Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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im­mer ver­gnüg­ten sich die­je­ni­gen am meis­ten, die Ge­winn und Ver­lust des Ta­ges oder der Stun­de am we­nigs­ten be­rech­nen konn­ten. Täu­brich-Pa­scha war fest über­zeugt, dass sein Pa­tron, wie er sich aus­drück­te, heu­te grad­so einen großen Sieg über die Re­si­denz ge­won­nen habe als der Kö­nig Xer­xes von Grie­chen­land über den Kai­ser Alex­an­der von Per­si­en. Sie­vers, der stahl­her­zi­ge Va­sall des Hau­ses Bums­dorf, hat­te einen Ta­ler von sei­nem jun­gen Herrn Hugo emp­fan­gen und hielt ihn im se­ligs­ten Be­wusst­sein fort­wäh­rend warm in der lin­ken Hand und in der lin­ken Ta­sche sei­ner gel­ben le­der­nen Hose. Bei­de, der Pa­scha und der Va­sall, sa­ßen in der Kü­che des Hau­ses Rei­hen­schla­ger, und bei­de Mäg­de des Hau­ses hat­ten Be­fehl, ih­nen den Auf­ent­halt drin so an­ge­nehm als mög­lich zu ma­chen. Als die Glo­cke der Mit­ter­nacht er­klang, fand es sich, dass die Zeit in den un­tern Räu­men des Hau­ses viel schnel­ler und an­ge­neh­mer hin­ge­gan­gen war als in den obe­ren, und es be­durf­te län­ge­rer und drin­gen­der Über­re­dung, um den bie­dern Knap­pen zu be­we­gen, die Rie­ke vom rech­ten Knie frei­zu­las­sen und sei­nem Rit­ter in den Pelz zu hel­fen.

      Pilz und Schaum­löf­fel hat­ten viel von ih­ren Stu­den­ten­jah­ren ge­spro­chen, aber die bes­ten Schnur­ren in An­be­tracht der Ge­gen­wart des Fräu­leins für sich be­hal­ten müs­sen. Der Herr von Bums­dorf hat­te mit dem Fräu­lein Öko­no­mie – Gar­ten­wirt­schaft, Milch­wirt­schaft und Fe­der­vieh­züch­tung – ge­trie­ben. Von der Vor­le­sung war kaum noch die Rede ge­we­sen, und Leon­hard Ha­ge­bu­cher durf­te sich sei­nen un­ru­hi­gen Ge­dan­ken, dem Ge­wim­mel von Fra­ge­zei­chen in sei­ner See­le un­ge­stört hin­ge­ben: je­der der An­we­sen­den hat­te sich vor­ge­nom­men, ihm sei­ne An­sich­ten über den Abend in ei­nem ru­hi­gen Au­gen­blick aus­führ­lich mit­zu­tei­len; al­lein die­se stil­le Mi­nu­te hat­te sich für nie­man­den ge­fun­den. Es war üb­ri­gens auch bes­ser so.

      Als die Her­ren auf­bra­chen, drück­te der kop­ti­sche Pro­fes­sor sei­nem Mit­ar­bei­ter an der großen Gram­ma­tik die Hand und sprach dumpf:

      »Mor­gen, lie­ber Ha­ge­bu­cher!«

      Und Ha­ge­bu­cher ant­wor­te­te zer­streut:

      »Es wird sich wohl für al­les eine Zeit fin­den! – Fräu­lein Se­re­na, ich dan­ke herz­lich für die gü­ti­ge Be­wir­tung.«

      »O ich habe zu dan­ken!« rief die klu­ge Toch­ter des ge­lehr­ten Va­ters. »Sie ha­ben uns heu­te ganz an­de­re Din­ge, als in mei­nem Koch­bu­che zu fin­den sind, zu­sam­men­ge­rührt und auf­ge­tra­gen! Nun, der lie­be Gott möge je­dem von uns einen gu­ten Schlaf nach der Auf­re­gung ver­lei­hen.«

      »Ein gu­ter Wunsch! Wol­len Sie einen Kuss da­für, Lieb­chen?« rief der Vet­ter Was­ser­tre­ter, aber Se­re­na ver­steck­te sich la­chend und kopf­schüt­telnd hin­ter dem Papa, und auch der We­ge­bau­in­spek­tor fuhr end­lich in sei­nen Pelz. Man nahm Ab­schied; drei­mal nahm man Ab­schied. Zu­erst an der Tür des Spei­se­zim­mers, so­dann oben und zu­letzt un­ten an der Trep­pe; an der Haus­tür aber fass­te der Vet­ter den Hospes in die Arme, streck­te ihm den Kopf über die rech­te Schul­ter und stöhn­te: »O Pilz, dein Kel­ler!«, streck­te ihm den Kopf über die lin­ke Schul­ter und seufz­te: »O Pilz, dein Herz!«, schob ihn so­dann von sich, leg­te ihm bei­de Hän­de auf die Schul­tern, blick­te ihm ge­rührt in die Au­gen und stam­mel­te un­ter ei­nem lan­gen, lan­gen Kuss:

      »O Pilz, dei­ne Toch­ter!… Gute Nacht, Pilz!« –

      Es kos­te­te ei­ni­ge Mühe, die bei­den al­ten Her­ren und den Va­sal­len im Ho­tel de Prus­se in ihre Bet­ten zu brin­gen; aber end­lich ge­lang es, wie al­les, was man mit Ge­duld und Lie­be an­greift. Ge­gen ein Uhr wan­del­ten Ha­ge­bu­cher und Täu­brich al­lein ih­rer Be­hau­sung in der Kes­sel­stra­ße zu – der Pa­scha be­trun­ken-wei­ner­lich, Leon­hard voll­kom­men nüch­tern, des­sen­un­ge­ach­tet aber ver­wirrt und be­täubt wie kein an­de­rer Be­woh­ner der Re­si­denz in die­ser Nacht.

