Dr. Daniel Staffel 7 – Arztroman. Marie Francoise
Metzler und drückte die Defibrillatorpaddel auf Karlheinz’ Brust. »Weg vom Tisch!« Im nächsten Moment jagte ein kurzer Stromstoß durch den Körper des Patienten. Das Herz nahm seine Arbeit wieder auf, doch die Ärzte wußten, daß es der Belastung nicht mehr lange standhalten würde.
»Mach jetzt bloß nicht schlapp, Junge«, murmelte Dr. Scheibler wie beschwörend. »Du hast eine Frau, die dich noch braucht.«
Dr. Metzler warf ihm einen kurzen Blick zu. Er wußte, wie sein Schwager diese Worte meinte, aber unwillkürlich mußte er an die schweren Verletzungen denken, die er behandelt hatte, als Dr. Scheibler zu Dr. Daniel gerufen wurde.
»Das Baby, das seine Frau jetzt von ihm erwartet, wird mit Sicherheit das letzte sein, das er gezeugt hat«, erklärte er, während er versuchte, der vielen Verletzungen Herr zu werden.
Die Worte jagten Dr. Köhler förmlich einen Schauer über den Rücken.
»Seine Frau hatte eine Fehlgeburt«, brachte er mühsam hervor.
Für den Bruchteil einer Sekunde legte sich lähmende Stille über das Operationsteam. Sie alle waren keine Maschinen, sondern Ärzte, die am Schicksal ihrer Patienten regen Anteil nahmen.
»Ich sehe endlich Land«, meinte Dr. Metzler schließlich.
»Zeit wird’s«, brummte der Anästhesist. »Herz und Kreislauf sind in einem jämmerlichen Zustand, und allmählich gehen mir die Ideen aus, wie ich ihn noch am Leben halten könnte.«
»Weitere Ideen sind nicht nötig«, meinte Dr. Metzler, vergewisserte sich, daß er nichts übersehen hatte, und trat dann zurück. »Er wird leben.«
»Ja, aber wie?« wandte Dr. Scheibler ein, während er begann, den großen Bauchschnitt zu schließen.
»Er lebt«, hielt Dr. Metzler dagegen. »In meinen Augen ist das das Wichtigste. Die ersten Monate wird er noch im Rollstuhl verbringen müssen, aber ich habe ihn vor einer Querschnittslähmung bewahrt. Er wird wieder laufen können und auch sonst ein einigermaßen normales Leben führen. Mehr kann man nach einem solchen Unfall nicht verlangen.«
Dr. Scheibler wußte, daß der Chefarzt recht hatte. Karlheinz Probst war eher tot als lebendig in die Klinik eingeliefert worden. Sie hatten an ihm nicht nur eine, sondern gleich drei Operationen vorgenommen und dabei sein Leben gerettet. Trotzdem war Dr. Scheibler nicht zufrieden. Vor Karlheinz Probst lag ein schmerzvoller, beschwerlicher Weg, an dessen Ende aller Wahrscheinlichkeit nach keine völlige Genesung stehen würde.
*
Melanie erwachte, als die Wundschmerzen einsetzten. Die Nachwirkungen der Narkose ließen noch keine klaren Gedanken zu, und das starke Schmerzmittel, das sie direkt in die Infusion gespritzt bekam, ließ sie sofort wieder einschlafen.
Als sie das zweite Mal zu sich kam, war es draußen schon wieder dunkel… oder noch immer? Melanie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wußte nicht, ob sie wenige Minuten oder statt dessen ein paar Tage geschlafen hatte.
»Frau Probst, können Sie mich verstehen?«
Sie hörte Dr. Daniels Stimme, doch es kostete sie Mühe, den Kopf zu wenden und ihn anzusehen. Sie nickte schwach zum Zeichen, daß sie verstanden hatte.
»Haben Sie Schmerzen?«
Melanie schüttelte den Kopf. Sie wollte etwas sagen… etwas fragen, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Sosehr sie sich bemühte, sie schaffte es nicht einmal, den Mund richtig zu öffnen.
Dr. Daniel bemerkte ihre fruchtlosen Anstrengungen und legte behutsam eine Hand auf ihre Stirn.
»Nicht, Frau Probst«, bat er leise. »Sie haben eine starke Narkose bekommen, die noch etliche Stunden nachwirken wird. Versuchen Sie möglichst wieder zu schlafen.«
Melanie gehorchte. Sie wußte nicht, mit welch besorgten Blicken Dr. Daniel sie bedachte. Das bemerkte sie erst, als sie zum dritten Mal erwachte. Jetzt nahm sie auch ihre Umgebung wahr und erkannte, daß sie in einem hellen, luftigen Zimmer lag. Die Stunden auf der Intensivstation hatte sie fast durchweg verschlafen, ebenso ihre Verlegung auf die Gynäkologie. Ihre überraschend gute Verfassung hätte eine längere Intensivüberwachung aber nicht mehr gerechtfertigt.
