­tes Fräu­lein –«

      »Ich bin kei­nes Men­schen bes­tes Fräu­lein! Wir le­ben hier nicht auf die­sem Stein­ho­fe aux bains. Wir sind hier nicht in Ba­den-Ba­den, Hom­burg oder Aix-la-Cha­pel­le! Wir woh­nen hier nicht, um uns zu er­ho­len de nos étu­des und um hin­ein­zu­schla­fen in den Tag und um Öko­no­mie zu trei­ben mit dem Cou­sin Just. Wir sind hier in großer Angst des Le­bens, mein ar­mes Kind mit mir, wie auf ei­nem Stein­fel­sen im Meer, und um uns her ist nur, wie M. Vik­tor Hugo sagt in den Ori­en­ta­les: das Meer und stets das Meer, die Wel­le, stets die Wel­le! Und wo Län­de­rei – nein, Land ist, da sind für uns nur Rui­nen, und es kann kein Mensch und auch nicht Ma­de­moi­sel­le Ju­lie ver­lan­gen, dass ich soll ha­ben ein In­ter­es­se für die Öko­no­mie auf die­sem Stein­hof. Eh!«

      Sie hat­te sich noch mal ge­bückt und aus ei­nem gan­zen Nest ein fett, grün sich rin­gelnd Ge­zie­fer von ei­nem west­fä­li­schen Kohl­blatt ab­ge­nom­men.

      »V’là une du paquet!« rief sie mit ih­rem un­nach­ahm­lichs­ten Nan­zi­ger Klos­terak­zent, näm­lich wenn die jun­gen Schul­schwes­tern sich voll­kom­men un­ter sich al­lein wuss­ten. Mit spit­zi­gen, dür­ren Fin­gern hielt sie das un­se­li­ge In­sekt, und wenn sie einen Ba­si­lis­ken ge­fan­gen hät­te, so hät­te sie mir den­sel­bi­gen nicht mit stär­ke­rem Grimm, Ekel und Wi­der­wil­len, aber auch nicht mit grö­ße­rer Ener­gie un­ter die Nase hal­ten kön­nen.

      »Nur der ganz ge­wöhn­li­che, sehr ge­mei­ne Kohl­weiß­ling, Pie­ris bras­si­cae, Ma­de­moi­sel­le.«

      »Ja, mon­sieur, nichts wei­ter als das!«

      Das Ge­würm flog zu Bo­den und wur­de, fast ehe es da­selbst an­lang­te, ver­mit­telst der Schuh­soh­le aus der Rei­he der Le­ben­di­gen weg­ge­wischt. Die sœur igno­ran­ti­ne trat mit böse auf­ge­raff­ten Rö­cken über die nächs­ten Kohl­köp­fe hin­weg und hin­ein in den Gar­ten­weg. Wie eben die Rau­pe hielt sie jetzt mich, doch glück­li­cher­wei­se nur am Arm.

      »Da war auch die Al­tes­se – die Durch­laucht – o die­se Durch­laucht, die auch un­ser Cou­sin war und uns be­such­te und sehr gut zu uns sprach und auch mit für uns sor­gen woll­te und – sous cape – un­ser ar­mes, lie­bes Kind mit in sein ar­mes, klei­nes, klei­nes Grab brach­te, wel­ches sehr leicht war und sehr we­nig kos­te­te, weil schon der gute Vet­ter Just, mon­sieur Just Ever­stein, das klei­ne Kind in sei­nen klei­nen Sarg ge­legt hat­te. Was hat mon­sieur le prin­ce wei­ter von sich hö­ren las­sen? Nichts hat er von sich hö­ren las­sen. Was hat er für uns ge­tan? Nichts hat er für uns ge­tan!«

      »Was soll­te er auch für uns tun?« frag­te eine ru­hig trau­ri­ge Stim­me hin­ter uns. Ire­ne hat­te sich uns un­be­merkt ge­nä­hert; es kam nichts wei­ter von dem, was Ma­de­moi­sel­le Mar­tin auf der gu­ten, ge­quäl­ten See­le hat­te, zum Vor­schein, sie ließ auch mei­nen Arm frei und seufz­te nur noch:

      »Oh, mon dieu! Nun hab ich mir wie­der ein­mal die Zun­ge an­ge­brannt!«

      Aber Ire­ne hielt nur mei­ne Hand fest; sie stand mit ge­senk­tem Haupt, ohne wei­ter et­was zu be­mer­ken. Sie hat­te kei­ne Hei­mat, aber sie wuss­te, wo sie zu Hau­se war; und (der Vet­ter Just hat­te voll­stän­dig recht!) das ein­fachs­te war, dass sie hin­ging, wo­hin sie ge­hör­te oder – ge­führt wur­de. Son­der­bar ist es und bleibt es, dass wir Men­schen im­mer nur im höchs­ten Not­fall auf un­ser Schick­sal zu­rück­grei­fen, d. h. da­von re­den. Wir schä­men uns un­se­res Schick­sals, und in das große Ge­heim­nis hin­ein hän­gen alle Wur­zeln un­se­res Da­seins.