      Je mehr er über das plötz­li­che Er­schei­nen und Ver­schwin­den je­nes Man­nes, wel­chem er zu so vie­lem Dank ver­pflich­tet war, nach­dach­te, de­sto un­be­greif­li­cher er­schi­en es ihm. Hat­te er denn wirk­lich recht ge­se­hen? Hat­te er sich nicht ge­täuscht? Hat­te die Er­schei­nung wirk­lich und wahr­haf­tig Fleisch und Blut, und war sie nicht bloß ein Spiel der durch das ei­ge­ne Wort er­reg­ten Fan­ta­sie, eine Fol­ge der über­mä­ßi­gen Exal­ta­ti­on des Abends? Die Ant­wort auf die­se Fra­ge blieb im­mer die­sel­be: der Herr van der Mook war eben­so un­ver­mu­tet im Saa­le der Har­mo­nie er­schie­nen wie einst zu Abu Tel­fan im Tu­mur­kie­lan­de, Kö­nig­reich Dar-Fur. In sei­nen Un­ter­ho­sen auf dem Ran­de sei­nes Bet­tes sit­zend, sprach der Red­ner, nach­dem er dem schlaf­trun­ke­nen Pa­scha die un­ge­heu­re Tat­sa­che so klar als mög­lich ge­macht hat­te, ein letz­tes ho­hes Wort.

      »Täu­brich«, sag­te er, »Täu­brich, wenn ich mor­gen früh nicht wie­der er­wa­chen soll­te, so ge­ben Sie mir den größ­ten höl­zer­nen Löf­fel, den Sie auf­trei­ben kön­nen, als Sym­bol mit in die Gru­be, und auf mei­nen Grab­stein las­sen Sie schrei­ben: Er be­kam sein Teil!«

      »O Je – ru­sa­lem!« seufz­te der Schnei­der, und seuf­zend zog Leon­hard Ha­ge­bu­cher die Füße in die Höhe, sah den Pa­scha aus der Tür wan­ken und blies das Licht aus. Dass der Herr van der Mook ihm jetzt nicht zum zwei­ten Mal er­schi­en, war gleich­falls als ein be­ru­hi­gen­des Zei­chen sei­nes Wan­delns un­ter den Le­ben­di­gen zu neh­men, und dass auch Leon­hard am nächs­ten Mor­gen noch un­ter den Le­ben­den auf­stand, be­wies klar, er habe den Löf­fel doch noch et­was zu vor­ei­lig ne­ben die Schüs­sel le­gen wol­len.

      Der Mor­gen kam und brach­te durch die Stadt­post ein Bil­let, wel­ches eine Kar­te mit dem Na­men van der Mook und die No­tiz ent­hielt.

       »Su­chen Sie mich nicht, re­den Sie nicht von mir; viel­leicht wer­den wir am Abend ir­gend­wo zu­sam­men­tref­fen; ver­las­sen Sie also nach acht Uhr Ihre Woh­nung nicht. Es ist mir recht an­ge­nehm ge­we­sen, Sie so schnell und in so güns­tig ver­än­der­ten Zu­stän­den wie­der­zu­fin­den. Vi­el­leicht habe ich man­nig­fa­che Ge­le­gen­heit, Ihren gu­ten Wil­len und Ihre Hil­fe in An­spruch zu neh­men. Le­ben Sie wohl.«

      Gleich ei­nem Re­gen­guss auf ein dürs­ten­des Saat­feld wirk­te die­ses Schrei­ben auf den afri­ka­ni­schen Red­ner. Schnell­kräf­tig er­hob er sich aus tiefs­ter mo­ra­li­scher Zer­knickt­heit, aus kläg­lichs­ter, kat­zen­jäm­mer­lichs­ter Ver­sun­ken­heit. Blitz­schnell fuhr er aus dem Bett und in die Klei­der; un­ter sei­nen Schrit­ten er­dröhn­te der Fuß­bo­den, und mit un­ver­hoh­le­nem Stau­nen blick­te Täu­brich-Pa­scha auf die merk­wür­di­ge Ver­än­de­rung in We­sen und Er­schei­nung sei­nes Pa­trons und hät­te sich gern das Re­zept da­von aus­ge­be­ten; aber Ha­ge­bu­cher ach­te­te we­nig auf ihn, son­dern griff bald nach Hut und Re­gen­schirm, um nach dem Ho­tel de Prus­se zu ei­len und den Vet­ter Was­ser­tre­ter so­wie den Rit­ter von Bums­dorf nach Nip­pen­burg ab­fah­ren zu se­hen.

      Es war, wenn­gleich ziem­lich warm, doch ein ar­ger Ne­bel; aber der graue Tag be­saß nicht mehr die Macht, nie­der­drückend auf den Mann vom Mond­ge­bir­ge zu wir­ken. Er schritt weit aus durch die schmut­zi­gen Gas­sen und küm­mer­te sich um nichts. Man­che Leu­te blie­ben ste­hen, blick­ten ihm nach, steck­ten flüs­ternd


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