»Was ist… passiert?«
Leise und krächzend kamen die Worte hervor.
»Sie hatten einen sehr schlimmen Unfall«, antwortete Dr. Daniel.
Im selben Moment konnte sich Melanie erinnern. Sie und Karlheinz waren auf dem Nachhauseweg gewesen. Der Abend bei ihrer Zwillingsschwester Manuela und ihrem Mann Horst war angenehm und harmonisch verlaufen, und genau in dieser Stimmung hatten sie sich auch noch im Auto befunden. Doch plötzlich war ein roter Sportwagen in wahnwitzigem Tempo auf ihrer Straßenseite auf sie zugeschossen. Wie eine Rakete hatte er sich in die Kühlerhaube ihres Autos gebohrt. Melanie erinnerte sich an stechende Schmerzen in den Beinen, an Karlheinz’ qualvolle Schreie und auch an ihre eigenen, als sie den schier unerträglichen Druck im Unterleib gespürt hatte.
»Mein Baby…«, stammelte sie.
Mit einer sanften Geste griff Dr. Daniel nach ihrer Hand und hielt sie fest.
»Sie müssen jetzt sehr tapfer sein, Melanie.« Er wählte absichtlich ihren Vornamen, um ihr das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln… das Gefühl, einen Freund in der Nähe zu haben.
»Nein«, wimmerte Melanie. Sie wußte bereits, was Dr. Daniel sagen würde.
»Melanie, ich konnte nichts mehr tun.« Dr. Daniels Stimme war leise und einfühlsam, trotzdem konnte sie den Worten ihre Härte nicht nehmen. Für das, was mit Melanie in jener Nacht geschehen war, gab es keinen Trost und keine Linderung.
»Fast zwei Jahre hat es gedauert«, schluchzte Melanie verzweifelt. »Zwei Jahre…«
Dr. Daniel wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. Er hatte Melanie und Karlheinz durch diese beiden Jahre begleitet, ihnen immer wieder Mut gemacht, wenn sie nahe daran gewesen waren zu verzweifeln, und er hatte sich mit ihnen gefreut, als es endlich geklappt hatte.
Er kannte Melanies Werdegang zur Genüge. Jahrelang hatte sie unter ihrer Kinderlosigkeit gelitten und den reichen Kindersegen ihrer Zwillingsschwester, die mittlerweile dreifache Mutter war, voller Neid verfolgt. Melanies Sehnsucht nach einem Kind war schließlich so groß geworden, daß sie sich in einem schwachen Moment sogar ein Umstandskleid gekauft und sich mit Hilfe eines Kissens eine Schwangerschaft vorgegaukelt hatte. Dabei war sie von ihrer Schwester überrascht worden und hatte nicht den Mut zur Wahrheit gefunden. Monatelang hatte sie allen eine schwangere Frau vorgespielt, bis Dr. Daniel die Wahrheit erkannt hatte. Melanies Ehe mit Karlheinz wäre beinahe zu Bruch gegangen, und auch das Verhältnis zu ihrer Zwillingsschwester hatte einen tiefen Riß bekommen, vor allem weil Melanie in einem Anflug tiefster Depression Manuelas neugeborenen Sohn aus der Klinik entführt hatte. Zwar hatte sie den kleinen Peter sofort wieder zurückgebracht, doch eine Weile hatte es ganz so ausgesehen, als könne die tiefe Liebe, die zwischen den Zwillingen geherrscht hatte, nie wieder zurückgeholt werden.
Nach vielen Gesprächen, die Dr. Daniel geschickt zwischen Melanie und Karlheinz herbeigeführt hatte, war es gelungen, die Ehe in Ordnung zu bringen, und auch zwischen Melanie und Manuela war es zu etlichen langen Aussprachen gekommen. Schließlich hatten sich Melanie und Karlheinz sogar zu einer Kinderwunschbehandlung durchgerungen, obwohl das eine erneute Belastung für ihre noch immer nicht vollkommen stabile Ehe bedeutet hatte. Es war dann allerdings zu einigen Krisen gekommen, und ohne Dr. Daniels Hilfe wäre die Ehe vielleicht wirklich zu Bruch gegangen, doch die Bemühungen waren schließlich von Erfolg gekrönt gewesen, als Melanie endlich schwanger geworden war. Und nun hatte dieser schreckliche Unfall ihre so glückliche Zukunft zerstört.
»Sie dürfen jetzt nicht verzweifeln, Melanie«, bat Dr. Daniel leise. »Ich weiß schon, das ist leichter gesagt als getan, aber… es hat schon einmal geklappt, und es wird wieder klappen. Sie und Ihr Mann sind noch immer jung genug, um…«
»Kalle«, stieß Melanie erschrocken hervor. »Was ist mit ihm? Geht es ihm gut?«