      Fünfzehntes Kapitel

      Ich sit­ze da am Fens­ter in mei­ner Stu­be in der großen Stadt Ber­lin. Über mei­ne Gas­se hin­weg habe ich die Aus­sicht in eine an­de­re. Hun­der­ten, ja Tau­sen­den von Men­schen, wel­che die letz­te­re pas­sie­ren, kann ich ins Ge­sicht se­hen, wenn ihr Weg so führt und wenn es mir Ver­gnü­gen macht. Ein Ver­gnü­gen macht es mir je­doch sel­ten. Aber eine ge­wis­se Re­gel­mä­ßig­keit des Ver­kehrs macht sich auch hier gel­tend. Es kommt im­mer zur ge­ge­be­nen Stun­de al­les wie­der, wie es von sei­nem Ge­schick ge­lei­tet wird, ei­ner­lei ob es sich der Ab­hän­gig­keit von dem­sel­ben schämt oder nicht. So sind mir denn all­ge­mach vie­le Ge­stal­ten und Ge­sich­ter ver­traut und so­zu­sa­gen zu un­be­kann­ten gu­ten Be­kann­ten ge­wor­den; aber nur ein ein­zi­ges im­mer hei­te­res, la­chen­des, glück­li­ches Ge­sicht ken­ne ich dar­un­ter, und das ist das ei­nes blin­den Kna­ben, der am Arme sei­ner Mut­ter täg­lich ge­gen zehn Uhr mor­gens die Stra­ße hin­un­ter kommt oder ge­führt wird, um bei ei­nem Mu­sik­leh­rer in mei­ner Nach­bar­schaft eine Un­ter­richts­stun­de im Gei­gen­spiel zu neh­men. An die­sen Kna­ben muss­te ich an die­sem sehr un­ru­he­vol­len Tage auf dem Stein­ho­fe fort­wäh­rend den­ken, und ich sprach auch zu Ire­ne von ihm im Schat­ten der Obst­bäu­me des Gras­gar­tens.

      »Das Kind ist all­mäh­lich ein al­ter Be­kann­ter von mir ge­wor­den. Ich sehe es wach­sen und all­ge­mach zum Mann wer­den. Es wächst je­des Jahr ein­mal aus sei­nem Rock und sei­nen Ho­sen her­aus, aber es schämt sich kei­nes Zu­stan­des. Es lässt sich wach­sen –«

      »Und bleibt auch als Mann und Greis ein blin­des Kind. Das ein­zi­ge glück­li­che Ge­sicht un­ter Hun­dert­tau­sen­den! Ar­mer Freund, wes­halb re­dest du mir da­von? Zum gu­ten Exem­pel ist sol­che Hei­ter­keit doch wohl nicht in die Welt ge­setzt! Willst du mir gar zu al­len an­de­ren übeln Ei­gen­schaf­ten auch noch den Neid rege ma­chen? Wor­über lachst du nun?«

      »Nie über dich, arme Freun­din; höchs­tens über dich un­d mei­nen bra­ven tap­fe­ren Freund und Ge­s­pens­ter­se­her, den Herrn In­ge­nieur Six­tus auf Schloss Wer­den. Üb­ri­gens kommt ihr bei­den Hel­den schon ein­mal vor, und zwar in der Ge­schich­te vom Hör­ner­nen Sieg­fried in den deut­schen Volks­bü­chern. Man kennt auch eure Na­men und gibt sie seit tau­send Jah­ren von Jahr­markt zu Jahr­markt wei­ter. Jor­kus und Zi­vil­les heißt ihr da. Mich nennt man einen Ge­lehr­ten, und hier neh­me ich den Ti­tel an, denn dies ist et­was, was ich in der Tat all­ge­mach aus den Quel­len stu­diert ha­ben muss und (es ist kei­ne Tau­to­lo­gie, lie­be Ire­ne!) was ich wirk­lich weiß. Willst du wis­sen, wie der Vet­ter Just, der kein Ge­lehr­ter, aber da­für ein wei­ser Mann ist, sich aus­drückt?«

      »Was sagt der?«

      »Ha­sen sind sie alle bei­de; aber der feigs­te von bei­den ist doch un­ser gu­ter Freund Ewald Six­tus – auf Schloss Wer­den.«

      »Das ist nicht wahr!« rief die Frau Ire­ne, und aus ih­ren Au­gen fun­kel­ten alle die al­ten Blit­ze, die uns in den Mau­ern und Gär­ten zu Wer­den so oft heim­ge­leuch­tet hat­ten, wenn wir zwei Jun­gen es den bei­den Mäd­chen wie­der ein­mal zu toll ge­macht hat­ten. Da spran­gen die Nei­gung, die Lie­be, ja die Zärt­lich­keit wie ge­wapp­net her­vor, und zor­nig flüs­ter­te Ire­ne Ever­stein: »Es weiß kein an­de­rer als ich, wie stark Ewald Six­tus ist und welch eine Tap­fer­keit dazu ge­hört und welch ein Edel­mut, dass er nicht kommt und sein Recht ver­langt und sagt: ›Du musst, ar­mes Weib! Du bist in mei­ner Schuld, Ire­ne, und du ge­hörst mir, wie – Schloss Wer­den mir ge­hört.‹ – Ich habe dir das aber schon ges­tern auf dem Stein am Wege ge­sagt, und du – du han­delst wahr­lich nicht edel­mü­tig an mir, Fritz Lan­greu­ter!«

      Die Frau wein­te und ließ mich ste­hen. Als sie rasch von mir fort­lief, war auch


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